Gideon Levy, Haaretz, 15.1.09
Der
Kampf im Gazastreifen ist ein
De-Luxe-Krieg. Verglichen mit den vorausgegangnen
Kriegen ist er wie ein Kinderspiel – Piloten bombardieren ungehindert, und -
als ob es eine Probe wäre beschießen
Soldaten aus Panzern und die Artillerie Häuser und Zivilisten,
Kampftruppen zerstören ganze Straßen aus ihren
Fahrzeugen ohne auf einen ernsten Widerstand zu stoßen. Eine große, umfassende Armee
kämpft gegen eine hilflose Bevölkerung und eine schwache, in sich zerrissene
Organisation, die aus den Kampfzonen geflüchtet ist und noch nie solch einen
Kampf durchgefochten hat. All dies muss
offen gesagt werden, bevor wir damit beginnen, über unser Heldentum und unsern Sieg zu frohlocken.
Dieser
Krieg ist auch ein Kinderspiel wegen seiner Opfer. Etwa ein Drittel jener Getöteten im Gazastreifen sind Kinder
gewesen – 311 nach dem Palästinensischen Gesundheitsministerium, 270 nach
der B’tselem-Menschenrechtsgruppe - von den insgesamt 1000 Getöteten, gestern.
Etwa 1550 der 4500 Verletzten sind auch Kinder gewesen, nach Zahlen von der UN,
die sagt, dass die Zahl der getöteten Kinder sich inzwischen verdreifacht hat.
Dies
ist nach jedem humanitären oder ethischen Standard eine viel zu hohe Zahl.
Es
genügt, sich die Bilder anzusehen, die aus dem Shifa-Krankenhaus
kommen: viele verbrannte, blutende und sterbende Kinder liegen dort. Die
Geschichte hat unzählige brutale Kriege gesehen, die zahllose Leben kostete.
Aber
die erschreckenden Proportionen dieses Krieges: ein Drittel der Toten sind
Kinder - daran kann man sich nicht
erinnern.
Gott
zeigt keine Gnade gegenüber den Kindern in
Gazas Kindergärten - und die
israelischen „Verteidigungs“-Kräfte zeigen auch keine
Gnade. So geht es, wenn Krieg in dicht
bevölkerten Gebieten geführt wird, mitten in einer Bevölkerung, die mit Kindern
gesegnet ist. Etwa die Hälfte der Bevölkerung von Gaza sind unter 15 Jahre alt.
Kein
Pilot oder Soldat geht in einen Krieg, um Kinder zu töten. Keiner unter ihnen
beabsichtigt, Kinder zu töten, aber es scheint
auch so, dass keiner beabsichtigt, sie nicht zu töten. Sie gingen in den
Krieg, nachdem die IDF schon 952 palästinensische Kinder und Jugendliche seit Mai 2000 getötet hat.
Die
schockierende Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit gegenüber diesen Zahlen ist unglaublich. Tausend Propagandisten und Apologeten können
dieses kriminelle Töten nicht entschuldigen. Man kann der Hamas die Schuld am
Tod der Kinder geben, aber keine vernünftige Person in der Welt wird diese
lächerliche, fehlerhafte Propaganda mit
Blick auf die Bilder und Statistiken, die aus Gaza kommen, abnehmen.
Man
kann sagen, Hamas verstecke sich unter der zivilen Bevölkerung, als ob das
Verteidigungsministerium in Tel Aviv nicht auch mitten unter der zivilen
Bevölkerung stehen würde. Als ob es im Gazastreifen Orte gäbe, die nicht mitten
in der zivilen Bevölkerung stünden. Man kann auch behaupten, dass die Hamas
Kinder als menschliche Schutzschilde benützen würde, als ob unsere eigenen
Organisationen, die für die Errichtung des Landes kämpften, nicht auch Kinder
rekrutiert hätten.
Eine
bedeutsame Mehrheit der getöteten Kinder im Gazastreifen starb nicht, weil sie
als menschliche Schutzschilde benutzt
wurden oder für die Hamas arbeitete. Sie wurden getötet, weil die IDF
bombardierte, Granaten auf sie, ihre Familien und ihre Wohngebäude abfeuerte.
Deshalb klebt das Blut dieser Kinder an unsern Händen und nicht an denen von
Hamas – und wir werden nie in der Lage sein, uns aus dieser Verantwortung
wegzustehlen.
Die
Kinder von Gaza, die diesen Krieg überleben, werden sich an diesen erinnern. Es
genügt, sich den wunderbaren Film „Arnas Kinder“ des
in Nazareth geborenen Juliano Mer
Khanis anzusehen,
um zu verstehen, was unter Blut und Ruinen gedeiht, die wir ihnen hinterlassen.
Der Film zeigt die Kinder von Jenin, die weniger
Horror gesehen haben als jene von Gaza. Sie wuchsen heran und wurden Kämpfer
und Selbstmordattentäter.
Ein
Kind, das gesehen hat, wie sein Haus zerstört wurde, wie sein Bruder getötet
und sein Vater gedemütigt wurde, wird nicht vergeben.
Als
es mir das letzte Mal im November 2006 erlaubt war, den Gazastreifen zu
besuchen, ging ich zum Indira-Ghandi-Kindergarten in Beit Lahia. Die Kinder zeichneten, was sie am letzten Tag
gesehen hatten: eine Granate der IDF traf ihren Schulbus und tötete ihre
Kindergärtnerin Najwa Halif
vor ihren Augen. Sie waren im Schock. Es ist möglich, dass einige von ihnen nun selbst getötet
oder verletzt worden sind
(dt.
Ellen Rohlfs)