Die Nacht bricht an – die
Durchsuchungen beginnen
Gideon Levy, 16.10.08,
Haaretz
Es ist
Besatzungsroutine: jede Nacht
überfallen Soldaten irgendein Haus in
den besetzten Gebieten und tun dort, was sie wollen. Manchmal endet die
Durchsuchung ohne Erfolg, sie war vergeblich. Manchmal endet sie mit Verhaftungen. Sie ist immer mir großen
Ängsten verbunden und manchmal sogar mit Tod, wie bei dem tragischen Fall von
Maryam Ayad, 60, die während einer so völlig überflüssigen nächtlichen
Durchsuchung starb, bei der nichts gefunden wurde.
Keiner denkt über die Ängste und den Schrecken dieser Durchsuchungen nach, der unter
Tausenden von Kleinkindern, bei Frauen und Älteren zurückbleibt. Keiner denkt
über den unverfrorenen und groben Überfall in die Privatsphäre friedlicher,
schlafender Bürger nach. Wie jeder weiß,
sind Palästinenser ja niemals „Opfer von Traumata“ – nur Juden sind Opfer von
Traumata. Es geschieht in jeder
einzelnen Nacht und manchmal endet es schlimm, sehr schlimm.
Auch wenn der
Armeesanitäter feststellte, Ayad sei an einem Herzanfall gestorben, ist nicht
klar, wie er zu dieser Feststellung kam. Obgleich einer der IDF-Sprecher
behauptete, es habe von Seiten der
Soldaten keine Gewalt gegeben, sagten die Tochter und Schwiegertochter der
Toten, die Zeugen des Vorfalls waren, dass einer sie gestoßen hätte. Ayad
verletzte sich beim Sturz den Kopf, der stark blutete. Ohne Autopsie kann
keiner die Ursache des Todes feststellen – weder der Sanitäter noch der
IDF-Sprecher.
Aber wir können den Frauen
der Familie glauben, wenn sie sagen, dass einer der Soldaten sie
tatsächlich gegen die Steinwand am
Eingang gestoßen hat, obwohl sich die Familie nicht gegen die Soldaten gewehrt hat, die in ihre Wohnung einbrachen. Jeder
der eine 60-Jährige Großmutter stößt, hat die Verantwortung für ihren Tod, egal
wie die Umstände sind. Jeder der nächtliche willkürliche Hausdurchsuchungen
billigt, trägt die Verantwortung für die täglichen und unerträglichen Schikanen
unschuldiger Familien.
Bevor die Mauer Abu
Dis mittendurch teilte, lag es wenige
Autominuten von Ost-Jerusalem entfernt. Jetzt muss man durch die Wüste, an
Maale Adumin und El-Azarije vorbei – ein schrecklicher Umweg – bis man die
östliche Seite des Ortes erreicht. Ganz nah an der Mauer steht das, war das
palästinensische Parlamentsgebäude werden sollte – eine stille Erinnerung an
Illusionen der Vergangenheit.
Samstag, den 20.September
– spät abends. Die letzten Sommertage;
Abed nahm seine Matratze nach draußen in den betonierten Hof und wollte
sich schlafen legen.
Maryam, seine Frau, saß
ihm gegenüber auf dem Betonmäuerchen am Eingang des Hauses und spielte noch mit
Yusuf,4, einem ihrer Enkelkinder. Das Haus hat zwei
Stockwerke. Abed und Maryam leben mit ihrer Tochter, einer Studentin, im
unteren Stock, ihr Sohn und seine Familie oben.
Der Sohn war in Ramallah.
Etwa um 9 Uhr brachte seine Frau Nadia die beiden Kinder nach oben ins Bett.
Abed ist arbeitslos. Er arbeitete sein Leben lang in Jerusalem, bis die Stadt
durch die Mauer von ihm getrennt wurde. …
Abed wachte irgendwann
nach 10 Uhr auf, als er Leute reden hörte. Er sah, wie eine große Gruppe
bewaffneter Soldaten in Uniform und drei maskierte Männer den Hof betraten, den
Hof, auf dem wir gerade sitzen. Maryams verblasster Blutfleck ist auf dem
Betonboden noch immer sichtbar.
„Wo sind die Studenten?“
fragt einer der Soldaten auf arabisch. Studenten von der Al-Quds-Uni in Abu Dis
mieteten sich in vielen Häuser der Stadt ein. Im
Souterrain von Ayads Haus und in benachbarten Häusern leben Studenten, die
abends wegen der Checkpoints nicht mehr nach Hause kommen.
Der Soldat befahl Abed,
ins Haus zu gehen und die Lichter anzumachen und alle Bewohner
nach draußen zu bringen. Dann gingen die Soldaten hinein und durchsuchten es.
Abed sagte, die Soldaten hätten sich höflich und gut benommen – abgesehen von
den maskierten Männern, die grob waren. Maryam versuchte, die Soldaten davon zu
überzeugen, nicht nach oben zu gehen. „Oben schlafen kleine Kinder,“ sagte sie und -
nach Abed - hätte einer der Maskierten zu ihr gesagt: „Wir töten jeden, der
dort ist.“ Nadia wollte nach oben gehen
und die Kinder holen, aber die Soldaten
befahlen ihr, im Hof zu bleiben.
Im Hof sah Nadia ihre
Schwiegermutter mit Yussef auf der Steinbrüstung sitzen. Nadias Schwägerin,
Hiba saß ihr gegenüber. Nadia setzte sich zu ihnen und fragte, was los sei.
Maryam sagte, die Soldaten suchen nach Studenten. Hiba sagte, einer der
Maskierten war nervös und aggressiv. Yusuf fragte noch einmal: „Kamen sie, um
uns zu töten?“ „Sie kamen nur, um Leute zu verhaften,“
beruhigte sie ihn .
Gedenkposter bedecken noch
die Fenstergitter. Abed ist in Gedanken versunken und schaut auf den Boden ..Die Soldaten
wollten nach oben gehen, wo die Kinder schliefen. Nadia und Maryam
standen auf und versuchten noch einmal, sie davon zu überzeugen, nicht nach
oben zu gehen. Was danach geschah, ereignete sich in wenigen Augenblicken.
Nadia sagte, einer der
Soldaten habe Maryam gestoßen, sie stürzte nach hinten, saß kurz auf der
Brüstung, verlor die Balance und fiel mit dem Kopf auf den Betonboden und
verletzte sich. Nadia dachte, sie sei nur benommen und habe deshalb das
Gleichgewicht verloren. Sie versuchte, sie aufzuheben. Aber Maryam war zu
schwer. Nadia spritzte Wasser auf ihr Gesicht, dann hörte sie ein gurgelndes
Geräusch und bemerkte ein
Blutlache unter dem Kopf ihrer Schwiegermutter. Nadia begann, um Hilfe zu
schreien.
Abed , der nach oben gegangen war, hörte seine Tochter
schreien: „Sie haben Mutter getötet, sie haben Mutter getötet.“ Erschrocken kam
er runter und sah seine Frau auf dem Rücken in einer Blutlache liegen.
Ein Armeesanitäter
versuchte, Maryam wiederzubeleben … bald danach sagte er, es tue ihm leid, aber
sie sei tot. Die Familie sagt, ein Nachbar sei Arzt und wurde gerufen – er
durfte aber nicht kommen. Die herbeigerufene Ambulanz wurde auch abgehalten.
Nachbarn versammelten sich bald. Nachdem der Sanitäter verkündet hatte, dass
Maryam tot sei, gingen die Soldaten. Um
halb zwei Uhr nachts, drei und eine halbe Stunden nachdem die Durchsuchung
begonnen hatte, war Maryam auf dem Friedhof in Abu Dis beerdigt. …
(dt. und
etwas gekürzt: Ellen Rohlfs)