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Warum kann man Ilan Pappes Buch
„Die ethnische Säuberung Palästinas“
nicht mehr kaufen?
Arn Strohmeyer
Es ist wohl eins der wichtigsten Bücher zum Verständnis des Nahostkonfliktes
überhaupt: das Werk des israelischen Historikers Ilan Pappe „Die ethnische
Säuberung Palästinas“, das in Deutschland im Jahr 2007 bei Zweitausendeins
erschienen ist. Der Autor dekonstruiert darin die israelischen Mythen, die die
zionistische Geschichtsschreibung über die Zeit von 1947 – 49 (den sogenannten
„Unabhängigkeitskrieg“) bis heute verbreitet. Zuvor hatte sein israelischer
Kollege Simcha Flapan mit seinem Buch „Die Geburt Israels“ diese Aufgabe schon
in Angriff genommen, die deutsche Ausgabe kam 2006 heraus. Flapan ist 1987
gestorben. Er hatte zwar auch schon wichtige und bisher unbekannte Fakten ans
Licht gebracht. Pappe hatte aber gegenüber seinem Vorgänger den Vorteil, dass
die Israelis inzwischen in den Militärarchiven Zugang zu wichtigen Dokumenten
gewährt hatten. Pappe schildert in seinem Werk das dunkle Kapitel der
gewaltsamen Eroberung und Machtergreifung der Zionisten in Palästina.
Noch während der britischen Mandatszeit – kurz nach dem Teilungsbeschluss der
UNO im November 1947 – hatten auf Geheiß der zionistischen Führung die Angriffe
gegen die palästinensische Zivilbevölkerung begonnen. Nennenswerten Widerstand
von dieser Seite gab es nicht. Die Bilanz dieser militärischen Aktionen der
Untergrundarmee Hagana sowie der Terrorgruppen Irgun und Stern-Gruppe war
furchtbar: 531 palästinensische Dörfer und elf Städte wurden zwangsgeräumt und
zum großen Teil zerstört, 800 000 Menschen wurden vertrieben. Es kam zu
Massakern, Plünderungen und Vergewaltigungen. Heute befinden sich an diesen
Orten der Verwüstung, um jede Erinnerung an sie auszumerzen, Wälder, Parks und
Freizeiteinrichtungen.
Das Erstaunliche an dieser ethnischen Säuberung, die die Palästinenser „Nakba“
(die „Katastrophe“) nennen, ist, dass es der zionistischen Bewegung gelang,
diese Verbrechen vor der Weltöffentlichkeit zu verbergen. Pappe schreibt über
diesen Vorgang: „Aber jenseits der Zahlen ist die tiefe Kluft zwischen Realität
und Darstellung das wirklich Bestürzende am Fall Palästina. Es ist tatsächlich
schwer zu verstehen und somit auch kaum zu erklären, wieso ein Verbrechen, das
in unserer Zeit und an einem kritischen Punkt der Geschichte begangen wurde, der
die Anwesenheit ausländischer Reporter und UNO-Beobachter verlangt hätte, so
vollständig ignoriert wurde. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass die
ethnische Säuberung von 1948 nahezu vollständig aus dem kollektiven globalen
Gedächtnis gelöscht und aus dem Bewusstsein der Welt getilgt wurde. Man stelle
sich einmal vor, dass in irgendeinem Land, das man kennt, die Hälfte der
gesamten Bevölkerung innerhalb eines Jahres zwangsweise vertrieben, die Hälfte
der Städte ausradiert und dem Erdboden gleichgemacht wurden. Man stelle sich
einmal vor, diese Taten würden niemals Eingang in die Geschichtsbücher finden
und sämtliche diplomatische Bemühungen um eine Lösung der Konflikte, die in
diesem Land ausbrächen, würden diese katastrophalen Ereignisse völlig außer Acht
lassen, wenn nicht gar ignorieren. Ich habe vergebens in der uns bekannten
Weltgeschichte nach einem solchen Fall und einem solchen Schicksal gesucht.“
Es ist zu vermuten, dass der Holocaust den Zionisten den politischen Kredit
verschafft hatte, dass die ethnische Säuberung Palästinas von der Welt
bereitwillig ignoriert, verleugnet und verdrängt wurde – ähnlich wie der Mord an
den europäischen Juden auch schon den Teilungsbeschluss der UNO 1947 möglich
gemacht hatte. Ohne den Mitleidsbonus der beteiligten Staaten hätte es ihn
vermutlich nicht gegeben. Wie Simcha Flapan hat auch Ilan Pappe immer betont,
dass die Darstellung der historischen Wahrheit dieser Ereignisse und damit auch
die Entmythologisierung der Mythen für ihn eine moralische Entscheidung sei, ein
erster Schritt, um die Spirale der Gewalt zu beenden und zu Versöhnung von
Israelis und Palästinensern beizutragen. Er schreibt: „Es ist die einfache, aber
entsetzliche Geschichte der ethnischen Säuberung Palästinas, eines Verbrechens
gegen die Menschlichkeit, das Israel leugnen und die Welt vergessen machen
wollte. Es ist unsere Pflicht, es aus der Vergessenheit zu holen, und zwar nicht
nur als längst überfällige historiographische Rekonstruktion oder professionelle
Aufgabe; meiner Ansicht nach ist es eine moralische Entscheidung, der allererste
Schritt, den wir tun müssen, wenn wir wollen, dass Versöhnung jemals eine Chance
haben und der Frieden in den zerrissenen Ländern Palästina und Israel Fuß fassen
sollen.“
Simcha Flapan hatte zuvor ähnlich argumentiert, warum die Mythen über das
zionistische Vorgehen gegen die Palästinenser entmythologisiert werden müssten:
„Es geht darum, die propagandistischen Denkstrukturen aufzulösen, die so lange
verhindert haben, dass in meinem Land die Kräfte des Friedens an Boden gewinnen
konnten. Die Aufgabe, die den Intellektuellen und den Freunden beider Völker
zufällt, besteht nicht darin, Ad-hoc-Lösungen anzubieten, sondern die Ursachen
des Konflikts in das Licht einer aufklärenden Analyse zu tauchen, in der
Hoffnung, dass man es auf diese Weise schafft, die Verzerrungen und Lügen, die
mittlerweile zu sakrosankten Mythen geronnen sind, aus der Welt zu schaffen.“
Und warnend fügt er hinzu: „Wenn die Klischees und falschen Mythen ihren Platz
im Denken behaupten, ist die Katastrophe unausweichlich.“
Mit anderen Worten: Versöhnung und
Frieden sind erst dann möglich, wenn die historische Wahrheit und die Leiden des
jeweils Anderen von beiden Seiten anerkannt werden.
Pappes Buch ist auch noch aus einem ganz anderen Grund hoch brisant, denn es
belegt ganz eindeutig, dass die Palästinenser nicht in einem „Krieg“ vertrieben
und um ihr Eigentum gebracht worden sind, wie die Zionisten behaupten. Das ist
wichtig für die Begründung von palästinensischen Entschädigungsfragen, die in
Zukunft anfallen werden. Die Zionisten (etwa Shimon Peres) argumentieren: Das
Schicksal der Juden während des Zweiten Weltkrieges und dasjenige der
Palästinenser in Palästina könnten in dieser Hinsicht nicht miteinander
verglichen werden, denn zwischen Juden und Arabern habe Krieg geherrscht,
während die Juden als Bürger in ihrem Land [von den Deutschen] beraubt worden
seien. Die Wahrheit ist: Die Palästinenser selbst haben keinen Krieg gegen die
Zionisten geführt, von unbedeutenden Scharmützeln kleiner Guerilla-Gruppen
abgesehen. Die Menschen wurden ab Februar 1948 aus ihren Städten und Dörfern
vertrieben, ihr Eigentum konfisziert – also schon
bevor
die arabischen Armeen im Mai 1948 (nach der israelischen Staatsgründung) in
Palästina einmarschierten. Diese Fakten sind für die Entschädigungs- und
Wiedergutmachungsforderungen der Palästinenser gegenüber Israel von großer
Bedeutung. Es geht dabei aber auch um das Recht auf Rückkehr der Palästinenser
in ihre Heimat.
Die Israelis hatten in ihrer großen Mehrheit wenig Verständnis für Pappes
Enthüllungen. Sie glauben offenbar immer noch zur Beruhigung ihres Gewissens an
die zionistische Darstellung der Ereignisse, dass die Palästinenser auf
Anweisung der arabische Führer freiwillig ihre Heimat verlassen hätten. Pappe
geriet in Israel wegen seiner Veröffentlichungen immer mehr in die Kritik und
wurde regelrecht gemobbt, auch von seinen Universitätskollegen. Diese Vorgänge
hat er in dem Buch „Wissenschaft als Herrschaftsdienst. Der Kampf um die
akademische Freiheit in Israel“ ( Laika-Verlag Hamburg 2011) ausführlich
beschrieben. Pappe konnte seine Lehrtätigkeit an der Universität von Haifa nicht
mehr fortsetzen. Er verließ Israel und lehrt jetzt am Institut für Arabische und
Islamische Studien an der Universität von Exeter (England).
Doch wer heute Interesse an Pappes wegweisendem Buch „Die ethnische Säuberung
Palästinas“ hat, der wird enttäuscht. Das Buch ist in Deutschland nicht mehr zu
haben, was mit Sicherheit nicht an mangelnder Nachfrage liegt. Hat es Druck von
„bestimmter Seite“ gegeben, das Buch aus dem Verkehr zu ziehen? Angesichts der
diffamierenden Kampagnen, die Israel-Freunde und Vertreter der jüdischen
Gemeinden gegen die überall in Deutschland gezeigte Nakba-Ausstellung führen,
liegt der Verdacht durchaus nahe: Auch nach über 60 Jahren soll über die
Geschehnisse im Palästina von 1948 der Mantel des Schweigens gehüllt werden,
denn die Kenntnis der Wahrheit würde das Israel-Bild der Deutschen erheblich
verändern.
Die Sache ist also ziemlich vertrackt. Bittet man der Verlag Zweitausendeins um
Auskunft, kommen gar keine oder nichtssagende Antworten: Man könne nicht sagen,
ob das Buch demnächst in diesem Verlag wieder erscheinen werde oder nicht. Der
Nachfragende wird darauf verwiesen, immer mal wieder auf der Internet-Seite des
Verlages nachzuschauen, ob das Buch da angeboten wird. Es scheint aber so zu
sein, dass Zweitausendeins die Lizenz für die deutsche Ausgabe des Buches
verlängert hat, also weiterhin in deren Besitz ist. Eine Nachfrage beim
englischen Verlag Oneworld Publications in Oxford, der die ursprünglichen Rechte
für das Buch besitzt und sie für Deutschland an Zweitausendeins verkauft hat,
bestätigt die Vermutung, dass dieser Verlag offenbar das Buch nicht wieder
auflegen will. In der Antwort von Oneworld Publications an der Verfasser heißt
es: „Die ursprünglichen Verleger der deutschen Ausgabe machen gerade
strukturelle Veränderungen durch (they are undergoing structural changes,
gemeint ist wohl ein Umbau des Unternehmens). Sie halten ihre Zusage aufrecht,
das Buch wieder herauszugeben. Das ist aber bisher nicht geschehen, Wir tun
alles, was wir können, die Rechte für das Buch zurückzubekommen, um einen neuen
Verleger zu finden.“
Ilan Pappe selbst bestätigt diese Angaben. Er schrieb an der Verfasser: „Ich
arbeite mit meinem Verleger in England intensiv daran, dieses Rätsel (conundrum)
zu lösen, denn er besitzt die Rechte für das Buch. Gegebenenfalls sorgen wir
dafür, dass die deutsche Ausgabe in voller Länge im Internet verfügbar sein
wird. Wir werden Sie über die weitere Entwicklung informieren.“ Soweit der
letzte Stand in dieser mysteriösen Angelegenheit um ein Buch, an dessen
Nichtweitererscheinen es vermutlich von gewisser Seite großes Interesse gibt.