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Israelis sind krank und müde – doch von was?

 

Ran HaCohen, 7.8.11

 

Als bescheidener Verfasser von Leitartikeln steh ich vor einem Rätsel. Seit einem Jahrzehnt schreibe ich über israelische Realitäten  - doch finde ich das Schreiben immer schwieriger: nichts verändert sich. Wie oft kann man über etwas anderes  über immer dieselbe Sache schreiben? Die internationalen Medien andrerseits haben keine Schwierigkeiten, Seiten und TV-Schirme zu füllen, indem sie dieselbe Sache Jedes Mal von einer anderen Seite zeigen.

In diesen Tagen jedoch, in denen Israel sich wirklich ändert, wie es sich seit Jahrzehnten nicht verändert hat, verhalten sich die internationalen Medien sehr ruhig. Die israelischen Winde des Wandels bekommen etwas Aufmerksamkeit  im Guardian  z.B., aber kaum woanders. Kann jemand dieses Paradox erklären?

 

Arabischer Frühling – israelischer  Sommer

 

Erst vor wenigen Wochen schrieb ich, dass Israel weit hinter seinen Nachbarn zurück ist, konnte ich mir nicht vorstellen, dass dem arabischen Frühling dieser israelischer Sommer folgt. Dies ist nicht der Ort, um den intensivsten Protest in Israels Geschichte zu beschreiben. Es genügt zu sagen, was mit ein paar Zelten in  Tel Avivs Rothschild-Boulevard Mitte Juli begann, zählt jetzt Tausend Zelte in zwei Dutzend Städten.  Die erste Massendemo in Tel Aviv zählte 20 000 Leute; eine Woche später marschierten 80 000 in Tel Aviv und eine ähnliche Zahl in verschiedenen anderen Städten; und bei der 3. Samstagsdemo ( 6. 8.) gingen 300 000 Israelis auf die Straße. Was als Protest von Tel Aviver Studenten gegen unmöglich hohe Mietpreise begann, ist nun zu einem Protest vieler Gruppen und Berufe geworden: von Ärzten zu Lehrern bis Milchproduzenten und Taxifahrern, von allein erziehenden Müttern bis Motorradfahrern. Selbst die Ehepartner von Polizisten haben sich den Protesten angeschlossen, wie auch die Organisation von Soldaten im Ruhestand. Sie protestieren gegen alles: Die Preise von Mieten und Häusern, von Käse, Benzin, Versicherung, Kindergarten-Beiträge. Die Wirtschaft wird von einem Dutzend Magnaten gehalten, der unfairen Bürde von Steuern.

Es ist die israelische Mittelklasse, die auf die Straße geht, nicht die untere Schicht, die bei früheren Demos dabei waren. Die Mittelklasse sieht einen Rückgang seines Ranges um 20% zwischen 1988 und 2007, von denen viele in die Armut getrieben wurden. Die Demonstranten sind Juden, Araber und Gastarbeiter (aber vor allem Juden), Säkulare, Orthodoxe und Ultra-Orthodoxe ( aber die meisten säkulare). Sie sind jung und alt, aber vorherrschend jung 20-30 Jahre alt – Leute, die das erste Mal seit vielen Jahren den Terminus „Generation“ verdienen.

 

Gebrochene Versprechen

Was wollen sie? Die Demonstranten wollen keinen Frieden. Tatsächlich imitiert einer der üblichen Poster im Rothschild-Boulevard  in Schrift, Farbe und Design das Design von „Peace now“ und ersetzt die Worte mit  Wohlfahrtsstaat Jetzt“. Das ist es , was die Israelis auf die Straßen  bringt: die maßlosen Preise für Lebenskosten in Israel. Die durchschnittlichen Löhne sind niedriger als in Europa und in Nordamerika, die Preise aber oft höher.

Offensichtlich ist das Leben in Israel wirtschaftlich viel besser als in den benachbarten Staaten. Warum erwarten die Israelis mehr? Warum vergleichen sie sich mit Europa und Nordamerika und nicht mit Ägypten und der Türkei. Weil genau dies der israelische Staat uns empfohlen hat zu tun. Der israelische rechte Flügel ( nenn ihn Labor, Likud oder Kadima: sie sind alle gleich) hat Israels Mittelklasse davon überzeugt, dass der Frieden unnötig sei: wir können beides haben , die Besatzung und einen westlichen Lebensstandard. Als Beweis weisen sie auf Israels Mitgliedschaft in der OECD, den exklusiven Klub der reichsten Ökonomien der Welt oder auf Israels blühende High-Tech-Industrie.

Die Idee klingt perfekt: das Regime weiß, dass die israelische Mittelklasse sich weigern würde, für die Besatzung zu zahlen. Das Regime ist nicht bereit, die Besatzung aufzugeben, deshalb überzeugt es die Massen, dass die Besatzung keinen wirtschaftlichen Preis für sie hat. Wir brauchen keinen Frieden, wir können so weitermachen und haben ein gutes Leben. ( Und indem man Israelis davon überzeugt, dass die andere Seite gar keinen Frieden will, ist ein anderer Teil derselben Ideologie).

Aber um diese lebendig zu halten, müssen sie etwas liefern. Aber die israelischen Regierungen können nichts liefern. Die Mittelklasse hört die Versprechen über ein gutes Leben und liest Berichte von geringer werdender Arbeitslosigkeit und starkem Wachstum, aber sieht eine andere Realität: sie wird die ganze Zeit ärmer . Ich sehe dies rund um mich. Hart arbeitende Eltern können ihre Kinder nicht erziehen, geschweige denn eine Wohnung kaufen – geschweige denn ohne massive Hilfe von Seiten ihrer Eltern. „Großeltern sind  keine ATM“.( Geldautomaten) wie einige Demonstranten auf ihre Poster schrieben.

 

Ziele und

 

Die Wut der Demonstranten ist nicht speziell auf die Besatzung gerichtet. Einige der Demonstranten sind blind für die wirtschaftliche Bedeutung der Besatzung; einige von ihnen fürchten eine Aufsplitterung des Protestes, wenn dies in den Mittelpunkt gesetzt würde. Tatsächlich ist in meinen Augen die Besatzung Israels größte Sünde, doch nicht seine einzige. Die Demonstranten richten sich stillschweigend gegen die unerfüllten Versprechen eines guten Lebens. Ihr Protest richtet sich gegen die rückschrittliche Besteuerung und  sie richtet sich gegen die paar israelischen Magnaten, die wegen der wechselseitigen  Abhängigkeit zwischen Politik und dem großen Geld fast jeden Zweig der kleinen, isolierten israelischen Wirtschaft monopolisiert und machen das ganze Volk zu ihrem  unfreiwilligen Markt.

 

Es ist zu früh, um zu sagen wohin der Protest führen wird. Er hatte schon unglaublichen Erfolg indem er die öffentliche Agenda  und den öffentlichen Diskurs  in Israel mehrere Wochen lang veränderte. Netanyahu hat richtig gehandelt, als er weder Polizisten noch Soldaten sandte, um auf die Demonstranten zu schießen ( wie es Ehud Barak tat, als vor 11 Jahren  die israelischen Araber auf die Straße gingen) . Doch alles, was er anbietet, sind ein paar neoliberale Reformen, die er seit Jahren anzubieten versucht – mit anderen Worten, noch mehr von denselben Fehlern, die Israel ins gegenwärtige Dilemma brachten. Netanyahu glaubt noch immer, dass seine Regierung  in keiner Gefahr sei. Nun wo eine Viertel Million israelischer Bürger auf die Straßen gehen , sieht Netanyahu immer mehr wie Mubarak oder Assad aus. Tatsächlich hat der Protest  den Slogan übernommen: „Das Volk wünscht soziale Gerechtigkeit“ und singt dies genau auf dieselbe Melodie wie  der arabische Slogan: „Das Volk verlangt den Fall des Regimes“. Netanyahu kann dies nicht ignorieren, oder auch die Poster, die behaupten: „Ägypten ist hier.“

 

Man erinnere sich jedoch, dass Assad versuchte, die Grenze mit Israel aufzuwärmen, um seine Haut zu retten . Netanyahu und Barak möchten dasselbe tun. Im Rothschild-Boulevard geht ein Gerücht um, dass es im September einen Krieg gibt ( nach der Erklärung eines palästinensischen Staates), um vom internen Protest abzulenken. Wenn dies geschieht, wird die große Frage heißen: Wird die junge Generation ihre bunten Protestzelte in khakibraune  verkaufen?

 

(dt. Ellen Rohlfs)