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Stark, was Zahlen betrifft

 

Gideon Levy, 21.1.08

 

Hier haben wir den Maßstab für den Erfolg an Sicherheit: die Zahl der getöteten Palästinenser. Wie in den meisten urzeitlichen Kriegen rühmte sich der Chef des Verteidigungsestablishments der Zahlen, die Israel getötet hat. Ihr Job ist es, für die Sicherheit der Bewohner zu sorgen. Und wie wir wissen, erhalten die Bewohner von Gaza nicht diesen Schutz. So wurde die Todesrate zum Maßstab ihres Erfolges.

 

Der Shin Bet-Chef Yuval Diskin informierte letzte Woche das Kabinett über die Erfolge seiner Organisation: 810 Palästinenser während der letzten beiden Jahre getötet. Sein Vorgänger, Avi Dichter erschien einmal vor der redaktion von Haaretz und  präsentierte eine raffinierte Diaschau auf seinem Laptop: ein Diagramm über die palästinensischen Todesfälle in verschiedenen Farben. Letzte Woche definierte der Brigadekommandeur von Gaza, Oberst Ron Ashrov die Operation im Stadtteil Zeitun als „sehr erfolgreich“. Warum? Weil seine Soldaten 19 Palästinenser  an einem einzigen Tag getötet hatten und die Feuersbrunst weiter in den Süden  gebracht hatten. Es ist deprimierend, moralisch und tatsächlich, daran zu denken, dass dies der Maßstab von Erfolg ist.

 

Hat das tägliche Massentöten im Gazastreifen die Sicherheitssituation verbessert? Nein – es ist nur schlimmer geworden. Hat es die Anzahl der Qassams reduziert? Nein. Es führte zu ihrer Verbreitung. Warum also töten wir? Wir müssen irgend  etwas tun und dies benötigt ein „Etikette“. Das sind nichtssagende Klischees. Ein Blick auf die Zeitungen der letzten Zeit gibt ein klares Bild: Solange der US-Präsident noch im Lande war, hielt sich Israel mit Liquidierungen zurück und die Zahl der Qassems war auch weniger . Als George Bush ging, nahmen wir das Töten wieder auf und die Folge davon war, Sderot hatte die schlimmsten Tage, die es je hatte. Die brennende Frage lautet: wofür töten wir? Einer muss dies beantworten.

 

Der Unterschied, den Diskin und seinesgleichen zwischen „bewaffneten“ und „unbewaffneten“ Palästinensern machen, ändert nichts an der Tatsache. Ob 600 Bewaffnete  (nach  dem Chef des  Shin Bet) getötet wurden oder nur 455 ( nach der Berechnung von Haaretz) rechtfertigt nicht den Umfang des Tötens oder nützt auch nicht als Hinweis seiner Wirksamkeit. Nicht jede bewaffnete Person verdient zu sterben. All das Töten von Bewaffneten und Unbewaffneten hat nur zur Eskalation von Gewalt auf der anderen Seite geführt. Anstelle eines jeden getöteten  „ranghohen Jihad-Kommandeur“ und  für jeden  getöteten  Qassamwerfer tauchen sofort sieben neue auf. Das Töten ist sinnlos und das Verteidigungsestablishment rühmt sich dessen nur, um die öffentliche Meinung zufrieden zu stellen.

 

Der Verteidigungsminister Ehud Barak sollte dies besser verstehen als irgend jemand anders. Sicherlich hat er schon ein oder gar zwei Bücher über (Kriegs-)Geschichte gelesen und weiß deshalb, dass es unmöglich ist, mit Gewalt einen entschlossenen und langwierigen Kampf für Freiheit wie den der Palästinenser zu bezwingen. Er war es auch, der einmal bei einem TV-Interview  mutig und  offen sagte: „Wenn ich ein Palästinenser wäre, würde ich mich einer Terrorgruppe anschließen.“ Ausgerechnet er ist es nun, der im Gazastreifen die Todessaat sät.

 

Gedanken und Gefühle gehen auch zu den Bewohnern von Sderot: man sollte aber auch daran denken, dass sie dieselbe Verantwortung für die Situation tragen wie alle Israelis. Wenn eine Befragung in dieser ramponierten Stadt durchgeführt würde, würde es sich zeigen, dass eine Mehrheit Sderots weiter zugunsten einer fortdauernden Besatzung und Belagerung wäre wie im übrigen Israel. Und trotz all ihres  erfahrenen Leidens, ist die Situation ihrer Nachbarn um ein Vielfaches schlimmer.

 

Haaretz stellte letzte Woche auf ihrer ersten Seite zwei Fotos gegenüber: ein schreiendes Kleinkind aus Sderot und ein weinendes Kleinkind aus dem Gazastreifen – beide Kinder in den Armen ihres Vaters. Andere Zeitungen hielten es für ausreichend, das Foto eines weinenden Kindes aus Sderot  auf ihrer ersten Seite zu drucken. Aber in den letzten Tagen hat Israel Dutzende von Bewohnern im belagerten, ohnmächtigen und verhungernden Gazastreifen getötet. Mit aller Sympathie für Sderot kann diese Information nicht ignoriert werden.

 

Das fortwährende Morden im Gazastreifen führt nirgendwo hin, außer zu einer verschlimmerten Lage in Sderot. Es wird den Freiheitskampf der Palästinenser nicht schwächen und wird Israel keine Sicherheit bringen. Das Verlangen nach einer „groß angelegten militärischen Operation“ im Gazastreifen, wie er von kriegstreiberischen Generälen und Kommentatoren beschrieben wird, ist  auch äußerst ärgerlich.  Diese Operation hat schon vor langer Zeit begonnen – man höre nur sich nur die Todeszahlen von Diskin und seinen Kollegen an. Wir haben über 800 Palästinenser in den letzten zwei Jahren getötet – und es ist erschreckend, wie manche darüber stolz sind. Und was haben wir damit erreicht?

 

(dt. Ellen Rohlfs)