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Wo ist die Scheinheiligkeit hingegangen?

 

Amira Hass, Haaretz, 15.9.2010

 

In den späten 70ern oder den frühen 80er Jahren sprach Asa Kasher bei einer Konferenz über den Unterschied von Labor-Regierungen und Likud-Regierungen. Die Labor-Regierungen wären scheinheilig; und da gäbe es etwas Positives über Scheinheiligkeit, sagte Kasher. Der Scheinheilige wüsste wenigstens, dass es ein  verpflichtendes Wertesystem  gebe, und dass er nicht danach  handle. Eine Folge davon sei, er verberge seine Handlungen.

 

Nach Kashers Kommentaren  verstand man, dass die Labor-Regierungen  wussten, dass die Herrschaft über ein anderes Volk gegen dessen Willen, unzulässig ist. Der Likud, so sagte Kasher zu jener Zeit – wenn man das sich nach 30 Jahren  noch erinnern kann, hat sich überhaupt nicht an solche Werte gebunden gefühlt. Das Unzulässige wurde legitim.

Nach diesem Maßstab ist Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ein Laborite geworden, der nun das Spiel des Scheinheiligen spielt, wogegen der Außenminister Avigdor Lieberman – nach der Definition von Kasher -  die 2010-Version eines Likudnik geworden ist. Lieberman it einer, der gerade herausredet, während sein Ministerpräsidenten verschleiert und verdunkelt, um es für die amerikanischen Verbündeten leicht zu machen, einen Fortschritt vorzutäuschen, während wir uns im Reich des Déjà vu  befinden.

 

Der nicht scheinheilige Liebermann  weiß, worüber er spricht, wenn er sagt, es wird kein Friedensabkommen unterzeichnet werden, auch nicht in der nächsten Generation. Ein Friedensabkommen ist kein Geschäftsvertrag. Er fordert eine Veränderung der Werte in einer Art, wie es sie  innerhalb des Wortschatzes des  demokratisch jüdischen Staates nicht gibt, der das System der Doppelmoral  auf eine Ebene der Virtuosität hebt. Die Menschen dieses Staates sind unfähig, sich vorzustellen, sich von den Privilegien, die dieses System verleiht zu trennen. Und wen kümmert das schon , wenn die andere Seite dieses Privilegs Enteignung, Unterdrückung der Freiheiten und das Risiko  eines regionaler Großbrandes ist.

 

Vorgestern morgen wurde der Wissenschafts –und Technikminister Daniel Hershkowitz vom Armeeradio interviewt; er behauptete, es sei unmöglich, mit dem Baustop in den Westbanksiedlungen fortzufahren, während  die Palästinenser immer weiterbauen würden.

 

Man kann von einem Interviewer im Armee- oder Israelradio nicht erwarten, dass er überrascht ist und nachfragt z.B.: Da das Prinzip der Gleichheit für die Siedlerlobby plötzlich so wichtig ist, warum können dann Bewohner von Nablus oder Ost-Jerusalem nicht ein Hausprojekt in Haifa haben oder in Ashkalon leben oder in einer Panoramagegend in Galiläa, während es Bewohnern von Haifa und  dem Kibbuz Hazorea erlaubt ist, an Nablusberghängen oder in Ost-Jerusalems palästinensischem Vorort Silwan zu bauen?

 

Aber der Interviewer korrigierte nicht einmal die Verdrehung der Fakten und sagte den Radiozuhörern nicht, dass die Palästinenser gar nicht nach Belieben bauen dürfen. In den 62 Prozent der Westbank unter voller israelischer Kontrolle – als Zone C bekannt – hat Israel den palästinensischen Hausbau seit  vier Jahrzehnten eingefroren.

 

Vermutlich ist sich der Interviewer trotz zahlreicher Berichte nicht des Baustopps jenseits der Siedlungen bewusst, nämlich dem, was den Palästinensern zugewiesen wird. Natürliches Wachstum gilt nur für Juden. In der Zone C sind Schulen, Kindergärten und Wasser nur für Juden. Die Quellen im Jordantal der Mekerot-Wassergesellschaft  versorgen die Siedlungen und ihre Obstbaumplantagen mit Mengen von Wasser. Das Wasser fließt vom palästinensischen Land und die Wasserleitungen sind eingezäunt. Das Land ist ausgetrocknet, weil es den Palästinensern verboten ist, ihr eigenes Wasser  aus den Leitungen zu entnehmen, da Israel ihnen eine Menge zuweist, die für menschliche Bedürfnisse längst nicht ausreicht. Im demokratisch jüdischen Staat innerhalb  seiner virtuellen Grenzen ist dies so klar, wie  dass die Sonne im Osten aufgeht.

 

Wenn der amerikanische Partner gewollt hätte, würde er gefordert haben, zu Beginn die Siedlungen zu räumen, nicht nur den Siedlungsbaustopp. Aber das durch die Mauer geraubte Land – Ariel, Givat Zeev, Maale Adumin, Efrat mit seiner engelsächsischen Eleganz und Ostjerusalem – sind alle innerhalb des Konsenses. Wessen Konsens? In dem der Bewohner des demokratisch-jüdischen Staates und der christlichen Fundamentalisten, natürlich.

 

Keiner denkt daran, nach dem Konsens  unter den Bewohnern der palästinensischen Städte und Dörfer zu fragen, auf deren Land die Siedlungen gebaut wurden. Die Millionen Palästinenser zählen nicht. Und hundert Tausende von Liebermans  - wenn nicht gar mehr - haben nicht das Gefühl scheinheilig zu sein.

 

(dt. Ellen Rohlfs)