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Leben mit dem Schwert
auf
einem Pulverfass
Oktober 2015
Auf Tel
Avivs Dizengoff-Straße sah ich
Anfang dieser Woche eine Taxi Plakatwand mit einer riesigen
israelischen Flagge, unter der
der Slogan stand:
Zusammen werden wir gewinnen.
Es ist kein neues Phänomen. In den letzten Jahren
- in Zeiten mit wachsender
Krise, Blutvergießen, Krieg, klugen Geschäftsleuten
und Beratern, erleben wir
den Wert von Patriotismus und werbendem Verkauf.
Auf der
Ibn Gvirol Str. ziemlich nah an dem
Taxi mit dem Slogan, waren Tausende
von Demonstranten, die sangen
„Wir stehen zusammen ohne Hass
und Angst“ und „Wir stehen zusammen ohne Rassismus und Angst!“. Derselbe Ruf
wurde in Jerusalem vor einer Woche gehört, und er soll auch morgen in Haifa
gehört werden. Was ist der Unterschied zwischen dem
„Zusammensein“ des Taxistandes und dem der Demonstranten auf der Straße?
Vor
allem die Tatsache, dass das zweite
„Zusammensein“ speziell und explizit Juden und Araber einschließt, die da
zusammen auf der Straße gehen und zusammen von einer Zukunft von Frieden in
diesem miserablen Land träumen.
Am
Montag brachten viele israelische Zeitungen das Foto eines auf dem Boden
liegenden Toten – ein klares Beispiel des schnell wachsenden Genre, das einige
Kolumnisten „Die Pornographie des Todes“ nennen. Der Mann, dessen toter Körper
von einem der Soldaten fotografiert wurde, der ihn vor 5 Minuten tötete, war der
22Jährige Raed Jaradat – ein Student
aus Sair, bei Hebron. Nach seinen Freunden hatte er sich sehr über das
Töten von Dania Irsheid, einem 17 jährigen Mädchen, das
letzte Woche von Soldaten
bei einem Hebroner Checkpoint getötet wurde, angeblich, als sie versuchte, ihn
mit dem Messer zu erstechen.) Diese Behauptungen werden wahrscheinlich nie auch
nur teilweise untersucht.) Wie
viele Jugendliche war Jaradat ein eifriger Benutzer der sozialen Medien. Zuletzt
waren einem Foto von ihrem im Blut
liegenden Körper die Worte hinzugefügt: „Stell dir vor, das ist Deine
Schwester.“
Am
Morgen ging Raed Jaradat
zur Anun-Kreuzung nördlich von Hebron, wo israelische Soldaten ihre
Pflicht taten und gerade aus den Panzern stiegen und nicht sehr aufmerksam
waren; Jaradat nützte den Augenblick und stach einem in den Hals.
Er wurde sofort von einem andern Soldaten getötet. Ein Ambulanzteam hob
ihn – Gilead Mazmur - auf und
versuchte, ihn auf dem Weg nach Jerusalem zu retten.
Ganz
ungewöhnlich brachte der 1. israelische TV-Kanal einiges von der
palästinensischen Seite. Der Reporter besuchte das Dorf Sair und zeigte, wie der
Bruder des Toten weinte: “Raed!,Raed nur
eine Stunde bevor dies geschah, sah ich ihn. Er sah wie sonst aus. Ich kann
nicht glauben, dass ich ihn nie wieder sehen werde.“
Dahinter standen Dutzende von Kindern aus dem Dorf und zündeten Reifen an
und sangen „ Raed – gesegneter Märtyrer! Wir werden
Raeds Weg folgen“ und bereiteten sich
auf eine Konfrontation mit den Soldaten vor, die ins Dorf kamen.
Der Reporter ging dann zum
Vater des Soldaten, der am Bettrand saß, als er nach drei Tagen Koma aufwachte:
dies ist das 2. Mal, dass mir dies geschieht. Im letzten Jahr wurde mein älterer
Sohn Niv in Gaza
verletzt,und ich eilte an sein Bett; nun ist es der jüngere, Gilead. Der
Mörder versuchte unsern Gilead, ein gutes Kind, musikalisch begabt und von jedem
geliebt, zu töten. Sieh, wie diese
Kinder im Dorf den Mörder bewundern und ihm folgen wollen. Ich fürchte, dass
diese Situation noch sehr lange
dauern wird.“
Ich
schrieb in den letzten Tagen immer wieder
an diesem Artikel. Seit ich damit begann, gab es noch mehrsolche Fälle:
mehr Palästinenser wurden bei ihrem
Versuch, mit Messern auf Soldaten loszugehen, getötet … Die Regierung entschied,
dass die Leichen den Familien nicht zurück gegeben werden, weil es bei jeder
Beerdigung Massen-Demonstrationen gab.
Die Regierungsentscheidung löste trotzdem eine Reihe von
Massendemonstrationen in den besetzten Gebieten aus: Man verlangte die
Rückgabe der Toten an die Familien.
…. Der Notaufnahmeraum war voll
Verletzter, zehn von scharfen
Schüssen …. andere waren vom Einatmen des Gases
betroffen…
In den
frühen Tagen der „3.Intifada“ oder der „Welle von Terror“
gingen viele Palästinenser durch israelische Städte und griffen
willkürlich Zivilisten an. In den letzten zwei Wochen waren alle diese
Messerstechereien in den besetzten Gebieten vor allem
gegen
bewaffnete Soldaten.
Der
Flächenbrand, dessen Ende in Ost-Jerusalem keiner voraussehen kann, wurde
durch offenkundige Akte von
Siedlern und israelische Politiker ausgelöst, die
versuchen, den Status quo
des Al-Aqsa- Moschee-Compounds in der Altstadt zu verändern, dass Juden dort das
Beten erlaubt wird. Das ist für viele Teilnehmer nur ein vorbereitender Schritt,
um den jüdischen Tempel dort aufzubauen, wo die Moschee steht. Der
US-Außenminister Kerry konzentriert
sich bei seinem Versuch, die Situation zu beruhigen. Er brachte es dahin, dass
mit Netanjahus Einverständnis Kameras an diesem sensiblen Ort angebracht werden.
Die sollen 24 Stunden am Tag
laufen, um abzusichern, dass es
nicht Israel ist, das den religiösen Status Quo verletzt. Das scheint aber zu
wenig und zu spät zu sein. Außerdem entfernte die israelische Polizei die
Kameras, die von muslimischen, religiösen Behörden angebracht worden waren. Nun
ging es um die Frage, wer befestigt die Kameras und wo genau auf dem heiligen
Berg, und wer würde autorisiert sein, das Filmmaterial auszuwerten. Jeder dieser
Punkte muss verhandelt werden, was Monate oder gar Jahre dauern
würde.
Die
palästinensische Nachrichtenagentur berichtete, dass Präsident Abbas von Kerry
gefragt wurde, wie man die Situation beruhigen könne und zitierte die Antwort:
„Die Unruhe wird von zornigen jungen Leuten angeführt, die alle Hoffnung
verloren haben, von Leuten, die ihre Unabhängigkeit suchen.
Auch Haaretz zitierte
palästinensische Offizielle, die sagten, die Spannungen um den Tempelplatz sind
wesentlich, aber der palästinensische Zorn dreht sich auch um
die anhaltende Besatzung, die Aggression der Siedler und die fehlende
politische Lösung. Falls Herr Kerry glaubt, dass man mit der Befestigung von
Kameras um die Al-Aqsa-Moschee eine Beruhigung erreichen könnte, dann irrt er
sich vollkommen. Wir sind auf die Straße gegangen, um zu sagen: nun reicht’s -
wir haben genug von der Besatzung
Abgesehen von dem Kamera-Problem
hatte der Ministerpräsident Netanjahu
nichts Ermutigendes für die Palästinenser (oder die israelischen Bürger).
Beim Knesset –Außenministerium und
Verteidigungs-Komitee bemerkte der PM
explizit : „ In dieser Zeit und in nächster Zukunft
bleibt die Kontrolle aller Gebiete bei uns. Die Leute fragen mich: Ob wir
immer mit dem Schwert leben müssen? Ja“. Er wolle keinen bi-nationalen
Staat – d.h. es gibt keine Pläne, die Gebiete zu annektieren; das
israelische Gesetz dort einzuführen und den palästinensischen Bürgern die
israelische Staatsangehörigkeit zu geben
und das Recht zu wählen. Der PM
möchte die jetzige Situation
beibehalten und die „vorübergehende“
Herrschaft beibehalten, bis sich die Bedingungen im Nahen Osten verändert
haben“ ….
Aber
wenn der Chef der Regierung Israels offen seine Absicht erklärt, weiter die
Kontrolle über die ganzen
(besetzten ) Gebiete zu haben, worüber soll dann noch verhandelt werden?
Bei
einer Konferenz im Netanya-Akademischen Kolleg wurde eine warnende Stimme
gehört: Brigadegeneral Guy Goldstein, stellvertretender
Koordinator von Regierungsangelegenheiten in den Gebieten: „Wir sind in
der Mitte einer Konfrontation, deren Ende nirgendwo in Sicht ist. Abu Mazen
führt keine Politik des Terrors. Er versucht, die Situation zu beruhigen. Aber
ohne einen politischen Prozess, bei dem beide Behörden - die israelische und die
palästinensische - aktiv beteiligt ist, wird die andauernde Konfrontation kein
Ende finden. Selbst, wenn es eine gewisse Ruhe gibt und ich wünsche, dass es
bald ruhige Tage ohne
weitere Angriffe gibt,
werden die Grundbedingungen dieselben bleiben. Wir sitzen auf einer Art von
Pulverfass.“
All dies
geschieht zusammen mit dem 20. Jahrestag
der Ermordung von Ministerpräsident Yitzhak Rabin. Die Tatsache, dass es
einen offiziellen – vom Gesetz vorgeschriebenen -
Jahrestag für prominente Politiker gibt, um
Trauer über den Mord eines PM auszudrücken, ohne
mit dem Elefanten mitten im Raum zusammen zustoßen: die Oslo-Abkommen,
die Yitzhak Rabin unterzeichnete
und um deret willen er ermordet
wurde. Naftali Bennett - Chef der
Partei „Jüdisches Heim“ – der zum
Bildungsminister befördert wurde , musste eine Rede halten, die Rabin beim
Gedenken der Regierung vor Hunderten von Jugendlichen lobte; auch
bei einer Live-Übertragung vom Bildungs-TV-Netzwerk. Benet sprach über
Rabin: was für ein großer Patriot und Zionist er war, ein Militär, der von
Israel träumte, bevor es errichtet
wurde und der eine bedeutende Rolle im Kampf von 1948 hatte, ein mutiger Soldat,
der den großen Sieg 1967 mit
errungen hatte und Jerusalem vereinigte.
Später hatte er eine politische Kariere und wurde unter nicht genau angegebenen
Gründen – die offensichtlich eine schreckliche Sache war, die uns alle lehrt,
wie wichtig es ist, Toleranz und Pluralismus aufrecht
zu erhalten, ermordet. Auch die andern Reden
dieser Reihe enthielten
nicht das Wort „Oslo“ und das Wort „Frieden“ war selten.
Diese
Worte wurden auch nicht in den
andern offiziellen Aufrufen von den
Organisatoren des Gedenkens
en masse veröffentlicht. Es fand am Samstagabend in Tel Aviv auf dem
Rabin-Platz statt, wo zehn-Tausende
erwartet wurden. Alle Stämme
Israels sind Teil unserer Gesellschaft und müssen sich vereinigen, um gemeinsam
jeden Disput unter uns nur mit demokratischen
Mitteln zu lösen. Israel steht vor dem Problem, schwierige, wichtige und
historische Entscheidungen zu treffen. Solche Entscheidungen müssen nur durch
einen demokratischen Prozess und in Übereinstimmung mit ethischen Werten gelöst
werden. Der Mord an Ministerpräsident Yitzhak Rabin muss als schlimmes
Warnungszeichen für die israelische Gesellschaft dienen.“ Aber was ist das Wesen
dieser schwierigen Notwendigkeit? Frieden? Gebiete? Besatzung? Palästinenser?
Die Organisatoren der Demonstration ließen bewusst solche Anspielungen
aus - mit dem staatlichen Ziel,
dass auch die vom rechten Flügel teilnehmen können..
Daniel
Bar-Tal, ein Professor der Soziopolitischen Psychologie der Universität Tel Aviv
und der Leiter eines jüdisch-arabischen Ko-Existenz-Instituts, sammelte in den
letzten Jahren seines Lebens viele Zitate aus Yitzhak Rabins Reden – Zitate, die
so deutlich anders waren als die der offiziellen Reden:
„Es ist
nicht länger unvermeidbar, dass wir ein Volk sind, das alleine wohnt, noch
stimmt es, dass die ganze Welt gegen uns ist. Wir müssen aus der Isolierung
ausbrechen, die uns fast 50 Jahre in ihrem Griff hielt. Wir müssen die
weite Reise in Richtung Frieden,
Versöhnung und internationale Zusammenarbeit machen. Wenn wir dies nicht tun,
werden wir auf einer leeren Station allein bleiben (13. Juli 1992)
„Wir
können an jede Tür klopfen, jeden Versuch abschneiden, um Frieden zu machen.
Moralisch haben wir das Recht, uns zu weigern mit der PLO am Verhandlungstisch
zu sitzen, eine Hand zu schütteln, die ein Messer gehalten hat oder eine Pistole
zog. Wir können mit Abscheu jedes
Angebot der PLO zurückweisen – das
würde bedeuten, wir würden im selben
Umfeld leben, in dem wir bis jetzt gelebt haben: endloser Krieg, Terrorismus und
Gewalt. Aber wir haben den andern Weg gewählt, den Weg, der uns eine Chance
lässt, die Hoffnung gibt“ (21. Sept 1993).
„Wir
sind sicher, dass beide Völker auf demselben Stück Land leben können, jeder
unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum, wie die Propheten gesagt haben;
wir können diesem Land von Felsen, diesem Land voller Grabsteine, den richtigen
Geschmack von Milch und Honig geben. In dieser Zeit bitte ich das
palästinensische Volk dringend:
Unsere palästinensischen Nachbarn, ein ganzes
Jahrhundert Blutvergießen hat in
uns Hass gegen jeden von euch
gepflanzt – heute strecken wir einander im Frieden die Hände entgegen (4. Mai
1994).
Yigal
Sarna schrieb heute in Yediot Ahronot : „ Am Samstagabend
will ich zu der Rally gehen, weil das alleine übrig geblieben ist . Ich
will dort sein, wo das Blut vergossen wurde – was die halbe Bevölkerung
zu vergessen versucht und das die
religiösen Zionisten als eine gerechte Strafe ansehen, die dem bösen
Rabin zugeteilt wurde. Ich werde also noch einmal zu der Rally gehen, um die
schrecklichen Konsequenzen zu betrauern: die Umwandlung von Rabins Israel zu dem
von Bibi. Um die Klage des Trübsinns derer zu hören, die einst das Land führten
und deren Platz von jenen
abgerissen wurde, die versuchen, den Tempel wieder aufzubauen;
sogar auf Kosten
eines ewigen Krieges
mit anderthalb Milliarden Muslimen. Ich will dort stehen und mich an
Rabin erinnern und an meinen Vater, der eine halbe Generation älter als er war –
und die beide dasselbe wünschten; einen israelischen Staat, der als ein Teil des
Nahen Ostens lebt , ein florierendes Mitglied der Familien der Nationen – nicht
ein Ghetto, das auf Rache und Blutvergießen gebaut ist.
Peace now und Meretz
veröffentlichten für ihre Unterstützer
einen Aufruf, an der Rabin Rally als großer, solider Block teilzunehmen.
„ so dass unsere Präsenz Rabins
Weg zum Frieden und den zwei Staaten
- für die er ermordet wurde -
betont wird. Es ist dringend nötig, heute auf diesen Pfad zurück zu
gehen. Wir stehen zusammen auf dem Rabinplatz und sagen dem Ministerpräsidenten,
dass wir nicht damit einverstanden sind, für immer mit dem Schwert zu leben. Es
gibt Hoffnung und Hoffnung wird vorherrschen.“
Auch wir
von Gush Shalom
werden bei dieser Rally dabei sein, um uns an die jungen Leute zu wenden,
die an dem Tag, an dem Rabin ermordet wurde, noch nicht
geboren waren und die Israels letzte und beste Hoffnung sind. Immer
nahmen diese jungen Leute begeistert die Schilder mit den beiden
Flaggen von Israel und Palästina, Seite an Seite
in die Hand und trugen sie als Abzeichen auf ihren Kleidern. Auch dann,
als das Thema Frieden mit den
Palästinensern bei den Reden vom
Podium nicht gehört wird.
Drei
Tage vor der Rally ging ich über den noch ganz leeren Rabinplatz. Ich ging am
Denkmal vorbei, dort wo der Mord geschah, und ging weiter. Rund um den Platz
hatten die offiziellen Organisatoren große Fotos aus Rabins Leben hingehängt.
Die Fotos waren sorgfältig ausgewählt. Auffällig abwesend war das historische
Händeschütteln mit Arafat, auch kein einziges aus der Oslo-Ära. Da hing doch
tatsächlich eines mit König Hussein
von Jordanien, der Frieden mit
Jordanien, der keine territorialen Zugeständnisse
machte, ist weniger kontrovers. Es gab Fotos von Rabin in Uniform während
seiner Militär-Karriere und eines mit US-Präsident Gerald
Ford aus der Zeit, in der
Rabin israelischer Botschafter in Washington war.
Bemerkenswert ist ein Foto: es
zeigt einen Besuch Rabins in Ramallah – ein vor-Oslo-Besuch. Das war noch der
alte Rabin, der „eine; der der PLO nur auf dem Schlachtfeld begegnen will“ und
der den Soldaten den Befehl gab, „ den
Aufständischen der 1. Intifada die Arme und Beine zu brechen.“
Aber genau so wagte er auf
einer Straße in Ramallah zu stehen, um mit einer großen Gruppe von
palästinensischen Passanten zu sprechen. Der Ausdruck auf dem Foto gibt einen
deutlichen Eindruck, dass Rabin ernsthaft zuhörte, was sie zu sagen
hatten.
( dt.
Ellen Rohlfs, die auf dem Platz war, als Rabin ermordet wurde. Ich erlebte auch
die Kerzenkinder in den folgenden Tagen, die trauernden Jugendlichen auf dem
Platz und als der Platz auf Rabinplatz umbenannt wurde. In Erinnerung daran
übersetzte ich diesen Artikel von Adam
Keller)