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Adam Keller, 17. April 2010
Das ganze Land ist voller Flaggen/ Die Menschen tanzen/,
die Menschen sind glücklich/
Die Kinder vergnügt,/ heute ist Israels großer Feiertag.“ So lernten und sangen wir im Kindergarten in Tel Aviv.
Am nördlichen Eingang von Holon, der Stadt, in der ich jetzt lebe, kann man die Ruine eines arabischen Hauses sehen, eines der wenigen Überreste des palästinensischen Dorfes Tel a-Rish. Ein Dorf, das im Mai 1948 – nicht durch Zufall - zu existieren aufhörte: das ist genau die Zeit, in der Israel entstand. Heute morgen bin ich dort vorbeigegangen und sah, wie diese Ruine von einem riesigen Plakat der Bank Hapoalim völlig bedeckt war, auf dem ein niedlicher Zwerg und ein ordentlich gekleideter Bankbeamter mit Anzug und Krawatte je das Ende einer Kordel hielten, an der viele blau-weißen Flaggen hingen. Darüber prangten in großen Buchstaben die Wörter: „In diesem Jahr hissen wir alle die Fahne!“ ( und natürlich das Logo der Bank).
„Die Kordel voller Flaggen symbolisiert unsere Liebe zum Land. Blau-und-weiß ist der bewegendste Ausdruck der Unabhängigkeit des jüdischen Volkes in seiner Heimat.“ So sagte der Vorsitzende des Bankvorstandes Yair Saroussi, der dafür gesorgt hat, dass nicht weniger als 1,2 Millionen Flaggen mit der Tageszeitung frei verteilt wurden. Er bestellt sie in China, wo Flaggen viel billiger als im Land des jüdischen Volkes hergestellt werden können.
Und nicht nur die blau-weiße Flagge wird auf den Straßen den 62.Geburtstag von Israels Unabhängigkeit markieren. Auch die amerikanische Flagge wird vielfach zu sehen sein. Politische Korrespondenten mögen weiter über den massiven Machtkampf zwischen dem Ministerpräsidenten von Israel und dem Präsidenten der USA berichten – aber das scheint die gewöhnlichen Bürger nicht weiter zu stören. Sie eilen zum nächsten Laden, um die Flagge von Onkel Sam zu einem Sonderpreis zu erwerben.
Und morgen Abend wird es wieder ein großes Spektakel geben. Die Straßen werden bis Mitternacht voller Menschen sein. Aus den Lautsprechern werden Lieder geplärrt werden, Kinder werden mit Plastikhammern liebevoll auf die Köpfe der anderen klopfen und weißen Schaum in die Gesichter spritzen. Auf von den Gemeinden sorgfältig vorbereiteten Tanzplätzen wird getanzt werden. Es wird nicht mit dem spontanen Enthusiasmus der durchtanzten Nacht von 1947 zu vergleichen sein, als die Mitglieder eines unterdrückten Volkes, das gerade die schrecklichste Vernichtung durchgemacht hat, hörten, die internationale Gemeinschaft habe entschieden, ihnen einen eigenen Staat zu gewähren. (Andere sollten zur selben Zeit auch ihren eigenen Staat erhalten – aber nur wenige in Israel wollen sich daran erinnern …)
Seitdem ist viel Wasser (den Jordan) hinuntergeflossen und viel Blut wurde vergossen. Der 62-jährige Staat ist ein starker Staat geworden, der die mächtigste Armee der Region besitzt, mit einer Menge Panzern, Artillerie, Raketenbooten, Kampfflugzeugen und Atombomben (Deren Existenz er noch immer leugnet) . Seit 43 Jahren – also seit zwei Drittel seines Bestehens – ist Israel ein Besatzungsstaat, der eine brutale Militärherrschaft über die Palästinenser in der Westbank und den Gazastreifen aufrecht erhält. Die jungen Israelis, die dieses Jahr auf diesen Straßen wandern und nach etwas suchen, das die meisten von ihnen nicht benennen können, wurden in diese Realität geboren und kennen nichts anderes.
Jeeps und Bulldozer feiern auch. Ein paar Tage vor dem 62. Jahrestag von Israels Entstehung, fielen bewaffnete Kräfte - begleitet von riesigen D9-Bulldozern – in palästinensische Städte in der Westbank ein und zerstörten systematisch palästinensische Häuser. Acht Militärjeeps kamen in Kifl Haris, südlich Nablus an, um die Bulldozers zu schützen, die das zweistöckige, vor kurzem fertig gestellte Haus von Maher Sultan zerstörten. Es war das Haus seiner Familie mit fünf Kindern. Nach der Zerstörung des Sultanhauses machten die Bulldozer weiter und zerstörten noch zwei Läden am Rande des Dorfes.
Zur selben Zeit überfiel eine große Militärtruppe El Khader westlich von Bethlehem, um dort das Haus von Ali Mussa zu zerstören, in dem neun Menschen lebten einschließlich eines einjährigen Babys. Und in Beit Sahour wurde eine Fabrik flach gemacht, die 1000 qm bedeckte. Netanyahu rühmt sich, einen „wirtschaftlichen Frieden“ gemacht zu haben und rühmt das Aufblühen der palästinensischen Wirtschaft. Sag das mal den Bewohnern von Beit Sahour !
„Ein Volk, das ein anderes Volk unterdrückt, ist nicht frei“, schrieb Karl Marx vor 150 Jahren. Zu jener Zeit dachte er vor allem an die britische Herrschaft über Irland und die Unterdrückung seiner Bewohner. Als er dies schrieb, dachten viele Engländer, dass ihre Herrschaft über Irland nie aufhören würde.
(dt. Ellen Rohlfs)