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Auf der Grünen Linie schlafen
Von Lydia Aisenberg (Juli 2009)
In seiner etwas schmuddeligen Ecke zwischen dem
Ladentisch und Regalen voller vermischter Waren sitzt Allam Abu Abead und braut Kaffee.
Die Kaffeemaschine hat viel Ähnlichkeit mit einer
Schuhschachtel und steht unter Reihen von Deodorants, Aftershaves und
Parfumfläschchen. Es scheint, dass die Kaffeemaschine der einzige Artikel auf
den Regalen in diesem Teil des Ladens ist, den nicht eine Schicht von feinem grauen Staub bedeckt.
Allam kommt aus Jenin, der
autonomen palästinensischen Stadt ganz nahe von seinem Geschäft in West Barta’a,
aber Welten weit entfernt. Tatsächlich ist Jenin
nicht mehr als 30 km von Barta’a entfernt, aber um
dorthin zu gelangen, müsste Allam durch den Checkpoint von Reichan-Barta’a
im Sicherheitszaun gehen, und der liegt rund 2 km hinter Ost Barta’a.
An einem guten Tag kommt man in einer halben Stunde durch
den Chequepoint. Aber offensichtlich gibt es nicht so
viele gute Tage, und so kann es zwischen einer und zwei Stunden dauern, je
nachdem, wie es zu der Zeit mit der allgemeinen „Sicherheitslage“ in der Region
ausschaut.
Wenn es irgendeinen Alarm gibt oder in Israel Ferien
sind, ist der Chequepoint oft überhaupt geschlossen.
In „normalen“ Zeiten wird das Tor um 10 Uhr abends geschlossen und wird am
frühen Morgen wieder geöffnet. Falls es sich um irgendeinen Notfall handelt,
gibt es eine Telefonnummer, die man wählen kann, und dann wird das Tor geöffnet
– oder nicht – je nach der Schwere des Falles oder, wie einige Palästinenser
behaupten, je nach der Laune dessen, der gerade Dienst hat.
Allam geht nicht nach Jenin
nach Hause, sondern kampiert ständig in Barta’a. Dort
hat er ein Quartier gemietet, aber man kann ihn normalerweise vom Morgen an bis
spät in die Nacht in und um sein Geschäft finden. Schließlich versucht er,
seinen Lebensunterhalt zu verdienen und überhaupt, was soll man in Barta’a denn sonst noch tun.
Allam sollte nicht da Geschäfte machen, wo er es tut,
sollte nicht schlafen, wo er es tut. Im aktuellen Fall sollte Allam überhaupt
nicht auf dieser Seite des Sicherheitszauns sein, weil die Erlaubnis dazu
inzwischen abgelaufen ist, und er war nicht bei den israelischen Behörden, um
sie zu erneuern, besonders, weil man nun eine neue Regel ins Spiel gebracht
wurde, die er stark ablehnt. Auf dem neuen Ausweis – sollte er einen bekommen –
steht, er müsse das Gebiet um 19 Uhr am Abend verlassen haben.
„In den Sommermonaten haben wir wirklich bis spät in die
Nacht offen, weil dann die große Anzahl an Kunden kommt. Glaubst du im Ernst,
dass ich zusperre und aus dem Geschäft gehe, wenn es Arbeit gibt ?“ fragt Allam
mit einem Lachen im Gesicht, während er den siedend heißen, dicken und stark
duftenden Kaffee in kleine Wegwerfschälchen aus Plastik gießt.
Er mietet ein kleines Zimmer in einem provisorischen
„Gebäude“, das hauptsächlich aus einer Anzahl von Schiffscontainern besteht,
die man zu Geschäften zusammengeworfen hat. Ein zweites Geschoß wurde auf das
Dach der Container gesetzt, und damit waren einige kleine, schäbige Räume
geschaffen, die man zum Wohnen vermietet hat. Allams
Bett da hoch oben hängt im wörtlichen Sinn über einem Graben, dem Graben
– der „Grünen Linie“, obwohl sie ehrlich alles andere ist als „grün“, angefüllt
mit Abfällen, eine luxuriöse Brutstelle für Moskitos, Fliegen und anderes
Ungeziefer.
Die Geschichte von Allam Abu Abead
ist typisch für viele Palästinenser, die man sowohl in West- wie auch in Ost-Barta’a bei der Arbeit antreffen kann. Sie dürfen hier
nicht sein, aber jeder weiß, dass sie hier sind, einschließlich der
Sicherheitskräfte. So lange es ruhig ist, setzt niemand das Schiffchen ins
Wasser, das erfolgreiche Handelszentrum wird weiterhin blühen und für viele
Familien in der Westbank die wichtigste Einkommensquelle sein.
Allams Laden besteht aus zwei Teilen: der Bereich um den Haupteingang ist reich
bestückt mit arabischen Musik-CDs, mit Video-Apparat und Computer. Elektrische
Drähte überall: auf und über der Wand, unter dem Eingang durch und hinaus nach
irgendwo. Während unseres Gesprächs hüpft ein junger Mann herein und hinaus und
versucht, etwas mit allen diesen Drähten zu unternehmen, um Allams Computer
wieder anzuschließen.
Als ich Allam frage, ob er aus Asien importiert wie so
viele andere Kaufleute, lacht er herzlich und meint: „pflanzt du mich? Dazu bin
ich nicht groß genug. Ich kann Waren einkaufen, wo ich will. Einkaufen ist
nicht das Problem, das Verkaufen ist der schwierige Teil“, sagt er mit einem
breiten Grinsen.
Einige Frauen kommen herein um irgendetwas zu kaufen. Sie
sind leicht chockiert; alles, was sie zu kaufen
beabsichtigen, ist in Zellophansackerln verpackt, die
mit einer dicken Staubschicht überzogen sind. Sie benutzen nur zwei Finger,
eine der Frauen hebt die Ware gerade am Zipfel des Säckchens hoch und legt es
sorgfältig auf die Glasplatte des Ladentisches, um den Staub nicht zu verteilen.
Die Konversation geschieht in arabisch,
das verstehe ich nicht. Trotzdem
verstehe ich irgendwie, dass sie sagt, sie möchte die
Ware haben, aber nicht den Staub. Allam fängt an, den Staub mit einem Fetzen wegzuwischen.
Der Staub wird durch die Verkehrslawine draußen in den
Laden geweht. Die Infrastruktur des Dorfes kommt nicht zurecht
mit der großen Zahl der Fahrzeuge, die sich durch die enge Hauptstraße winden,
an deren beiden Seiten sich kleine Geschäfte drängen. Jeder, der die
Möglichkeit hat, Israeli oder Palästinenser, verwandelte ein Zimmer an der
Straßenseite in ein Geschäft, um es zu vermieten und in der Zeit, als der
Wohlstand nach der zweiten Intifada im Jahr 2000 anfing, an die Tore von Barta’a zu klopfen, ein bisschen Geld zu machen.
Man kann ohne fehl zu gehen sagen, dass es in Barta’a haufenweise Geschäfte am Türpfosten gibt, und wo immer es ein bisschen Raum gibt,
werden hastig Buden errichtet, um noch ein anderes „bizziness“
anzufangen, wie ein Mann seinen Kiosk aus einem Schiffscontainer nannte, von
dem aus er Falafel verkauft. Dieser Container sitzt im wahrsten Sinn des Wortes
breitbeinig auf dem Graben auf der Grünen Linie.
Allam Abo Abead zahlt einem
israelischen arabischen Bürger Miete, dem das Geschäft gehört, wo er
Parfum und volkstümliche sowie
klassische arabische Musik verkauft. Er zahlt auch einem anderen arabischen
Bürger von Israel Miete, dem der Container mit der Kiste oben gehört, in der er
schläft. Er zahlt Steuern an die örtliche Stadtverwaltung von West Barta’a, die zurzeit eifrig bestrebt ist, den ganzen
Hauptplatz auf ihrer Seite der Grünen Linie aufzupolieren, indem sie die Straße
pflastert, die Oberfläche ordentlich
macht und einen kleinen Park mitten auf dem Platz anlegt. Allam zahlt jedoch
nicht VAT (= value added
tax = Mehrwertsteuer) für die Waren, die er verkauft, oder irgendeine andere
Steuer – nicht an die Israelis und ebenso wenig an die Palästinenser. Die
andere Seite des Dorfes liegt unter der Verwaltung der PA (= Palestinian Authority). Jedoch, bis zum heutigen Tag, wird
auf den Steuererheber von Jenin,
dem palästinensischen Verwaltungszentrum des nördlichen Teils der Westbank,
gewartet.
Ziemlich schwierig sich auszumalen, wie denn und wann sie
wirklich in die Stadt kommen, und wie ein Steuererheber
des PA Steuern einheben könnte von einem
Palästinenser, der im Staat Israel, also in West Barka’a,
illegal Geschäfte macht.
Allam spricht sehr gutes Englisch, etwas zögerlich wohl,
weil er wenig Gelegenheit hat, es oft zu benutzen. Er hat einige Zeit im Irak
zum Studium verbracht und wohnte in einem Haus in Bagdad. Er ist unverheiratet,
hat aber eine Freundin in einer der nahen israelischen arabischen Städte – wo
er vermutlich auch nicht hingehen darf, weil er ja die Grüne Linie, oder den
Sicherheitszaun, um dieser Sache willen nicht überschreiten darf, der ja in
diesem Bereich nicht mit der Grünen Linie übereinstimmt, sondern einige
Kilometer in die Westbank hinein mäandriert.
Vor der Intifada hatte Allam ein Geschäft in Jenin. Er verlegte dieses Geschäft nach Baka
al-Sharkiya in Wadi Ara. Einige Jahre lang hat sich
dort ein sehr erfolgreicher Markt etabliert, ein Teil davon in Baka al-Sharkiya (Ost-Baka) in der Westbank, der andere Teil in Baka al-Gharbiya (West-Baka) im Staat Israel. Damals konnte man seine Früchte in
Israel kaufen, dann ein paar Schritte gehen und sein Gemüse in der Westbank
abholen, so ähnlich wie in Barta’a heute. Heute
jedoch trennt ein Sicherheitszaun und ein Stück Mauer die beiden Bakas von einander.
Nachdem auf dem Marktplatz von Baka
al-Gharbiya und Sharkia sowie allgemein in der Nachbarschaft einige
Israelis ermordet worden waren, wurden hunderte von Geschäften und Buden durch
die israelische Armee zerstört. Allams Geschäft in
Ost-Baka wurde auch dem Erdboden gleichgemacht. Mit
allem, was er retten konnte, übersiedelte er nach Baka
al-Gharbiya in Israel und fing von Neuem an, während
er bis zum heutigen Tag ein ähnliches Geschäft in Jenin
hat, das von einem seiner Verwandten betrieben wird.
Allams Geschäft in Baka al-Gharbiya
lag im Zentrum einer sich ausbreitenden Stadt. Zweimal wurde er eingesperrt,
weil er sich ohne Genehmigung in Israel befand.
„Wenn ein Feld- oder ein Bauarbeiter illegal
herüberkommt, ist es nicht so einfach, ihn zu fangen. Sie gehen von einem Ort
zum anderen und sind in Gebieten, die oft weit von der Hauptstraße weg sind.
Ich, andererseits, blieb in einem Geschäft an der belebten Hauptstraße und sehr
leicht zu finden“, erklärt er mit einem Grinsen – und fragt gleichzeitig, ob
man noch einen Kaffee haben will.
Das eine Mal saß er im Kishon Gefängnis, seine Zellengenossen waren ein israelischer
Druse und ein russischer Einwanderer. „Wir sind unter diesen Umständen sehr gut
miteinander ausgekommen“, sagt er mit
einem Lacher.
Weil er allzu leicht im Zentrum von Baka
al-Gharbiya entdeckt werden konnte, übersiedelte
Allam sein Geschäft noch einmal, diesmal nach Barta’a.
Allam beantwortet Fragen klar. Sein Wissen über den
„Konflikt“ ist profund, oft zitiert er, was in Madrid, Wye,
Camp David und so weiter gesagt, getan wurde, worüber man sich geeinigt hat und
was abgelehnt wurde. Sein Kommentar in Bezug auf die Beziehungen von Fatah und
Hamas habe ich so verstanden, dass er nicht zu positiv in die nahe Zukunft des
palästinensischen Volkes schaut, die
Machtkämpfe zerstörerisch für die
Sache der Palästinenser einschätzt und in der
Korruption der Fatah den Faktor
sieht, der vor allem zur gegenwärtigen teuflischen Situation geführt hat.
Ungleich vielen Palästinensern, auch jenen mit
israelischer Staatsbürgerschaft, glaubt er fest, dass der Holocaust
stattgefunden hat und sieht Hitler als einen Bösewicht.
„Ich hasse die Juden nicht, die meisten von uns hassen
sie nicht. Wir hassen die Situation. Das palästinensische Volk kann nichts für
den Holocaust; er dürfte nicht benutzt
werden, um die Palästinenser zu berauben, wie es jetzt getan wird“, sagt er mit
großer Emotion.
So weit er wisse, verließen viele Juden freiwillig Irak
und andere Länder, um nach Israel zu gehen, nicht weil sie verfolgt worden
wären und viel zu verschreckt, um zu bleiben. Im Gespräch rund um diesen
Gegenstand hörte er den Geschichten
aufmerksam zu, die die Autorin von irakischen Juden erzählte, aber ich hatte
das Gefühl, dass, was immer ich sagte,
würde ihn nicht davon abbringen zu glauben, dass die
Juden arabische Länder nicht verließen, weil sie bedroht wurden, sondern weil
sie so stark wünschten, im neuen Staat Israel zu leben.
Auf meine Frage, wie er die arabischen Bürger Israels sah
und welche Beziehung er zu denen hatte, die rundherum in Barta’a.
Baka al-Gharbiya und
anderswo lebten, antwortete er:
„Sie sind ein Teil von uns, aber gleichzeitig sind sie
anders. In der Tat sind sie in einer schlechteren Lage als wir Palästinenser.
Wenn ihnen etwas passiert, empfinden sie sich sehr als die Unseren, und uns
geht es genau so, wenn es bei ihnen Probleme gibt. Sie haben eine
Identitätskrise, wir nicht“.
Im Gespräch über Jenin sagte
Allam, dass er viele Menschen kenne, die nicht genug Nahrung für ihre Kinder
herbeischaffen können.
„Es ist besser, als Flüchtling in Jenin
zu leben als in einer der ansässigen Familien. Registrierte Flüchtlinge
bekommen immer noch Hilfe von der UNWRA – Basis-Nahrungsmittel – während die
einheimische palästinensische Bevölkerung, die nicht als Flüchtlinge betrachtet
werden, nichts bekommen und hungrig
bleiben“.
Hinsichtlich der Verweigerung der Arbeitserlaubnis für
Palästinenser, wie das vor der Welle der Gewalt innerhalb des Staates nach
Oslo für eine große Anzahl die Norm
war, meinte Allam, er verstünde nicht,
warum nur eine limitierte Anzahl von verheirateten Familienvätern Permits
bekämen. „Weil ich ledig bin, kann ich
keine Arbeitsgenehmigung in Israel erhalten. Ich verstehe die Logik der
Israelis nicht… wirklich! Hätte ich
Kinder und meine Kinder würden leiden, würde ich doch hingetrieben, etwas
Drastisches zu unternehmen. Wenn deine Kinder hungrig wären, was würdest du tun
in dieser Situation?“ fragte er. „Wo ist da die Logik?“
Allam Abo Abead ist ein charismatischer 38jähriger
Palästinenser, und das halbstündige Gespräch mit ihm erwies sich als
interessant, aufbauend, klärend und beunruhigend – in vielem stimme
ich zu, in vielem können wir das nicht: Aber wir reden miteinander, und Schritt
für Schritt bauen wir Brücken über die tosenden Wasser … voll Hoffnung.
Juni 2009
(dt. Gerhilde Merz) Quelle direkt von der Autorin an die
Übersetzerin