Die Idee eines jüdischen
Volkes ist erfunden, sagt der Historiker
Jonathan Cook, antiwar.com
Keiner ist mehr überrascht
als Shlomo Sand, dass seine letzte akademische Arbeit
seit 19 Wochen auf Israels Bestsellerliste steht – und dass der Professor für
Geschichte solch einen Erfolg hat, obwohl sein Buch Israels größtes Tabu
bricht.
Dr. Sand behauptete, dass
die Idee einer jüdischen Nation --die dringend einen sicheren Hafen benötigte,
ursprünglich dazu verwendet wurde, um die Gründung des Staates Israel zu
rechtfertigen – ein Mythos ist, der erst
seit gut 100 Jahren besteht.
Dr. Sand, ein Experte der
europäischen Geschichte an der Tel Aviver
Universität, machte gründliche historische und archäologische Untersuchungen,
um nicht nur seine Behauptung zu bestätigen, sondern noch einige mehr –
die alle gleich kontrovers sind.
Außerdem behauptet er,
dass die Juden niemals aus dem Heiligen Land vertrieben worden waren, dass die
meisten der heutigen Juden gar keine historischen Verbindungen zum Land, das
Israel genannt wird, haben, und dass die einzige politische Lösung
für den Konflikt des Landes mit den Palästinensern der wäre, den
jüdischen Staat abzuschaffen.
Der Erfolg des „Wann
und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“ wird sich wahrscheinlich rund um
die Erde wiederholen. Eine französische
Ausgabe kam im letzten Monat heraus und wird so schnell verkauft, dass es
schon eine dritte Auflage gibt.
Übersetzungen in ein
Dutzend Sprachen, einschließlich arabisch und englisch wurden schon in Angriff
genommen. Aber er sagte bereits eine
scharfe Reaktion von Seiten der Pro-Israel-Lobby
voraus, wenn es von seinem englischen Verleger Verso
im nächsten Jahr in den USA herausgegeben wird.
Im Gegensatz dazu sind die
Israelis – wenn auch nicht gerade hilfreich -
so doch wenigstens neugierig auf seine Argumente gewesen. Tom Segev, einer der führenden Journalisten des Landes, nannte
das Buch „faszinierend und herausfordernd“.
Überraschenderweise
schreckten seine akademischen Kollegen in Israel zurück, sich mit seinen Argumenten aus einander zu setzen,
sagte er. Eine Ausnahme sei Israel Bartal, ein
Professor für jüdische Geschichte an der hebräischen Universität in Jerusalem.
In Haaretz der israelische
Tageszeitung gibt er sich keine große Mühe, Dr. Sands Behauptungen zu
widerlegen. In seinem Artikel geht es ihm weniger darum, seinen Beruf zu verteidigen: er meint, dass die israelischen
Historiker über das Wesen der jüdischen Geschichte nicht so ignorant
seien, wie Dr. Sand es behauptet.
Die Idee zu diesem Buch
sei ihm schon vor vielen Jahren gekommen, sagte Dr. Sand, aber er wartete damit
und begann es erst vor kurzem. „Ich kann nicht behaupten, dass ich besonders
mutig bin, das Buch erst jetzt zu
veröffentlichen, “ich wartete damit bis ich Ordinarius bin. Man muss in der
israelischen akademischen Welt für
Ansichten dieser Art einen Preis bezahlen.“
Dr. Sands Hauptargument ist,
dass bis vor etwas mehr als einem Jahrhundert, Juden sich selbst
nur als Religionsgemeinschaft
verstanden. Zur Jahrhundertwende des19./20. Jahrhundert stellten zionistische
Juden diese Idee in Frage und begannen
eine nationale Geschichte mit der Idee zu erfinden, dass es abgesehen von einer
jüdischen Religion auch ein jüdisches Volk
gebe.
Genauso war den Juden die
zionistische Idee, dass Juden verpflichtet seien, aus dem Exil in das
„verheißene Land“ zurückzukehren , ganz fremd, fügte
er hinzu.
„Der Zionismus veränderte
die Idee von Jerusalem. Vorher waren die heiligen Stätten nur als Orte der
Sehnsucht angesehen, nicht als solche, an denen man leben sollte. 2000 Jahre
lang blieben Juden von Jerusalem weg, nicht weil sie nicht zurückkehren konnten,
sondern weil es ihnen ihre Religion verwehrte, bevor der Messias kommt.“
Die größte Überraschung
während seiner Nachforschungen kam, als er nach den archäologischen Beweisen
aus der biblischen Ära zu suchen begann.
„Ich war nicht als Zionist
großgezogen worden, aber wie alle andern Israelis nahm ich es als
selbstverständlich, dass die Juden ein Volk waren, das in Judäa lebte und dass
alle von den Römern im Jahre 70 n.Chr. vertrieben
worden waren.
„Aber als ich begann, nach
den Beweisen zu schauen, entdeckte ich, dass die Königreiche von David und Salomo Legenden waren.
„ So ähnlich ist es mit
dem Exil. Tatsächlich kann man das Judentum nicht ohne das Exil erklären. Aber
als ich damit anfing, nach Geschichtsbüchern zu suchen, die die Ereignisse
dieses Exils beschreiben, konnte ich nichts finden, nicht eines.
„ Und zwar deshalb, weil
die Römer keine ganzen Völker vertrieben hatten. Tatsächlich waren Juden in
Palästina vor allem Bauern, und aller Wahrscheinlichkeit nach blieben sie
deshalb auf ihrem Land.“
Stattdessen glaubt er,
dass eine alternative Theorie plausibler ist: das Exil war ein Mythos, der von
den frühen Christen erfunden wurde, um die Juden dem neuen Glauben zuzuführen.
„Die Christen wollten, dass spätere Juden glaubten, ihre Vorfahren seien als
Strafe Gottes vertrieben worden ( weil sie Jesus nicht
als Messias angenommen hatten R.).
Wenn es also kein Exil
gab, wie ist es dann möglich, dass es so viel Juden über den ganzen Globus zerstreut
gab, bevor der moderne Staat Israel damit begann, sie zur „Rückkehr“ zu
ermutigen?
Dr. Sand sagte, dass in
den Jahrhunderten vor und nach der christlichen Ära, die jüdische Religion eine
missionarische Religion war, die sich sehr um neue Anhänger bemühte. Dies wird
in der römisch-lateinischen Literatur jener Zeit erwähnt.“
Juden reisten in andere
Regionen und versuchten Konvertiten zu gewinnen, besonders im Yemen und unter den Berbern in Nordafrika. Jahrhunderte später konvertierte das Volk der Khazaren
im Süden Russlands en masse zum Judentum
und wurden so der Ursprung der aschkenazischen
Juden Mittel- und Osteuropas.
Dr. Sand weist auf den
seltsamen Zustand der Leugnung hin, in dem die meisten Israelis leben, und macht auf Zeitungen aufmerksam, die vor kurzem ausführlich von
der Entdeckung der Hauptstadt des Khazaren-Königreichs
nahe des Kaspischen Meeres berichteten.
Ynet, die Internetside von
Israels meist gelesener Tageszeitung Yedioth Ahronoth hat die Überschrift: „Russische Archäologen finden
die seit langem verlorene jüdische Hauptstadt.“
Doch keine der Zeitungen – so fügt er hinzu – hat
die Bedeutung dieses Fundes zu den üblichen Berichten jüdischer Geschichte
berücksichtigt.
Eine weitere Frage legt
Dr. Sands Bericht nahe, wie er selbst bemerkt: wenn die meisten Juden nie das
Heilige Land verlassen haben, was wurde aus ihnen?
„Es wird nicht in
israelischen Schulen gelehrt, aber die meisten frühen zionistischen Führer,
einschließlich David Ben Gurion glaubten, dass die
Palästinenser die Nachkommen der ursprünglichen Juden des Gebietes waren. Sie
glaubten, dass die Juden später zum Islam konvertierten.
Dr.Sand schreibt seinen
Kollegen (zu große) Zurückhaltung zu, um sich mit ihm zu einer
stillschweigenden Anerkennung durch viele zu engagieren, damit das ganze
Gebäude der „Jüdischen Geschichte“, wie sie noch an den israelischen
Universitäten gelehrt wird, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.
Das Problem mit dem Fach
Geschichte in Israel hängt mit einer
Entscheidung in den 30er-Jahren zusammen, wo man die Geschichte in zwei
Disziplinen teilte: allgemeine Geschichte und jüdische Geschichte. Man nahm an,
dass jüdische Geschichte ein eigenes Studienfach benötige, weil die jüdische
Erfahrung als einzigartig betrachtet wurde.
„Es gibt keine jüdische
Abteilung für Politik oder Soziologie an den Universitäten. Nur Geschichte
wird auf diese Weise gelehrt und hat so
Spezialisten jüdischer Geschichte erlaubt, in einer insularen und konservativen
Welt zu leben, in der sie nicht von modernen Entwicklungen der historischen
Forschung berührt wurden.
„Ich bin in Israel dafür kritisiert worden, weil ich über
jüdische Geschichte schreibe, obwohl mein Fachgebiet europäische Geschichte
ist. Aber ein Buch wie dieses braucht einen Historiker, dem die üblichen
Konzepte historischer Nachforschungen
der akademischen Welt von überall vertraut sind.
Dieser
Artikel erschien ursprünglich in The National, die in
Abu Dhabi veröffentlicht wurde. www.antiwar.com/cook
(dt.
Ellen Rohlfs)