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Kidnapping im Tal

 

Gideon Levy, 17.7.08

 

Es war Kidnapping – man kann es nicht anders beschreiben. Wenn man zwei junge Hirten in ein Jeep zerrt und sie eine Nacht lang ohne Grund auf einer IDF-Basis festhält, während ihre Familien vor Angst außer sich sind, dann ist das Kidnapping. Wenn keiner in den IDF etwas über das Kidnapping Bescheid weiß und die Armee sogar ein Jeep schickt, um den Eltern bei der suche nach ihren Kindern zu helfen, dann ist das grotesk. Wenn die Kidnapper den beiden Brüdern erzählen: „Wir wissen, dass eure Eltern und die IDF euch suchen, aber wir werden ihnen nicht sagen, dass ihr hier seid, dann ist das schon eine sehr ernste Sache.

 

Jeder Soldat macht in den besetzten Gebieten selbst das Gesetz. Zwei  Hirtenkinder von Beduinen, die ihre Schafe auf Land grasen lassen, das den Eltern und ihren Nachbarn gehört – was aber die IDF ihnen verbietet – wurden verhaftet und ungerechtfertigt weggefahren und ohne Gerichtsverfahren und scheinbar  ohne dass jemand von der brutalen Tat erfuhr. Die Soldaten, die das Kidnapping durchführten, hielten es nicht für nötig, die Verhaftung und die Gefangenschaft ihren Vorgesetzten mitzuteilen.

Der Hirte Salah Basharat suchte die ganze Nacht nach seinen Kindern . Erst am späten Vormittag kamen Saliman,15, und Mashhur,14, zu Fuß nach Hause. Das erbärmliche Zeltlager liegt im Jordantal zwischen den Siedlungen Bekaot und Ro’i. es war nicht das erste Mal, dass Soldaten seine Söhne verhafteten, aber gewöhnlich werden sie nach ein oder zwei Stunden entlassen, nachdem sie am Kontrollpunkt festgehalten wurden.

Eine große Staubwolke erhebt sich hinter der Herde; Saliman und Mashhur kehren vom Grasen am morgen zurück. Der Anblick der Landschaft ist alt, biblisch, wunderbar: etwa 200 Schafe ziehen hinter zwei jungen Hirten, die auf einem Esel reiten, über den gelben Wüstenboden, während zwei Hirtenhunde bellend um die Herde laufen.  Die Familienmitglieder , die Eltern und acht Kinder leben allein von ihrer Herde. Zwei Monate lang verkaufen sie den Käse an die Händler in Nablus; während des übrigen Jahres verkaufen sie Schafe an die Metzger. Einmal im Jahr werden die Schafe geschoren, aber keiner ist mehr an Schafwolle interessiert.

 

Die Schafe eilen zum Wassertrog, um ihren Durst zu stillen. Sie drängen sich um den winzigen Trog, saufen Wasser und machen für die nächsten Platz. Dann eilen sie zu einem überdachten Anbau, um eine kühle Ecke im Schatten zu erwischen, um der brennenden Hitze im Jordantal zu entkommen…Das Zeltlager ist wie weggeschlossen: Israel grub Gräben, die für Wagen unpassierbar, um das Lager von der Jordantal-Schnellstraße abzutrennen. Das Eisentor an der ungeteerten Straße wird nur dreimal in der Woche geöffnet, am Sonntag, Dienstag und Donnerstag und zwar ein Stunde am Morgen und eine Stunde am Abend, um denen in ihren eigenen Unterkünften eingesperrten für eine Weile Ausgang zu ermöglichen. Mit dem Jeep von Bassam Eid, dem Chef der palästinensischen Menschenrechtsgruppe finden wir einen Umgehungsweg um Tor und Graben. Alle paar Monate kommt die Zivilverwaltung und zerstört das Zeltlager.

Jeden Tag fährt  Salah  mit einem Traktor hinaus, um Wasser aus Kfar Tamum zu holen. Eins der Kinder Yihye, 10, ist auf einem Auge blind. Als er drei war, hob er ein Stück Munition in der Schießzone der IDF auf und verlor so ein Auge. Das verletzte Augenhöhle macht ihm zu schaffen und er kratzt darin. Auch die andern Kinder der Familie machen einen vernachlässigten Eindruck.

Die jungen Hirten, Saliman und Mashhur sitzen erschöpft aud Plastikstühlen. Sie waren schon um 5 Uhr morgens mit der Herde auf die Weide gezogen. Jetzt in der unerträglichen hitze des Nachmittags ruhen sie aus, um später noch mal auf die weide zu gehen. Das tun sie jeden Tag. Und genau das machten sie auch am 2. Juli.

Am Morgen  gingen die beiden mit ihrer Herde hinaus auf die südliche Weide, kehrten mittags zurück um 3 Uhr noch mal hinaus auf die östlichen Weideflächen auf der andern Seite der schnellstraße. Um halb sechs wunderte sich der Vater, dass die Herde ohne Hirten zum Zeltlager zurückkehrten. Er eilte zu den Schafen, half ihnen über die Schnellstraße und begann sich Sorgen zu machen. Wohin sind die Kinder verschwunden?

 

Saleh wartet anderthalb Stunden. Es war in der Vergangenheit schon passiert: die Kinder waren  während  des Weidens der Schafe verhaftet worden, zu einem Kontrollpunkt genommen und einige Stunden später wieder entlassen worden. Wenn es dunkel wurde, und die Kinder noch immer nicht zurückgekehrt waren, telefonierte salah mit  der Machsom watch-Aktivistin Daphna Banai, die ihm in der Vergangenheit geholfen hat. Jeder Palästinenser in Not hat jetzt die Handynummer von einigen rechtschaffenen israelischen Frauen für Notfälle. An wen sonst sollten sie sich wenden?

 

Banai  telefonierte mit den Verbindungsoffizieren in Jericho, wo eine Soldatin mit Namen Bar gleich aufhängte und behauptete, sie dürfe nicht mit ihr reden. Der andere Anruf wurde von Yogev beantwortet, der versprach, dem nachzugehen. Später sagte er, die Kinder seien nicht von der IDF verhaftet worden. Banai telefonierte mit der Polizei in Ariel und in Maaleh Ephraim, wo man ihr sagte: „Es ist nicht unser Job nach palästinensischen Kindern suchen, lasst die palästinensische Polizei sie suchen.“ Sie telefonierte auch mit dem Koordinationshautquartier in Jenin. Sie wussten auch nichts. Dann wurde es nacht. Während der nächsten vier Stunden telefonierte Banei auch mit MK Ran Cohen, aber keiner wusste, wo die Kinder geblieben sind. Salah war in großer Sorge, wie Banai später in ihrem Bericht schrieb.

Um Mitternacht telefonierte Salah mit Banai noch einmal und sagte ihr, dass er ein ungutes Gefühl habe, dass er auf die Weiden gehen wolle, um nach den Kindern zu suchen, im Falle das ein Unfall geschehen sei. Vielleicht mit Munition. Vielleicht liegen sie jetzt verletzt dort, Vor drei Monaten war dort ein 15Jähriger ermordet worden. Doch Salah wollte nicht allein im Dunkeln hinaus und dort der Armee begegnen. Er bat Banai, eine Erlaubnis für ihn zu erbitten. Banei bat darum, dass ein IDF-Jeep  den Vater bei seiner Suche begleitet. Tatsächlich wurde ein Jeep in Richtung des Tores geschickt. Banei sagte Salah, er solle  mit einer Taschenlampe zum Tor gehen und  dort auf das Jeep warten.

 

Während der nächsten zwei Stunden suchte Salah und die Soldaten nach den Kindern auch mit den Scheinwerfern des Jeeps --- gegen 3 ging er nach Hause … Salah und seine Frau Kauthar wussten nicht, was sie tun sollen; sie haben keinen Augenblick ihre Augen zugemacht; Salah rauchte eine Zigarette nach der anderen. Am Morgen riefen sie Verwandte in den nächsten Dörfern an. Nichts. Salah arbeitete 12 Jahre lang als Hilfskoch in Tel Aviv, auch im Großen Strandhotel. Doch jetzt war er hilflos.

 

Während der ganzen Nacht waren  die Kinder auf der IDF-Basis in der Nähe der Siedlung Hemdat. Saliman sagt, dass am Nachmittag ein Jeep oder Toyota gekommen sei und drei Soldaten seien ausgestiegen: „Was tut ihr hier?“ wurden sie gefragt. „Wir weiden unsere Schafe hier“. Einer der Soldaten schlug sie und  lud sie hinten auf ihr Fahrzeug. Als sie sich der Militärbasis näherten, wurden ihnen die Augen verbunden. Einer von ihnen sprach fließend arabisch.

Man steckte sie in einen leeren Raum, brachte zwei Matratzen und eine decke und schloss die Tür zu.  Die hatten Todesangst. Saliman hatte Angst, die Soldaten würden ihn  töten. Am Abend brachte man ihnen etwas zu essen und etwas Wasser. Danach fiel Mashhur auf die Matratze und schlief ein. Saliman hatte solche angst, dass er fast nicht schlafen konnte. Bei Sonnenaufgang weckte er seinen Bruder und ein paar Stunden später  brachten die Soldaten den Jungs Frühstücke. Etwa um 10 Uhr ließen die Soldaten die Kinder ein Papper mit hebräischem Inhalt unterschreiben, obwohl die Sprache kaum kannten. Nachdem sie unterzeichnet hatten , wurden sie wieder in das Jeep gepackt. Etwa vier Kilometer vor ihrem Zeltlager wurden sie auf freien Fuß gesetzt. Die Soldaten sagten ihnen,  sie sollten geradeaus gehen und nicht zurückschauen. Die Jungs machten sich auf den Heimweg und  liefen direkt in die Arme ihrer Mutter. Sie eilte ans Telefon, um ihrem Mann, der noch immer noch draußen  nach den Kindern  suchte, Bescheid zu sagen.

 

Ein IDF-Sprecher:

Der oben erwähnte Zwischenfall war gründlich von den IDF- Einheiten in dem Gebiet untersucht worden. Als die Nachricht von den verschwundenen Kindern bekannt wurde, halfen IDF –Leute bei der suche. Ein paar Stunden später gab es einen bericht, das die Kinder wieder gefunden worden seien. Behauptungen, dass die  IDF in das Verschwinden der Kinder  verwickelt war, ist völlig grundlos.

 

(dt. Ellen Rohlfs)