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So kann es nicht weitergehen
Palästina braucht einen „gelenkten Zusammenbruch"
Jeff Halper, 18. Februar 2012
Während ich dies schreibe, sind die Bulldozer wieder geschäftig unterwegs in
diesem unteilbaren Land mit dem Doppelnamen Israel/Palästina. Schon werden
wieder palästinensische Häuser, Gemeindezentren, Stallungen und sonstige
„Baulichkeiten“ (wie die israelischen Behörden das wertfrei nennen) zerstört –
in Jerusalem, Silwan und verschiedenen Teilen des C-Gebiets im Westjordanland
wie auch bei den Beduinen – israelischen Staatsbürgern – in der Negev Wüste.
Aber das sind nur noch Aufräumarbeiten: die letzten Palästinenser werden in ihre
Gefängniszellen gescheucht. Dann wird man nichts mehr von ihnen oder über sie
hören, sie werden kein Problem mehr sein, nicht in Israel und mit der Zeit auch
nicht in der Welt, die mit wichtigeren und dringenderen Problemen befasst ist.
Die ZweiStaaten-Lösung ist tot
In einem bislang vertraulichen Bericht haben EU-Diplomaten in Jerusalem und
Ramallah ernsthafte Bedenken geäußert wegen der „zwangsweisen Vertreibung“ –im
Sprachgebrauch der EU-Diplomaten ein besonders starker Ausdruck - von
Palästinensern aus dem C-Gebiet. In dem C-Gebiet, das unter alleiniger
israelischer Kontrolle steht und 60 % der Westbank umfasst, leben mittlerweile
weniger als 5 % der palästinensischen Bevölkerung. Der Bericht konzentriert sich
auf die wachsende Zahl von Hauszerstörungen durch die israelischen Behörden in
diesem Gebiet und die wachsende wirtschaftliche Not der dort lebenden
Palästinenser. Er erwähnt das fruchtbare und strategisch wichtige Jordantal, wo
die palästinensische Bevölkerung seit Beginn der Besatzung von 250.000 auf
50.000 gesunken ist. Der Bericht geht auch auf die Pläne zur Umsiedlung der
3.000 Dschahalin-Beduinen auf einen kahlen Hügel oberhalb der Müllkippe von
Jerusalem ein und kritisiert die weiter mit Tempo vorangetriebenen
Hauszerstörungen, 500 im Jahr 2011.
Gleichzeitig geht die „Judaisierung“ von Jerusalem munter weiter, die Entstehung
eines israelischen Groß-Jerusalems, das die palästinensischen Viertel der Stadt
vom Rest der palästinensischen Gesellschaft isoliert. Die Bewohner werden
gettoisiert, mehr als 100.000 leben jetzt jenseits der Mauer. Im Jahr 2011
wurden in Ostjerusalem 120 Häuser zerstört. Zur gleichen Zeit kündigte die
israelische Regierung den Bau von fast 7.000 Wohnungen für Juden in
Ost-Jerusalem und seinem Umland an. „Sollte der gegenwärtige Trend nicht
gestoppt und umgekehrt werden“, hieß es in einem früheren EU-Bericht, „rückt die
Errichtung eines lebensfähigen palästinensischen Staates innerhalb der Grenzen
von 1967 in immer weitere Ferne. Das Zeitfenster für eine Zwei-Staaten-Lösung
schließt sich rapide…“
Tatsächlich hat es sich längst geschlossen. Was Siedler und Palästinenser
anlangt, behandelt die israelische Regierung ganz Israel/Palästina als ein Land.
Voriges Jahr wurden dreimal so viele Häuser in Israel – natürlich waren die
Besitzer Palästinenser – abgerissen wie im besetzten Palästina. Die Zerstörung
von Beduinen-Siedlungen in der Negev ist Teil eines von der Regierung
genehmigten Plans, 30.000 Staatsbürger aus ihren Häusern zu vertreiben und
zwangsweise in Neubau-Städten anzusiedeln.
Normale Israelis kümmert das alles nicht, auch wenn sie davon gehört haben. Die
Medien berichten ja wenig darüber. Für diese Israelis hat der
israelisch-arabische Konflikt vor Jahren siegreich geendet. Das war wohl 2004,
als der amerikanische Präsident Bush den israelischen Ministerpräsidenten Sharon
wissen ließ, die USA verlangten von Israel nicht, dass es sich hinter die
Grenzen von 1967 zurückziehe. Damit war die „ZweiStaaten-Lösung“ faktisch tot
und Arafat starb aus ungeklärten Gründen.
Die Lage hat sich normalisiert
Seitdem hat sich trotz gelegentlicher Proteste vonseiten Europas die Lage
normalisiert. Israelis genießen Ruhe und Frieden und einen Wirtschaftsboom (mit
den üblichen Verteilungsproblemen). Die unerschütterliche, von beiden großen
Parteien getragene Unterstützung der amerikanischen Regierung und des Kongresses
schützt Israel vor jedweder Art internationaler Sanktionen. Vor allem vertrauen
israelische Juden darauf, dass diese nervtötenden Araber, die dort irgendwo
jenseits von Mauern und Stacheldrahtverhauen leben, von der israelischen Armee
befriedet und unter Kontrolle gebracht worden sind. Laut einer jüngeren
Meinungsumfrage rangierte „Sicherheit“, der Terminus, den Israelis statt
„Besatzung“ oder „Frieden“ benutzen, erst an elfter Stelle israelischer
Anliegen, weit hinter Beschäftigung, Kriminalität, religiös-säkularen
Streitigkeiten, Wohnungsproblemen und anderen, dringenderen Sorgen.
Was geschieht auf internationaler Ebene?
Auf internationaler Ebene hüllt sich das Quartett, in dem USA, EU, Russland und
UNO sich mit dem nicht vorhandenen Friedensprozess befassen, inzwischen völlig
in Schweigen. Israel hat es unterlassen, seine Positionen zu Grenzen und anderen
Hauptproblemen zum vom Quartett bestimmten Termin auf den Verhandlungstisch zu
legen, und Termine für weitere Treffen gibt es nicht. Die USA haben jeden
Anspruch als ehrlicher Makler aufgegeben, Schon als vor ein paar Monaten die
endlose amerikanische Wahl-Saison begann, bekam Israel sowohl von den Demokraten
wie von den Republikanern grünes Licht, in den besetzten Gebieten alles aus
seiner Sicht Notwendige zu tun. Im Mai letzten Jahres luden die Republikaner
Netanjahu ein, vor dem Kongress zu sprechen und Obama die klare Botschaft zu
schicken: lass die Finger von Israel.
In derselben Woche sprach Obama, der sich nicht ausstechen lassen wollte, auf
einer Tagung des AIPAC und wiederholte das Versprechen seines Vorgängers Bush,
Israel brauche sich nicht hinter die Grenzen von 1967 zurückzuziehen oder seine
wichtigsten Siedlungsblöcke in Ost-Jerusalem und der Westbank aufzugeben.
Obama versprach bei dieser Gelegenheit ein amerikanisches Veto für den Fall,
dass die Palästinenser die Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen beantragen
sollten – auch wenn ein Ja dazu doch nur die offizielle Zustimmung zu dem Zwei
Staaten-Abkommen bedeutet hätte, das die USA angeblich seit Jahren gefördert
hatten. Nein, für Israel und die israelischen Juden ist der Konflikt beendet –
und man muss auch nicht so tun als ob. Alles was noch zu tun bleibt, ist die
Aufmerksamkeit auf dringendere Weltprobleme zu lenken, damit die Palästina-Frage
völlig verschwindet. Zum Beispiel auf Iran.
Was tut die palästinensische Zivilbehörde?
Aber halt: wie steht es denn mit der
demografischen Bedrohung und dem Geburtenkrieg, der irgendwann eine Lösung
erzwingen soll? Nun – solange Israel die Palästinensische Autonomiebehörde in
der Tasche hat, die die Segregation ihres eigenen Volkes betreibt, so lange hat
Israel nichts zu befürchten. Während die PA das „ZweiStaaten-Spiel“ spielt, kann
Israel die Palästinenser einfach in die 70 winzigen Inseln der A- und B-Gebiete
einpferchen, die Gitter schließen und es der internationalen Gemeinschaft
überlassen, sie zu versorgen. Und kann derweil in Ruhe weiter an seinem
Groß-Israel bauen, mit Amerika und Europa als Komplizen.
Tatsächlich zeigt nichts die Selbst-Segregation der Palästinenser so deutlich
wie der neo-liberale Plan von Premierminister Salem Fayyad, ein
palästinensisches „Etwas“ von unten nach oben zu errichten. Da werden für die
Wohlhabenden Neubau-Städte wie etwa Rawabi im sicheren A-Gebiet gebaut oder mit
Unterstützung von USAID, der staatlichen amerikanischen Entwicklungshilfe, und
der Japaner neue Autobahnen, die das israelische „Groß-Jerusalem“ umgehen und
den palästinensischen Autoverkehr von Ramallah nach Bethlehem über das weit
abgelegene Jericho lenken. Oder man erklärt sich bereit, Israels
Gebietserweiterungen hinzunehmen im Austausch gegen die Möglichkeit, „Business
zu machen“. Fayyad hat noch eine neue Form neo-liberaler freiwilliger
Unterwerfung erfunden: die zukunftsfähige Apartheit – zukunftsfähig wenigstens
für die palästinensische Business-Klasse. Ähnlich wie in den Bantustans der
südafrikanischen Apartheit setzt die Palästinensische Behörde mit ihrer von
Amerika ausgebildeten und von Israel zugelassenen Miliz im Innern eine
Zwangsordnung durch, sozusagen eine zweite Besatzungsschicht. Während des
Gaza-Angriffs 2008/2009 gehörte das Westjordanland zu den wenigen Orten
weltweit, wo keine Demonstrationen stattfanden - die PA hatte es verboten. Der
damalige Israelische Premierminister Olmert erklärte triumphierend, dies sei ein
Beweis für die gelungene Befriedung der Palästinenser.
Indem die palästinensische Führung sich an die Zwei Staaten-Lösung klammert und
weiter an Verhandlungen teilnimmt, die sich schon seit Jahren als Falle erwiesen
haben, spielt sie in der Tat eine entscheidende Rolle bei der Lagerhaltung ihrer
eigenen Bevölkerung. Die Realität, ja sogar die Existenz der Besatzung
verschwindet unter den Streitigkeiten, die der verlogene, endlose
Friedensprozess mit sich bringt. Nur deshalb kann Israel nicht nur die
Palästinenser in winzige Zellen einsperren – Beweis dafür die auch heute wieder
durchgeführte kleine ethnische Säuberung, einfach eines von tausenden von
Mini-Ereignissen, die kumulativ Zwangsumsiedlung, Vertreibung, Segregation und
Einkerkerung bewirken. Noch dazu kann Israel den Opfern die Schuld für ihre
eigene Unterdrückung anhängen. Wenn eine palästinensische Führung die Autorität
für sich in Anspruch nimmt, eine politische Lösung auszuhandeln, dabei aber
weder die notwendige Autorität noch das Gewicht dazu besitzt, und wenn sie es
dazu am Ende noch versäumt, Verhandlungen aufzukündigen, selbst wenn sie sich
als Falle erwiesen haben – dann gerät diese Führung in gefährliche Nähe zur
Kollaboration. Israel seinerseits ist aus dem Schneider. Ein ApartheidsRegime? –
den Vorwurf will man sich nicht machen lassen. Man nutzt einfach die
Bereitschaft der PA aus, die Illusion von Verhandlungen fortzuführen, um
darunter die faktische Einsperrung der palästinensischen Gefängnisinsassen zu
verbergen. Wenn die laufenden Aufräumarbeiten erst einmal beendet sind, wird die
Einkerkerung komplett sein.
Welche Alternativen gibt es?
Heute ist die einzige Alternative zur Palästinensischen Autonomiebehörde die
internationale Zivilgesellschaft. Die arabischen und muslimischen Länder, für
die die Befreiung Palästinas zum arabischen Frühling gehört, stehen Seite an
Seite mit Tausenden von Menschenrechtsgruppen, kritischen Aktivisten, Kirchen,
Gewerkschaften und Intellektuellen in aller Welt. Die Unterstützung der
Zivilgesellschaft wird entscheidend dafür sein, die Palästina-Frage am Leben zu
erhalten und ihr die Graswurzelunterstützung zu sichern, die sich allmählich
ausbreiten und die Politik der Regierungen beeinflussen wird.
Auch wir stecken in der Einbahnstraße fest, die aus ZweiStaaten-Lösung, Berufung
auf einen Friedensprozess und damit zusammenhängende Verhandlungen besteht. In
dem gegenwärtigen Dilemma gibt es keinen Weg nach vorn. Wir müssen ausbrechen in
eine unbekannte Welt neuer Möglichkeiten, die von den gegenwärtigen Optionen
versperrt sind: von ZweiStaaten-Regime oder Lagerhaltung.
Fürsprache und Mobilisierung von unten bleiben wichtig, aber vor uns sehe ich
wichtige Aufgaben.
Als erstes müssen wir uns bemühen, das Ende des gegenwärtigen Systems zu
beschleunigen. Wenn dann neue Lösungsansätze zu wirklicher Gerechtigkeit aus dem
Chaos auftauchen, müssen wir bereit stehen, eine gänzlich andere Lösung
voranzubringen, als sie gegenwärtig möglich oder vorstellbar ist.
Das mag ein einziger demokratischer Staat für ganz Palästina sein, oder ein
bi-nationaler Staat, ein regionaler Zusammenschluss oder eine andere, noch zu
definierende Alternative.
Die Palästinenser selber müssen eine echte, umfassende eigene Vertretung
schaffen, die nach dem Kollaps die Dinge effektiv in die Hand nimmt. Wenn diese
Vertretung ein klares Programm und eine eindeutige Strategie formuliert, kann
sie die Palästinenser mithilfe von Aktivisten und Unterstützern in aller Welt
zur Befreiung und zu einem gerechten Frieden führen.
Hören wir auf, von der ZweiStaaten-Lösung zu reden
Ein notwendiger und dringender erster Schritt, um das ansonsten permanente
Unterdrückungssystem in Israel/Palästina zu Fall zu bringen, besteht darin, dass
wir aufhören, von einer ZweiStaaten-Lösung zu reden. Sie ist als politische
Option tot und begraben, falls sie überhaupt jemals existiert hat. Wir sollten
den Ausdruck aus unserem Wortschatz streichen, denn die Erwähnung einer nicht
existierenden Lösung schafft nur Verwirrung. Zugegeben, dass das den Linken
schwerfallen wird – alle anderen haben es bereits aufgegeben.
Der Mehrzahl der Palästinenser, die die ZweiStaaten-Lösung einmal befürwortet
haben, wird jetzt klar, dass Israel sich einfach nicht an einen Punkt
zurückziehen wird, von dem aus ein wirklich lebensfähiger souveräner Staat
entstehen kann. Mit der Rückendeckung der Bush-Obama-Politik in der Frage der
Siedlungsblöcke erweckt die israelische Regierung nicht einmal mehr den
Anschein, als verfolge sie sie, und die israelische Öffentlichkeit kann mit dem
Status quo gut leben. Und über die permanente Lagerhaltung der Palästinenser
regen sich weder amerikanische oder europäischen Regierungen, noch die Arabische
Liga auf. Sogar AIPAC konzentriert sich inzwischen auf die iranische Bedrohung.
Hinter der Hartnäckigkeit, mit der die linken Zionisten von J-Street, Peace Now
und das Forum der Friedensgruppen aus dem Peres-Zentrum auf einer
ZweiStaaten-Lösung bestehen, steckt eine kaum verborgene Absicht. Sie wollen
Israel als jüdischen Staat bewahren, auch wenn das die zwangsweise
institutionelle Diskriminierung gegenüber Israels eigenen palästinensischen
Staatsbürgern kostet. Eine jüdische Demokratie bedeutet in Wirklichkeit, dass
man mit Apartheid und Lagerhaltung lebt, während man dagegen protestiert. In der
Tat, die Linken werden sich am schwersten von der ZweiStaaten-Falle entwöhnen
lassen. Doch wenn sie sich nicht davon verabschieden, laufen sie Gefahr, ihren
schlimmsten Lager-Albtraum wahr zu machen, und stellen gleichzeitig das
Feigenblatt der Legitimität bereit, mit dem Israels extreme Rechte ihre Politik
bedeckt – alles im Namen des „Friedens“.
So etwas passiert, wenn Ideologie einen unfähig macht, Böses zu erkennen oder
zwar unangenehme, aber notwendige Konsequenzen zu ziehen. Wenn aus Wunschdenken
Politik wird, zerstört es nicht nur die Fähigkeit zu politischem Handeln. Es
führt zu politischen Positionen und Allianzen, die am Ende den eigenen Zielen
und Werten zuwider laufen.
Wenn man alles Gerede von einer „Zwei Staaten-Lösung“ über Bord wirft, beseitigt
man das größte Hindernis für eine klare Analyse und Schritte nach vorn.
Das System zu Fall bringen
Wenn erst das Lügengespinst mit Namen „Zwei Staaten-Lösung“ aus dem Weg geräumt
ist, wird dreierlei klar zu Tage treten: nackte Besatzung, ein Apartheid-Regime,
das sich auf das gesamte historische Palästina/Israel erstreckt, und das
Gespenst der Lagerhaltung. Da keine dieser Unterdrückungsformen jemals zu
rechtfertigen ist oder zu etwas Gerechtem gemacht werden kann, liegt unsere
Aufgabe klar vor uns: wir müssen den Kollaps des Systems mit allen
erforderlichen Mitteln herbeiführen.
Das kann auf verschiedene Art und Weise geschehen, wie der südafrikanische ANC
einst bewiesen hat. Palästinensische, israelische und internationale Aktivisten
betreiben bereits Widerstand im Innern, gemeinsam mit internationalem Eintreten
gegen die Besatzung etwa durch Gaza-Flottillen und Versuchen, die israelischen
Grenzen zu überwinden. In aller Welt machen Vertreter der Zivilgesellschaft
mobil, mit Kampagnen wie Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS), andere
mit direkten Aktionen, und noch andere durch Lobby-Arbeit bei den Regierungen
und den Vereinten Nationen und mit Hilfe des UN-Rates für Menschenrechte, beim
Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) und den
internationalen Gerichten. Es gibt Kampagnen zur erneuten Einberufung des
Gerichtshofs, der unter Berufung auf die vierte Genfer Konvention berechtigt und
verpflichtet ist, Israel wegen seiner groben Rechtsverstöße zu verurteilen.
Zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen gehen an die Öffentlichkeit, organisieren
Apartheidswochen und Medienkampagnen. Und vieles mehr.
Die Rolle der palästinensischen Zivilgesellschaft
Hier muss die palästinensische Zivilgesellschaft eine entscheidende Rolle
spielen, eine Rolle, die Nicht-Palästinenser nicht übernehmen können. Wenn wir
uns einig sind, dass die Palästinensische Autonomiebehörde verschwinden muss,
damit wir aus der ZweiStaaten-Falle heraus kommen – da die Abschaffung der PA ja
tatsächlich ein Hauptschritt zum Zusammenbruch des gegenwärtigen Systems
darstellt – dann muss der Ruf danach aus der Mitte der palästinensischen
Gesellschaft kommen. Nicht-Palästinenser müssen sich natürlich anschließen, aber
die Entscheidung darüber, wer die Palästinenser vertreten soll, ist
ausschließlich ihre Angelegenheit.
Nicht-Palästinenser können Lösungsvorschläge machen. Ich habe zum Beispiel eine
Nahost-Wirtschaftskonföderation ins Gespräch gebracht, weil ich glaube, dass ein
regionales Konzept zur Behandlung der Kernprobleme notwendig ist. Die
palästinensische Organisation PASSIA (Palestinian Academic Society for the Study
of International Affairs, Jerusalem) hat eine Sammlung von zwölf möglichen
Ergebnis-Szenarien veröffentlicht.
Ganz offensichtlich ist es das alleinige Vorrecht des palästinensischen Volkes
zu entscheiden, welche Lösung oder welche Lösungsansätze in Frage kommen. Dafür
und um sich zur Erreichung eines erwünschten Ergebnisses effektiv zu
organisieren, brauchen die Palästinenser eine wirklich repräsentative
Vertretung, die die PA ersetzt und der Zivilgesellschaft Führung und Richtung
auf breiter Basis bietet. Sie muss zur Aushandlung einer Lösung bevollmächtigt
sein und wirklich in der Lage, den Weg zu einem gerechten Frieden zu
beschreiten.
Zurzeit gibt es wohl nur eine Institution, die eine solche Legitimität und ein
solches Mandat besitzt: den Palästinensischen Nationalrat (PNC) der
Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, auch wenn Hamas und andere
islamische Parteien (noch) nicht dazu gehören. Eine Neuformierung des PNC durch
Wahlen wäre wohl heute die dringendste Aufgabe der Palästinenser. Solange sie
fehlt, gibt es keine effektive Vertretung, und wir bleiben in Nachhutgefechten
und -protesten stecken, während Israel die Oberhand behält. Gegenwärtig tappen
wir in einer Grauzone: wir arbeiten für den Zusammenbruch des existierenden
Unterdrückungssystems und sind auf der Suche nach einer handlungsfähigen
palästinensischen Vertretung, die uns tatsächlich zu einer gerechten Lösung
führen kann. Das ist eine höchst gefährliche Situation. Die Grauzone des einen
ist ein offenes Fenster für einen anderen. Man kann über Israel sagen, was man
will – es weiß, wie man Druck macht und auch noch die kleinste Chance ausnutzt,
um seine Kontrolle auf Dauer niet- und nagelfest zu machen.
Wie könnte ein „gelenkter Kollaps“ aussehen?
„Gelenkter Kollaps“ – das möchte ich als neues Ziel vorschlagen für unsere
Bemühungen, den Stillstand im politischen Prozess zu überwinden. Die
Wiederbelebung des PNC oder die Schaffung einer anderen Vertretungsstruktur ist
eine gewaltige, aber wirklich dringende Aufgabe. Bis es dazu kommt, könnte die
palästinensische Zivilgesellschaft soweit zusammenfinden, dass sie eine Art
vorläufiges Führungsbüro einrichtet. Schon das ist wohl eine gewaltige Aufgabe.
Die meisten palästinensischen Führer wurden entweder von Israel umgebracht oder
schmachten in israelischen Gefängnissen, während die palästinensische
Zivilgesellschaft in kleinste isolierte und oftmals antagonistische Stücke
zerschlagen wurde.
Zwischen den Palästinensern von „48“ und „67“wurde Zwietracht gesät; Gaza,
Jerusalem und Westbank wurden auseinandergerissen. Und innerhalb der Westbank
verhindern Vorschriften jede Bewegungsfreiheit durch ein verwirrendes System von
Zonen – A, B, C, C eingeschränkt, H-1, H-2,- Naturschutzgebieten und
militärischen Sperrzonen. Die Folge sind eine Reihe von weitgehend isolierten
palästinensischen Mini-Gesellschaften. Politische Differenzen, besonders
säkulare gegen traditionelle und islamische Faktionen, wurden gefördert, nicht
zuletzt von Israel.
Die von jahrelangen Opfern und Widerstand erschöpfte, verarmte und mit bloßem
Überleben beschäftigte palästinensische Bevölkerung erscheint heute weitgehend
führungslos, da viele ihrer gebildetsten und fähigsten möglichen Führer das Land
verlassen haben und von Israel an der Rückkehr gehindert werden.
Ihrerseits hat die palästinensische Führung wenig getan, um die Kluft zu
überbrücken zwischen denen, die der Palästinensischen Autonomiebehörde
unterstehen, denen, die mit israelischem Pass in Israel leben, den Bewohnern der
Flüchtlingslager und den in der weltweiten Diaspora lebenden Palästinensern.
Diese Kluft hat sich vertieft, seit PLO und Palästinensischer Nationalrat (PNC)
in Totenstarre versunken sind. Teile der palästinensischen Diaspora, haben sich
ganz vom nationalen Befreiungskampf losgesagt, zum Beispiel die bedeutenden und
prosperierenden palästinensischen Gemeinden in Latein-Amerika, aber nicht nur
diese. Die Palästinenser besitzen ein paar exzellente Sprecher und Aktivisten,
aber das sind im wesentlichen Einzelkämpfer, die nur lose mit
Graswurzelorganisationen verbunden sind. Oder es sind Basis-Widerstandsgruppen,
wie beispielsweise die Volkskomitees, denen politische Unterstützung oder
strategische Orientierung fehlt.
Der Befreiungskampf muss von den Palästinensern selbst geführt werden. Unsere
gemeinsame Aufgabe sehe ich gegenwärtig darin, den Kollaps der unhaltbaren
aktuellen Situation herbeizuführen. Die Entmachtung der Palästinensischen
Autonomiebehörde ist ein Mittel, diesen Kollaps zu beschleunigen. Er würde
Israel wahrscheinlich dazu zwingen, die palästinensischen Städte und wohl auch
Gaza wieder zu besetzen - als wenn sie jemals nicht besetzt gewesen wären. Damit
würde die krasse Realität der Besatzung wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit
gerückt. Eine derartige Entwicklung würde wahrscheinlich die öffentliche Meinung
in arabischen und muslimischen Ländern in Brand setzen, um vom Rest der Welt
einmal abzusehen. Damit entstünde eine unhaltbare Situation, die die
internationale Gemeinschaft zum Handeln zwingen würde. Israel befände sich in
einer nicht zu rechtfertigenden Position. Dadurch würde der Weg frei für neue
Post-Kollaps-Möglichkeiten – dann mit einer handlungsfähigen repräsentativen
palästinensischen Machtstruktur an Ort und Stelle und einer weltweiten Bewegung,
die nur darauf wartet, sich ihr anzuschließen.
Erneute Besetzung, Krieg gegen Iran und der gelenkte Kollaps
Tatsächlich sind die Besatzung und das Unterdrückungssystem im historischen
Palästina jetzt schon unhaltbar – die massiven Menschen- und
Völkerrechtsverstöße ebenso wie die offensichtliche Brutalität des Konflikts und
seine Wirkung als Störfaktor in den internationalen Beziehungen. So gesehen
könnte der Zusammenbruch aus verschiedenen Richtungen kommen, unverhofft und
sogar ohne direkten Bezug zu Israel/Palästina.
Ein Angriff gegen Iran könnte die Karten im Nahen Osten neu mischen, der
Arabische Frühling entwickelt sich weiter. Erhebliche Störungen der Ölversorgung
des Westens wegen eines Angriffs gegen Iran, Veränderungen im inneren
Machtgefüge Saudi-Arabiens und der Golfstaaten, Unsicherheit in Russland und
sogar der Umstand, dass China über kein eigenes Öl verfügt – das alles könnte
weltweit ernsthafte Finanzkrisen auslösen. Spannungen zwischen China und den
USA, Umweltkatastrophen oder die Gefahr, dass Pakistans Atomwaffen den Taliban
in die Hände fallen, mit unvorhersehbaren Reaktionen Indiens – all dies könnte
indirekt eine starke Rolle spielen. Wer weiß?
Was immer den Kollaps herbeiführt – und wir müssen dabei aktiv mitwirken – wir
müssen uns bereithalten, den historischen Augenblick zu nutzen. Vielleicht kommt
er schneller als erwartet. Entscheidend wird eine handlungsfähige repräsentative
Führung durch die Palästinenser sein. Palästina braucht einen gelenkten
Zusammenbruch, denn so kann es nicht weitergehen.
Jeff Halper ist Direktor des Israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen
(ICAHD).
Aus dem
Englischen übersetzt und mit Zwischenüberschriften versehen von
Ulrike Vestring (ulrike@vesting.net)