Israel Palästina Nahost Konflikt
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Von David Shulman, 16. August 2009
Esra
Nawis Gerichtsprozess rückt näher. Er ist angeklagt,
während einer Hauszerstörung in Um al-Kheir zwei
Grenzpolizisten angegriffen zu haben, und die Richterin Eilata
Ziskind hat ihn schon für schuldig befunden. Was nun
noch bleibt, ist seine Verurteilung, der noch Zeugenaussagen und
Schlussargumente vorausgehen. Ich bin außer einigen anderen Aktivisten und
Freunden hier, um für ihn als Zeuge auszusagen .
Hier
ist der Kontext zusammengefasst: im Februar 2007 schickte die Armee ihre
Bulldozer, um mehrere Blechhütten und
Zelte in Um al-Kheir zu zerstören. Ezra war
dort. Er erschien - wie ein Wunder - wie
immer zur richtigen Zeit, wo immer er
in der Gegend südlich von Hebron benötigt wurde – und nach bester
Tradition des zivilem Ungehorsams tat er sein Bestes, um die Zerstörung
aufzuhalten. Er warf sich vor den Bulldozern auf den Boden, und die Soldaten
mussten ihn von dort wegziehen. Dann rannte er in eine der Hütten, die zerstört
werden sollte, und zwei Grenzpolizisten rannten hinter ihm her. All dies ist
auf einem Video dokumentiert, das im Internet steht. Was die Kamera nicht aufnehmen
konnte, sind die 20 Sekunden in der Hütte. Einige Tage nach dem Vorfall,
behaupteten die Grenzpolizisten, dass Ezra Widerstand geleistet und seine Hand
gegen sie erhoben hätte; er widerspricht dem heftig, und ich glaube ihm . Ich kenne den Mann und kenne seine tiefe Aversion
gegen Gewalt jeder Art. Damals haben sie ihn aus der Hütte gezogen,
Handschellen angelegt und ihn verhaftet. Im Video kann man sehen, wie sich die
Soldaten über ihn lustig gemacht haben, weil er Palästinensern hilft. Das sieht
gar nicht gut aus. Man kann auch hören, wie Ezra zu ihnen sagt: „Ich war auch
einmal ein Soldat, aber ich habe nie die Wohnung von Menschen zerstört. Hier
wird nur Hass zurückbleiben.“
Man
muss sagen, dass es für Palästinenser, die
in Um al-Kheir ein Haus bauen wollen oder ihrem Zelt
oder ihrer Hütte einen
zusätzlichen Raum hinzufügen wollen, tatsächlich keine Chance gibt, eine
Genehmigung zu erhalten. In der ganzen Zone C der besetzten Gebieten (die
völlig unter israelischer Kontrolle ist) und
die eine Bevölkerung von mehreren Hunderttausend hat, wird im
Durchschnitt monatlich nur eine Genehmigung erteilt. Dann bleibt es nicht aus,
dass die Leute ohne Baugenehmigung bauen, da sie gewöhnlich große Familien
haben. Die zivile Verwaltung, d.h. die Besatzungsbehörde gibt dann
unvermeidlich Order zur Zerstörung heraus und schickt die Bulldozer, um dies
durchzuführen. Im Durchschnitt werden monatlich sechzig solcher
Order ausgegeben und zwanzig ausgeführt. Das geschieht viele Male nur
wenige Meter entfernt von der Carmel-Siedlung mit
ihren modernen Villas unter roten Dächern.. Es geschah
am 14. Februar 2007 wieder, als Ezra tat, was er tun musste. Es tut mit leid,
dass ich damals nicht dabei war, um ihm zu helfen.
Auf
jeden Fall hatte die Richterin nur das Zeugnis der Konfliktparteien von Ezra
und den Polizisten – und natürlich glaubt sie den Polizisten. Ich war bei der
Gerichtsverhandlung. Ich wollte hinausschreien: „Machen Sie doch die Augen auf!
Das wirkliche Verbrechen war die Zerstörung dieser Hütten, wie jeder normal
denkende Mensch sehen kann. Sie sollten dankbar dafür sein, dass Ezra dort war
und tat, was er konnte.“ Aber das ist das moderne Israel: innerhalb der
besetzten palästinensischen Gebiete wird täglich den rechtmäßigen Eigentümern
Land weggenommen und die wenigen, die dagegen aufstehen und ohne Gewalt
protestieren wie Ezra Nawi, werden ins Gefängnis
gesteckt. Es sind die niedrigen Ränge, die den größten Einfluss haben – die
grauen Bürokraten, die das Geld in die Siedlungen schleusen , die Armeekommandeure
vor Ort, die Polizisten und die Gerichte, Militär und Zivil, die das ganze
verflixte System aufrecht erhalten. Ein aufgeklärter/ vernünftiger Richter im Distriktgericht könnte theoretisch die Sache ändern.
Wir
sind also um 8 Uhr im Distriktgericht, Zimmer 324 im
alten Russischen Komplex ( von der russisch-orthodoxen palästinensischen
Gesellschaft für russische Pilger zwischen 1859 und 1864 gebaut) Der Gerichtsraum ist viel zu klein, um alle
Freunde und Unterstützer von Ezra aufzunehmen. Mit den andern Zeugen muss ich
draußen im schmutzigen Korridor warten. Mir wird von Ezras
erfahrener Rechtsanwältin Lea Tzemel gesagt, dass ich fünf Minuten Redezeit habe, während
denen ich die Geschichte des gandhischen zivilen
Ungehorsams und Ezras Platz in dieser ehrwürdigen
Tradition erklären kann.. In Gedanken wiederhole ich,
was ich sagen möchte, und kann nur hoffen, dass man mir die Gelegenheit dazu gibt und ich die
richtigen Worte finde. Mein Freund Suchitra riet mir,
eine von Gandhis Methoden anzuwenden, bevor ich vor dem Richter rede: zu beten.
In dem unruhigen, bewegten Korridor voller Polizisten, Angestellten und einiger
verirrter Leute versuche ich dies. …
Nach
etwa einer Stunde werde ich hineingerufen. Zu meiner Linken steht die
Anklägerin, eine junge Palästinenserin – kaum zu glauben. Ich lächle Ezra
an …und nehme kaum die Gesichter von einigen meiner
Aktivistenkollegen auf den Bänken nahe der Tür wahr. Weit über mir hinter einer
hohen hölzernen Gerichtsschranke sitzt
die Richterin Ziskind und an ihrer Seite eine ernste
Schreibkraft an einem Computer. Mir wird geraten, die Wahrheit zu sagen und
langsam zu sprechen, so langsam wie möglich, damit die Schreibkraft mithalten
kann und das Mitgeschriebene komplett ist.
„Seit
wann kennen Sie den Angeklagten?“
Seit
langer Zeit, ja, seit Jahrzehnten. Er war ein Klempner, sehr professionell. Er
arbeitete seit vielen Jahren für uns und hat uns aus mehreren Notsituationen
geholfen, bevor ich seine politischen Ansichten oder Aktivitäten kannte. Aber
in den letzten neun Jahren bin ich regelmäßig mit ihm in den südlichen Hebroner Bergen in Friedensarbeit gewesen
„Was
können Sie uns über ihn sagen?“
Als
erstes muss ich betonen, dass ich mit
ihm sehr schwierige Augenblicke erlebt habe – besonders Angriffe von Siedlern –
und nie sah ich ihn, dass er Gewalt mit Gewalt
beantwortet hat. 2005 hat in Susya ein Siedler
eine Holzstange über seinem Kopf zerbrochen und er stand da ohne
zurückzuschlagen. Ich war direkt neben ihm und sah es. So etwas habe ich viele
Male gesehen. Er hat sich mit jeder Faser seines Herzens dem gewaltfreien
Widerstand verschrieben.
„Gewaltfreier
Protest?“
Ich
meine die Art von Mahatma Gandhi und Martin Luther King und Henry David
Thoreau.
Die
Schreibkraft hebt ihre Hand. Die Richterin wiederholt die ersten beiden Namen.
Ich merke, dass ich helfen muss. Also buchstabiere ich die Namen Gandhi - aus Indien, er kämpfte gegen den britischen
Kolonialismus …
Tatsächlich
gibt mir dies viel Zeit zum Nachdenken
und erlaubt mir, manches zwei oder drei mal zu sagen.
Das ist gut. Ich schaue mir die Richterin an, versuche ihre Augen zu erreichen
oder wenn möglich auch ihr Herz. Sie bleibt aber unnahbar und gelassen. Sie
schaut durch mich hindurch. Sie sieht ziemlich gelangweilt aus. Sie ist aber
sehr damit beschäftigt, der Schreibkraft zu helfen. Sie nickt mir zu,
fortzufahren.
Jeder
kennt die Methode oder die Lebensweise des gewaltfreien zivilen Ungehorsam. Ezra Nawi lebt in
dieser Tradition. In meinen Augen steht er in derselben Tradition der tapferen
Amerikaner, die vor 50 Jahren im Süden( der USA) - obwohl illegal – sich
zusammen mit Schwarzen in die Busse setzten oder die schwarze Kinder zur Schule
von Nur-Weißen begleiteten, obwohl es gegen das Gesetz war. Wir reden über
Situationen, in denen gewaltfreier Protest gegen ein System und seine Regeln
oder Aktionen gerichtet ist, die genau genommen legal sein mögen, die aber
gegen grundsätzliche menschliche Werte und gegen unser Gewissen als menschliche
Wesen sind. Ein Mann wie Ezra Nawi fühlt, er habe
nicht nur das Recht, sonder tatsächlich auch die Pflicht, gegen solche Regeln
zu handeln.
Das
meiste davon muss ich mehrfach wiederholen. Die Richterin wird unruhig. Ich
werden das Übrige in einige Sätze quetschen müssen. …
Mahatma
Ghandi sagte dem britischen Richter in Ahmedabad
1922: ‚Mit dem Bösen nicht zusammen zu arbeiten, ist genau so eine Pflicht, wie
mit dem Guten zusammen zu arbeiten’. Dies ist die Situation, der wir in den
südlichen Hebroner Bergen gegenüber stehen. Ich bin
sicher, dass ein Tag kommen wird, wo Ezras Name in
den Schulbüchern israelischer Schulen
als Vorbild genannt werden wird, der die wahren menschlichen Werte in den
dunklen Zeiten verkörpert, die wir gerade durchmachen.
Die
Schreibkraft tut ihr Bestes – aber es funktioniert nicht. Welche Art von Zeiten
sagten Sie?
‚
die dunklen..’
Was
ich wirklich sagen wollte, ist dies: Keiner erinnert sich an den Namen des
britischen Richters, der Gandhi 1922 ins
Gefängnis schickte oder an den Richter, der Nelson Mandela und David Thoreau ins Gefängnis brachte. Aber ich sagte es
nicht. Ich biss mir auf die Zunge.
Ich
erlaube mir, noch etwas zu sagen:.
Da
gibt es noch eine Sache. Ich bin 60 Jahre alt, ich habe vier Enkelkinder und
manchmal denke ich, wenn es etwas gibt, worauf ich stolz sein kann, dann sind
es nicht die Bücher, die ich geschrieben habe oder die Preise, die ich erhalten
habe, sondern die Augenblicke im südlichen Hebroner
Gebiet, als ich das Privileg hatte, neben Ezra zu stehen, als die Siedler
angriffen.
Als
ich das gesagt hatte, fühlte ich mich wohl …
Jetzt
verhörte mich in musikalisch arabisch klingenden Hebräisch
die Anklägerin. Sie wollte wissen, ob ich etwas über Ezras
Vorstrafen wüsste. Ich sagte, die seien irrelevant. Worauf sie erwiderte: Sie
sind nicht unparteiisch. Ich wette, sie sind gegenüber den Siedlern zornig.
„Manchmal bin ich es“, sagte ich und gab die Frage zurück: „Wenn jemand Sie
angreift, wären Sie dann nicht auch zornig?“ Sie schien völlig verblüfft zu
sein. Ich fragte mich, wie sie sich wohl fühlen mag, während sie gegen Ezra
argumentiert …Vielleicht überkompensiert sie. Alle Zeugen berichten später,
dass sie ernsthaft darum kämpfte, Ezras Charakter
scharf zu kritisieren - nur um ihren Job zu tun. Man kann mir doch nicht sagen,
dass sie wirklich die durchschaubare Geschichte
jener Grenzpolizisten glaubte. Ich frage mich, wo sie aufgewachsen ist
und wo sie Jura studiert hat. Ich nehme an, es ist alles Teil der surrealen
Welt des israelischen Gerichtsraumes. Keiner ist hier unschuldig, obwohl einer
weniger schuldig sein mag als ein anderer.
Ich
denke über das nach, was Gandhi in seiner Aussage dem Richter in Ahmedabad
schrieb: „Das größte Unglück ist, dass
die Engländer und ihre indischen Kollegen in der Regierung nicht wissen, dass
sie in Verbrechen verwickelt sind“. Das klingt irgendwie bekannt. Die meisten
Israeli wissen dies nicht oder wollen es nicht wissen, einschließlich der
Richter. Einige würden zweifellos nicht glauben wollen, würden sie die Realität
in den besetzten Gebieten sehen. Es ist tatsächlich kaum zu glauben. Mir ging
es genau so. Dann begann ich mich zu fragen, ob die gandhische
Satyagraha-Methode wirklich die richtige ist in
diesem levantinischen Morast. Könnte sie jemals das Herz eines israelischen
Soldaten erreichen? Ja, sie kann. Ich kenne ein Beispiel von Bilin; nachdem einer
der im Dorf stationierten Soldaten die brutale Unterdrückung des Protestes der
Dorfbewohner sah, kam er auf unsere Seite, und jetzt kommt er mit uns in die
südliche Berge Hebrons. Bilin hat in Palästina mit der Gandhi-Methode angefangen, und es ist
nicht allein. Aber wird einer von diesen
eine Wende bringen. Ziemlich sicher nicht. Israel hat nicht die inneren
Ressourcen, eine politische Kehrwende zu
machen.
Wir
haben den Traum eines zivilen Massen-Ungehorsams in Palästina, der von einigen
charismatischen Persönlichkeiten angeführt wird, noch nicht entdeckt. Es ist
noch immer ein Traum. In der Vergangenheit hat die Armee ihr großes Talent
gezeigt, wie man gewaltfreie Demonstrationen in solche mit Gewalt verwandelt, die
die Generäle und die Politiker bevorzugen. Und doch gibt es keinen anderen Weg.
Gewalt verschlimmert immer nur das Böse. Und nebenbei: die Schönheit des
Protestes im Gandhi-Stil braucht keine weitere Rechtfertigung; er ist richtig
um seinetwillen und wert ihn zu tun, um der Wahrheit willen. Ezra mag nie
Gandhis Worte gelesen haben, aber er kennt sie intuitiv aus seiner eigenen
Erfahrung der Welt, und versteht, was
der Mann meint.
Die
Richterin Ziskind entließ mich und ich ging in den
Korridor zurück, wo Galit, die vor mir eine
Zeugenaussage machte, mit einer hebräischen Bibel auf ihrem Schoß sitzt; sie
zitierte der Richterin ein paar
relevante Verse. Sogar ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, wo Verse wie
„Was recht ist, dem sollst du nachjagen!“ ( 5.Mos.16,20) Juden noch etwas
bedeutet haben. Vielleicht haben sie
eines Tages wieder eine Bedeutung. Ein anderer junger palästinensischer Anwalt
wartet dort aus irgend einem Grund, und wir reden mit
einander. Er erhielt seinen akademischen
Grad als Jurist von der Al-Quds-Universität in Abu
Dis. Die israelische Juristen-Vereinigung erkennt seinen akademischen Grad von
Al-Quds an , aber der israelische Rat für Höhere
Bildung will Al-Quds-Absolventen
nicht denselben akademischen Rang wie anderen geben – aus einem einfachen
Grund, weil ihre Universität nach Al-Quds genannt
ist, das ist Jerusalem. Wenn sie nur den Namen ändern würden und sie ihren
Anspruch auf die Stadt aufgeben würden … Immer wieder kommt einer unserer
Freunde heraus und erzählt, was los war. Die beiden Anwälte stritten lange über
das Urteil. Lea kämpfte sehr darum, dass die Richterin eine suspendierte Strafe
verhängt, auf Grund wiederholter Straftaten. Schließlich wird Ezra selbst die
Möglichkeit gegeben zu sprechen und ausnahmsweise einmal hält er sich auf
Leas ernsten Rat zurück,…. Das Gericht
vertagt sich. Die Urteilsverkündigung wird am 21. September sein.
Wie
gehen nach draußen in die heiße Sommersonne. Eine kleine Menge sammelt sich um
Ezra, applaudiert ihm und schüttelt ihm die Hand. Dies sind
die treuen Anhänger der Friedensbewegung oder was von ihr übrig geblieben ist.
Juden und Palästinenser, Frauen und Männer, abgehärtet von jahrelanger Arbeit
vor Ort durch endlose Enttäuschungen und Traumata. Wir stehen eng um Ezra dem
lebenden Zentrum dieses Kampfes. Da gibt es nicht mehr viel, was wir tun können
außer warten und hoffen.
Unterdessen gibt es viel in den südlichen Hebroner Bergen zu tun. Die Arbeit ist nie zu Ende und wir
haben schon vor langem gelernt, nicht zu
sehr über den Erfolg nachzudenken oder was es kostet. Ich denke, wir sind alle
froh, das Risiko auf uns zu nehmen. Vielleicht ist im Israel von heute, das
tief in kollektiven Verbrechen steckt und
in selbstgerechter Betrachtung, das Gefängnis der richtige Ort für eine
anständige Person wie Ezra. Er wird nicht der erste sein. Und was die
Schulbücher betrifft, von denen ich
vorhin gesprochen habe, für israelische Schulen – auf diese werden wir noch
ziemlich lange warten müssen.
(dt.
und geringfügig gekürzt: Ellen Rohlfs)