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Dieser
Artikel wird in „Der Semit“ Nr.4 erscheinen,
„Der SEMIT, unabhängige jüdische Zeitschrift, Abraham Melzer,
gibt
es ab 8. August in allen Bahnhofskiosken“. s. Der Semit
Wir
Juden als privilegierte Minderheit
Rolf Verleger, Juli
2009
Ich
kann Abi Melzers Irritation darüber gut nachvollziehen, dass die Vertreterin
der Juden in Deutschland in privilegierter Sitzposition an der Feier zu
"60 Jahren Grundgesetz" teilnahm. Aber ich würde meine Irritation
anders begründen.
Abi
Melzer stellt zwei Überlegungen an. Die eine Überlegung ist, dass die
Präsidentin Vertreterin "der Opfer" sei und dass sie daher nicht
"mit den Tätern" deren "totale Rehabilitierung" feiern
solle.
Bei
dieser Überlegung stimmt offensichtlich etwas nicht.
Juden,
die tatsächlich noch von den Nazis umgebracht werden sollten, wie meine Mutter,
sind heute längst in der Minderheit gegenüber der Generation ihrer Kinder und
Enkel. Bei den Zuwanderern aus der Ex-Sowjetunion, die heute die Mehrheit der
deutschen Juden bilden, kommt noch dazu: Selbst wenn sie der Generation meiner
Mutter angehören, waren sie nur zum Teil Opfer der Nazis, zum Teil aber auch
(manchmal die gleichen Personen) Sieger über die Nazis, als Soldaten der Roten
Armee. Die Kinder und Enkel dieser Kriegsgeneration wiederum sind sowieso keine
Opfer, sondern Nachkommen der Opfer. In meinem Fall war es paradoxerweise etwas
sehr Beglückendes, denn nachdem Frau und Kinder meines Vaters von den Nazis
ermordet worden waren und er meine Mutter heiratete, wollte er nichts lieber
auf der Welt als wieder Kinder haben: Ich war ein gewolltes Kind. Nicht jeder
wird so ein Glück des Geborgenheitsgefühls gehabt haben, aber sicher ist: Die
meisten jetzt in Deutschland lebenden, von der Präsidentin des Zentralrats
vertretenen Juden sind keine "Opfer".
Ebenso
feierten bei dieser Grundgesetzfeier nicht "die Täter". Sofern
einigermaßen für ihr Handeln verantwortlich zu machen, müssen Menschen, die bei
den Verbrechen der Nazis mitgemacht haben, spätestens 1930 geboren sein. Nicht
nur waren Angehörige dieser Generation bei der Feier in der Minderheit, es
werden auch die wenigsten der Anwesenden aus dieser Generation tatsächlich an
den Naziverbrechen beteiligt gewesen sein. Kurz gesagt: Bei der Feier "60
Jahre Grundgesetz" waren wahrscheinlich überhaupt keine Nazitäter
anwesend. Es gab daher auch nicht ihre Rehabilitation zu feiern.
Daher
ist nichts daran auszusetzen, dass die Vertreterin der Juden in Deutschland
durch ihre Anwesenheit klarmachte, dass wir Juden dieses Deutschland als
unseren Staat wahrnehmen und auch feiern. Der Respekt vor den Opfern der
früheren Herrscher Deutschlands verlangt nicht, dass unsere Vertreter die
jetzigen Herrscher Deutschlands meiden sollen. Der Respekt vor den Opfern ist
vielmehr Auftrag für unsere Vertreter, dass sie die jetzigen Herrscher
Deutschlands darin bestärken, nie wieder solches Unrecht zu begehen und
zuzulassen, wie es die Nazis verübt haben. Das ist keine Frage von schlechtem
Gewissen, sondern des beiderseitigen Akzeptierens selbstverständlicher
moralischer Normen.
Abi
Melzers zweite Überlegung ist die Verwunderung, dass nur Vertreter der Juden
eingeladen wurden und nicht auch andere religiöse oder nationale Minderheiten
in Deutschland – als größte die Moslems und die Türken – oder nicht auch
Nachkommen oder Repräsentanten anderer Opfergruppen der Nazis – der
Behinderten, der Homosexuellen, der Sinti & Roma, der Zeugen Jehovas. Vor
allem, so bemerkt Abi Melzer sehr einleuchtend, hätte eine Feier zum Grundgesetz
Repräsentanten derjenigen einladen müssen, die durch ihren Widerstand gegen die
Nazis Vorboten eines neuen Deutschlands waren.
Diese
Versäumnisse der Organisatoren der Feier sind in der Tat verwunderlich. Eine wohlwollende
Interpretation dieser Versäumnisse ist: Die Juden waren die größte Opfergruppe
der Nazis. Sie stellvertretend für die anderen Opfergruppen bei der Feier in
die vordere Reihe zu setzen soll heißen: Nie wieder wird dieser Staat
Minderheiten ausgrenzen.
Nun
ist es aber ein Widerspruch in sich, dass man nur die größte frühere
Opfergruppe einlädt, um das Versprechen zu symbolisieren, Minderheiten nicht
mehr auszugrenzen: Denn die anderen Opfergruppen und die anderen Minderheiten
werden genau dadurch wieder ausgegrenzt, als Minderheiten. Daran stößt sich Abi
Melzer zu Recht, wie ich meine. Denn die Juden geraten dadurch in den Status
einer besonderen Minderheit, einer in diesem Staat privilegierten Minderheit, einer Minderheit mit dem direkten Draht
zu den Regierenden.
Was
sollen wir mit diesem Status einer privilegierten Minderheit machen, den uns
die jetzt Herrschenden zuschreiben? Dieser Status birgt Chancen und Risiken. 1)
Die Chancen sind, relativ viel staatliche Unterstützung zu erhalten für den
Neuaufbau und die Weiterführung jüdischer Einrichtungen und für andere als
jüdisch betrachtete Belange. 2) Die Risiken sind, durch den Erhalt von
Privilegien Missgunst bei anderen Teilen der Bevölkerung zu wecken.
Hier
sind wir nun im Zentrum des Gefühls der Irritation angelangt. Die zentrale Frage
ist nämlich: Wie gehen wir Juden mit dieser Rolle einer privilegierten
Minderheit um?
Abi
Melzers Gedanken laufen darauf hinaus, diese Rolle radikal abzulehnen: Wir
Juden sollen uns als Gruppe diesem Staat entziehen: Wir wollen von ihm nichts,
er braucht uns nichts zu geben, alle Bürger sind gleich, Gruppen gibt es nicht.
Die
Zentralratspräsidentin dagegen nimmt diese Rolle an. Als gute Vertreterin ihrer
Gruppe versucht sie, wie jeder gute Lobbyist, möglichst viele Vorteile für die
jüdischen Organisationen herauszuverhandeln. Die Gefahr, durch das Betonen
eigener Privilegien gesellschaftliche Unterstützung außerhalb der
Politikerkaste einzubüßen, wird von der Zentralratsspitze nicht gesehen.
Gibt
es einen dritten Weg, eine Alternative zu diesen beiden Positionen? Ja, diesen
Weg gibt es. Es ist der Weg, den beispielsweise die Juden in den USA und in
Südafrika mehrheitlich gehen: Es ist der Weg, die Rolle der privilegierten
Minderheit auszunutzen, um sich für andere Minderheiten einzusetzen, für das
universelle Gelten von Menschenrechten und Chancengleichheit. Diesen Weg hat in
Deutschland Ignatz Bubis verkörpert. Ich weiß (das muss man wohl gegenüber
echten Frankfurtern wie Abi Melzer einräumen),
auch Bubis war kein Engel. Aber wie er mit den fremdenfeindlichen
Anschlägen in Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen umgegangen ist, das war es:
Ausnutzen der Rolle als privilegierte Minderheit, um Toleranz gegenüber anderen
Minderheiten einzufordern. Ein gewollter Nebeneffekt dieser Rolle war dabei
sicherlich, dass massive staatliche Unterstützung jüdischer Institutionen für
die Integration der ex-sowjetischen Zuwanderer auch unter Bubis weiterging.
Aber durch seine kluge, glaubhafte moderate politische Haltung gelang es ihm,
die Risiken dieser Privilegierung zu minimieren: Niemals in der Geschichte der
Bundesrepublik hatte die Repräsentation der Juden in Deutschland ein so gutes
Ansehen bei der allgemeinen Bevölkerung, inklusive der anderen Minderheiten.
Systematisch
erschwert wird dieser dritte Weg jüdischer Politik in Deutschland durch die
Verbohrtheit, mit der die israelische Politik die Menschenrechte von Nichtjuden
in Israel und Palästina behandelt. Zum echten Problem wird es, weil die
Repräsentanten der Juden in Deutschland diese Menschenrechtsverletzungen verschweigen,
schönreden, billigen und offen unterstützen. Dadurch ist der dritte Weg
verbaut: Man kann nicht in Deutschland Menschenrechte einfordern und
gleichzeitig deren Verletzung in Israel gutheißen.
So
bleibt nur noch der riskante Status einer privilegierten Minderheit, die sich
immer mehr vom Rest der Bevölkerung entfremdet und auf das Wohlverhalten der
Regierenden angewiesen ist.
Das
ist der Grund meiner Irritation, wenn unsere Repräsentantin als einzige
Vertreterin der Opfergruppen und der nichtchristlichen Religionen bei der
Grundgesetzfeier dabeisitzen darf.