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 Israel gegen die Juden

Pierre Stambul, Paris, 

 

Es ist ein abgenützter Refrain. Man kritisiert Israel und den Zionismus? Dann bist du ein Antisemit! Ein französischer Jude möchte in der Lage sein, sein Judentum ganz zu leben? Er wird eingeladen „Aliyah“ zu machen und sich daran zu beteiligen, Palästina zu kolonisieren. Dies wurde uns eingebläut, dass die Geschichte des Judentums zu einem Ende gebracht wurde und dass Israel sein Endpunkt sei.  Israel funktioniert als ein Radierer,  der die jüdische Geschichte ausradiert, auch das Gedächtnis, Sprachen und Traditionen und die jüdischen Identitäten. Israelische Politik ist nicht nur kriminell gegenüber dem palästinensischen Volk. Es behauptet, der Erbe der jüdischen Geschichte zu sein, als es diese Geschichte falsch dargestellt und  betrogen hat. Israel bringt die Juden bewusst in Gefahr, wo immer sie sich befinden. Und es verwandelt sie in Roboter, die aufgefordert werden, das Nicht-zu Rechtfertigende zu rechtfertigen.

Denken wir an das Geschehen in letzter Zeit

Die Geschichte der französischen Juden hat nichts mit Israel zu tun. Immer wieder von verschiedenen sehr christlichen Königen enteignet, massakriert oder vertrieben, haben Juden die französische Staatsbürgerschaft angenommen, nicht zuletzt dank der Fürsprache eines Priesters, Henri Grégoire, während der Revolution. Die letzten beiden Jahrhunderte sind durch eine Nachfrage nach der Staatsbürgerschaft  und nach gleichen Rechten nach dem Gesetz gezeichnet.

Die Dreyfus-Affäre hat dies betont, dass, wenn ein Teil der französischen Gesellschaft antisemitisch war, so betrachtete letztendlich die Mehrheit die Freisprechung und die Rehabilitation von Dreyfus als Ziel all jener, die von der Freiheit fasziniert war und die Rassismus ablehnten. Die Geschichte der französischen Juden ist durch bedeutsame Beteiligung am Widerstand gegen die Nazis und das Vichy-Regime  gekennzeichnet worden und dann durch das Engagement von vielen in progressiven und/oder antikolonialistischen Kämpfen. Unter diesen namhaften jüdischen Intellektuellen dieser Zeit waren Raymond Aubrac, Marc Bloch, Laurent Schwartz, Pierre Vidal-Naquet und Stéphane Hessel. Es war eine Zeit, als viele Juden glaubten, dass ihre eigene Emanzipation ein Teil der universellen Emanzipation wäre. Es war eine Epoche, als Rassismus, Faschismus und der Hass gegen „den anderen“ als äußerst unannehmbar angesehen wurde und bekämpft werden musste. Jüdische Kinder gingen in die allgemeine Schule;  Die Idee, sich von anderen abzutrennen und in religiös-begründete Schulen zu gehen, kam ihnen nicht in den Sinn.

Im heutigen Israel hat es einen gezielten Versuch gegeben, die Geschichte der Juden in den verschiedenen Ländern auszulöschen. Wenn Juden lange von Antisemiten in Europa als nicht anpassungsfähige Parias angesehen wurden, und wenn sie verfolgt worden sind, weil sie ein Hindernis für den wahnsinnigen Nationalismus waren , der von ethnisch reinen Gesellschaften träumte, hätten sie niemals eine Trennung gesucht, sondern im Gegenteil die Integration in die Gesellschaften, in denen sie lebten.

Ein Aufruf zur Desertion

Kommen wir zu den Ereignissen der letzten Zeit.  An der Spitze einer riesigen Pariser Demonstration , die angeblich gegen Terrorismus organisiert wurde, findet man  drei Kriegsverbrecher, Netanjahu, Lieberman und Bennett, die sich gerade einen Namen gemacht haben, indem sie im Sommer 2014 über 2000 Palästinenser (meistens Zivilisten) in Gaza massakriert  haben. In dem sie die Emotion ausnützen, die  durch den antisemitischen Mord  in der Porte de Vincennes entstanden war, ermächtigte Netanjahu  sich, den französischen Juden zu erklären, dass sie in Frankreich in Unsicherheit leben und dass sie in ihr „wahres“ Heimatland, nach Israel umziehen sollten.

Tatsächlich hat Zionismus niemals den Antisemitismus  bekämpft. Er hat endlos diesen mit einem einzigen Ziel genährt:  so viele Juden wie möglich zu verleiten, nach Israel einzuwandern. Eine Folge davon ist, dass Netanjahu nicht zögerte, die französischen Juden in Gefahr zu bringen.  Er machte sie in ihrem eigenen Land zu Ausländern, zu ‚Touristen‘, die nicht begriffen haben, dass ihre ‚Heimat‘ dort sei. Juden werden eindringlich ermahnt, entweder ‚Verräter‘ zu werden ( aus dem einzigen Grund, damit Groß-Israel vom Meer bis zum Fluss)  oder Mitschuldige zu werden. Frankreich  ist immer als ein Fehlschlag für Israel angesehen worden: kaum 80 000 Juden haben seit 1948 Frankreich verlassen und die Hälfte von ihnen ist wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Dann wurde die Propaganda ohrenbetäubend.  Doch wenn es ein Land gibt, in dem Juden in Unsicherheit leben, dann ist es Israel; es ist Israel selbst und es wird es so lange bleiben, wie Israel  die Zerstörung Palästinas verfolgt.

Zu der ;Aliya‘ (Hinaufgehen) der Lebenden  nach Israel, kann nun die der Toten hinzugefügt werden. Die israelischen Behörden stacheln die französischen Juden an , ihre Toten in Israel zu begraben. So sind die Opfer der Porte de Vincennes im Givat Shaul-Friedhof beerdigt worden. Dieser Distrikt Jerusalems ist eigentlich das frühere Deit Yassin, das Dorf, das vor dem Krieg von 1948 gemartert wurde, wo die Irgun-Milizen von Menachim Begin geleitet,  ( fast) die ganze  Bevölkerung massakrierte, so dass das Dorf, wie viele andere von der Landkarte  verschwunden ist. Wie symbolisch!

Israel  in der Avant-Garde der Islamophobie

Juden haben jahrhundertelang in der islamischen Welt gelebt. Sie wurden sogar vom Ottomanischen Reich willkommen geheißen, als sie 1492 aus Spanien vertrieben worden sind.  Heute nimmt Israel an der Dämonisierung der Araber  und der Muslime  teil, indem es sich als Modell-Schüler des  „Zusammenstoßes der Zivilisationen“ verhält. Für einige Politiker, die dies zu ihrem Handelskapital machten, wird anti-arabischer Rassismus und Islamophobie offen entfaltet und auf sie einzuwirken, ist nicht ungewöhnlich.

Das Massenverbrechen in Gaza oder die Multiplikation der rassistischen Äußerungen ( für  Rabbi Rosen sind die Palästinenser mit den Amalekitern verwandt und  die Torah  diktiert, dass wir sie töten sollen, auch ihre Frauen, Kinder und ihre Herden) wird Spuren hinterlassen. Kann man sich vorstellen, dass das, was man den Palästinensern zufügt, ohne Folgen ist?

In Israel konkurrieren Propagandisten miteinander, indem sie erklären , dass Juden  in der muslimischen Welt wie in der Hölle lebten, aber die Tatsache verbergen, dass Antisemitismus  vor allem europäischen und christlichen Ursprungs ist. In Israel machen orientalische Juden die Erfahrung der sozialen Diskriminierung und rassistischer Geringschätzung. Die Vertreibung der Palästinenser 1948 wird  als ein ‚Austausch der Bevölkerung’ dargestellt, wohingegen der Zionismus die Hauptursache  von beidem, der Nakba und der Vertreibung der orientalischen Juden aus ihren Ländern ist.

Was bedeutet es in Israel jüdisch zu sein?

Die  Zionisten verbreiten die Idee, dass Juden und Nicht-Juden nicht in der Lage sind, zusammen zu leben. Das ist in völlig konträr zu allem, was sich in hunderten von Jahren abgespielt hat. Es läuft dem Streben der Juden, die Ghettos (mellahs und juderias) zu verlassen, zuwider, um normale Bürger zu werden.

Fromme Juden, die nach Israel auswanderten, fanden dort selten die Religion, die sie jahrhundertelang praktiziert haben. Die national-religiöse Bewegung herrscht vor. Diese integrationistische Strömung hat den Charakter der Religion verwandelt.  Ein ‚ausgewähltes Volk‘ hat niemals bedeutet, dass man mehr Rechte als die anderen hat, sondern im Gegenteil, dass man mehr Verpflichtungen hat. Unter  den Geboten  ist ‚tue gegenüberanderen das, was du möchtest, dass sie dir gegenüber tun sollen‘ und ‚liebe deinen Nächsten, wie dich selbst‘.  ‚Nächstes Jahr in Jerusalem‘ war nie als Inspiration für die ethnische Säuberung gedacht, die jetzt stattfindet, sondern war ein Ausdruck  für ein ‚Hoffen auf den Messias‘.

Hebräisch war immer eine religiöse Sprache, deren profane Verwendung verboten war. Die jüdische Religion ist eine Religion des Exils. Die Siedlungen auf diesem Land (von Israel/Palästina) vor der Ankunft des Messias und ein fortiori der Errichtung eines jüdischen Staates waren verboten. Außerdem  gingen die 1492 aus Spanien vertriebenen Juden  nicht nach Jerusalem.  Herzl traf  mit seinem zionistischen Projekt auf eine fast einmütige Feindseligkeit der Rabbiner, als die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina vorgeschlagen wurde

Für säkulare Juden sind die vorherrschenden Werte Israels die Antithese ihres Verständnisses der Werte des Judentums. Wo findet man in der jüdischen Tradition Rassismus, Chauvinismus, Militarismus und die Negation der Existenz und der Würde des anderen? Was haben die großen jüdischen Intellektuellen (Einstein, Freud, Arendt, Kafka, Benjamin.…)gemeinsam mit den Kriegsverbrechern, die Israel leiten? Was hat Israel mit ihrem Gedächtnis getan und dem, die gegen Faschismus und Kolonialismus kämpften (Marek Edelman, Abraham Serfaty, Henri Curiel..)?Mit welchem jüdischen Erbe können sich die Siedler und das Militär  im Voraus der Gewalt und Verbrechen rechtfertigen, die sie gegenüber den Palästinensern begangen haben?

Wie der israelische Historiker Shlomo Sand im  propos(?)  für das Buch von Yakov Rabkin „den Staat Israel verstehen“  geschrieben hat „denjenigen, die im Zionismus eine Fortsetzung des Judentums sehen, täte es gut, dieses Buch zu lesen. Aber für die, die glauben, dass der Staat Israel ein jüdischer Staat ist, sollte das Lesen dieses Buches eine Verpflichtung  sein.“

Einige Juden denken, dass nach dem Nazi-Genozid Israel das letzte Refugium sei. Aus welchen Gründen ist die israelische Führung in der Lage, überall den Antisemitismus und das Gedächtnis des Genozid vorzubringen?  Die Zionisten spielen nur eine  marginale Rolle im Kampf gegen den Antisemitismus und im Widerstand gegen den Nazismus. Einige zionistische Führer waren selbst mit schändlichem Verhalten während des Aufkommens des Faschismus beteiligt. (Ben Gurion 1933 mit dem Haavara-Abkommen) und während der Periode der Vernichtung(die Sterngruppe  mordete Soldaten und britische Würdenträger).

Wie ist es möglich, dass das Gedächtnis des Genozids „Nie wieder!“  nicht bedeutet „Nie wieder  (nur)für uns!“ Das letztere bedeutet eine Stammesvision der Menschheit und ist in totalem Widerspruch zu allen Formen des jüdischen Erbes.

Diktate, Ängste und alle Formen von Rassismus und Diskriminierung verweigern

Es gibt Konfrontationen, die vernünftig sind: Kampf gegen Unterdrückung, Vorherrschaft, Kolonialismus, für Gleichheit nach dem Gesetz. Doch wird uns ein Krieg verkauft, der nicht der unsrige ist: der von einer angeblich zivilisierten Welt gegen den „islamischen Terrorismus“.  In diesem Krieg werden Muslime als potentielle Terroristen angesehen, denen vorgeschrieben wird, zu beweisen, dass sie nicht Komplizen von ISIS sind.

Und Juden wird befohlen, die israelische Politik bedingungslos zu unterstützen, eine Politik, die gegenüber Palästinensern kriminell und gegenüber Juden selbstmörderisch. Diese überstürzte Eile ins Verbrechertum arbeitet mit der Angst. Dieses Syndrom überzeugt den Konsens bis zu einem Punkt, von dem ein palästinensischer Unterhändler (Prof. A.Aghazarian) behauptet hat, dass die Israelis fürchten nicht länger mit Angst zu leben. Diese irrationale Angst hat viele französische Juden infiziert.

Im Kontext  des „Clash of Civilisations“ dem Vorwand der Mächtigen, die Welt mit Blut zu tränken, gibt es in Frankreich eine allgemeine Eskalation aller Formen von Rassismus.  Im Gegensatz zum Erscheinungsbild, wie es Hauptmedien darstellen, trifft der Rassismus vor allem die „Beherrschten“, nämlich all die Opfer sozialer Apartheid: die Araber, die Schwarzen, Romas.  Es gibt auch ein unbestreitbares und abscheuliches Anwachsen des Antismitismus‘. Aber die verschiedenen Formen des Rassismus werden nicht auf dieselbe Art behandelt.

Die israelische Führung und CRIF .( Conseil Répresentatif des Institutions Juives) in Frankreich sind aktiv an der Stigmatisierung der Muslime beteiligt. Sie behaupten – gegen allen Augenschein -, dass ees nur einen Rassismus gäbe, nämlich den Antisemitismus, und dass wir am Rande einer neuen Kristallnacht stünden ….

Die israelische Politik und die völlige Negation der Rechte für das palästinensische Volk kann die Juden nicht schützen. Im Gegenteil. Um den neuen Israeli zu schaffen, ist es nötig „den Juden zu töten“ und zwar denjenigen, der dachte, dass seine Emanzipation von der allgemeinen Emanzipation  abhängig sei. Wie der kämpferische anti-kolonialistische Israeli Eitan Bronstein sagte: „Wir werden niemals frei sein, solange die Palästinenser nicht frei sind“

Jeder wird aufgefordert, jeden Rassismus, jede Stigmatisierung, jede Diskriminierung zu bekämpfen. Es kommt darauf an, dass jeder sich für Gerechtigkeit einsetzt – in Palästina genau so wie in Frankreich.   Piere Stambul ist  der Präsident von  Union Juive pour la Paix“  (UJFP)

(dt. und gekürzt: Ellen Rohlfs)