Israel Palästina Nahost Konflikt
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„Schlimmer
als Apartheid“
Gideon Levy,
10.11.09
Ich
dachte, sie würden sich in den Gassen des Balata-Flüchtlingslagers, in der
Kasbah (Altstadt von Nablus) und am Hawara-Checkpoint wie
zu Hause fühlen. Aber sie sagten: da gibt es keinen Vergleich; für sie
ist das israelische Besatzungsregime
schlimmer als irgend etwas, das sie unter der
Apartheid kannten. In dieser Woche besuchen 21 Menschenrechts-aktivisten aus Südafrika
Israel. Unter ihnen sind Mitglieder von Nelson Mandelas afrikanischem
Nationalkongress. Mindestens einer von ihnen nahm am bewaffneten Kampf teil, und mindestens zwei waren im
Gefängnis. Auch zwei Richter vom Obersten Gericht und ein früherer Vertreter
eines Ministers, Mitglieder vom Parlament, Anwälte, Schriftsteller und
Journalisten waren dabei. Schwarze und Weiße, etwa die Hälfte von ihnen Juden,
die heute mit der Haltung der
konservativen jüdischen Gemeinschaft in ihrem Land im Konflikt sind. Einige
waren schon früher hier, andere sind das erste Mal hier.
Fünf
Tage lang statten sie Israel einen unkonventionellen Besuch ab – ohne Sderot, die IDF und das Außenministerium (
aber mit Yad Vashem
dem Holocaust-Memorial und einem Treffen mit
der Präsidentin des Obersten Gerichtshofes). Die meiste Zeit sind sie in
den besetzten Gebieten, wohin offizielle Gäste selten hingehen – Orte, die auch
von den meisten Israelis gemieden werden.
Am
Montag besuchten sie Nablus, die am
meisten eingesperrte Stadt in der Westbank.
Von
Hawara bis zur Kasbah, von der Kasbah nach Balata,
von Josephs Grab zum Kloster an der Jakobsquelle. Sie fuhren von Jerusalem über
die Schnellstraße 60, beobachteten die
abgesperrten pal. Dörfer, die keinen Zugang zur Hauptstraße haben, sahen
die „Straßen der Einheimischen“ die unter der Hauptstraße entlang laufen. Sie
sahen und sagten nichts. Unter der Apartheid gab es keine getrennten Straßen.
Sie gingen stumm durch den Hawara –Kontrollpunkt;
solche Sperren hatten sie nie. Jody Kollapen,
der Chef der Anwälte für Menschenrechte im Apartheidregime beobachtete
schweigend. Er sah am Checkpoin die „Karusells“ durch
die die Mengen von Leuten auf ihrem Weg zur Arbeit, zu Familienbesuchen oder
auf ihrem Weg zum Krankenhaus gedrängt werden. Israels Friedensaktivistin Neta Golan, die seit mehreren Jahren in der belagerten
Stadt lebt, erklärt, dass es nur ein
Prozent der Bevölkerung erlaubt sei, die Stadt mit dem PKW zu verlassen und die
unter dem Verdacht stehen, dass sie mit Israel kollaborieren. Nozizwe Madlala-Routledge, eine
frühere stellvertretende Verteidigungsministerin und Gesundheitsministerin und
augenblickliches Mitglied des Parlamentes, eine angesehene Person in ihrem
Land, bemerkte eine kranke Person, wie sie auf einer Tragbare
durchgetragen wurde. Sie war geschockt. „Den Menschen
die medizinische Versorgung zu nehmen? Menschen sterben in solch einer Lage“
sagte sie mit leiser Stimme.
Der
Reiseleiter – ein palästinensischer Aktivist – erklärt, dass Nablus von sechs
Checkpoints umgeben ist. Bis 2005 war einer von ihnen offen. „ Die Checkpoints
stehen angeblich aus Sicherheitsgründen – aber jeder ,
der einen Anschlag machen will ,zahlt 10 Schekel für ein Taxi und fährt auf Umwegen oder geht über die
Hügel.
Der
wirkliche Grund ist der, den Menschen das Leben unmöglich zu machen. „Die
zivile Bevölkerung leidet“, sagte Said Abu Hilja, ein
Dozent der Al-Naja-Universität in der Stadt.
Im
Bus lernte ich meine beiden Nachbarn näher kennen. Andrew Feinstein, Sohn eines
Holocaustüberlebenden, der mit einer muslimischen Frau aus Bangladesh
verheiratet ist, und sechs Jahre als ein
MP für den ANC gedient hat; und Nathan Gefen, der
einen männlichen Muslimpartner hat, und in seiner
Jugend ein Mitglied der rechten Betar-Bewegung war. Gefen ist aktiv im Komitee gegen Aids in seinem von Aids
geplagten Land.
„Schauen
sie nach rechts,“ sagte der Guide durch den
Lautsprecher,“ auf der Spitze jedes Berges , dem Garizim
und dem Ebal,
ist ein israelischer
Armeestützpunkt, der uns beobachtet. „Hier sind Löcher von Gewehrkugeln
in der Mauer einer Schule, dort ist Josephs Grab, bewacht von einer Gruppe
bewaffneter palästinensischer Polizisten. Hier war ein Checkpoint und hier
wurde vor zwei Jahren eine vorübergehende Frau erschossen. Das
Regierungsgebäude, das hier einmal stand, wurde von F16-Flugzeugen bombardiert
und zerstört. Tausend Bewohner von Nablus wurden während der 2. Intifada
getötet, 90 von ihnen bei der Operation Schutzschild – mehr als in Jenin. Vor zwei Wochen, als der Waffenstillstand
anfing, hat Israel hier die letzten beiden Morde begangen. Und in der letzten
Nacht kamen wieder Soldaten und verhafteten Leute.
Es
ist schon lange her, dass Touristen hierher kamen. Etwas ist neu. Anstelle der
vielen an die Wände geklebten Gedenkposter, erinnern Marmorgedenksteine und Metallplaketten an jeder Ecke der Kasbah
an die Getöteten.
„Bitte
werfen sie kein Papier in die Toiletten, weil das Wasser sehr knapp ist,“ wird den Gästen in den Büros des Volkskomitees gesagt, das
sich hoch oben in einem besonderen Steingebäude befindet. Der frühere stellvertretende Minister
setzte sich oben an einen Tisch. Hinter ihm das Portrait von Arafat, Abu Jihad
und Marwan Barghouti, der im Gefängnis sitzende Tanzimführer. Vertreter der Kasbah beschreiben das Märtyrium, dem sie ausgesetzt sind. 90% der Kinder des
alten Stadtteils leiden an Anämie und Unterernährung, die wirtschaftliche
Situation ist hart, die nächtlichen Überfälle gehen weiter, einige der Bewohner
dürfen die Stadt gar nicht verlassen. Wir machen einen kleinen Rundgang auf den
Spuren der Zerstörungen der IDF während der letzten Jahre.
Edwin
Cameron, ein Richter am Obersten Gerichtshof sagt seinen Gastgebern: „Wir kamen
her, wussten gar nichts und wollen wissen, was hier los ist. Wir sind geschockt
von dem, was wir bis jetzt gesehen
haben. Uns wird klar, dass diese Situation unerträglich ist. Ein an die Mauer
geklebtes Poster zeigt das Foto eines Mannes, der 34 Jahre in einem israelischen Gefängnis saß .
Mandela war sieben Jahre
weniger in einem Gefängnis. Einer der jüdischen Mitglieder der
Delegation ist bereit zu sagen … dass der Vergleich mit der Apartheid sehr
relevant sei und dass die Israelis das nach Rassen getrennte Regime noch
effektiver ausgebaut hätten als die Südafrikaner. Doch wenn er dies öffentlich
sagen würde, würde er von den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde angegriffen,
sagt er.
Unter
einem Feigenbaum im Zentrum der Kasbah erklärt einer der palästinensischen Aktivisten:
die israelischen Soldaten sind Feiglinge. Sie haben mit Bulldozern breitere Durchfahrten geschaffen ( und Häuserzerstört) und dabei eine Familie aus
drei Generationen getötet, die Shubi-Familie. Hier ist das Steindenkmal für diese Familie:
Großvater, zwei Tanten, Mutter und zwei Kinder. Die Worte „Wir werden nicht
vergessen – wir werden nie vergeben“ steht eingeritzt in den Stein.
Nicht
weniger schön als der berühmte Pariser Friedhof Père
Lachaise ruht der Zentrale Friedhof im Schatten eines großen Nadelwaldes. Unter
den Hunderten von Grabsteinen ragen die der Intifada besonders heraus. Hier ist
das frische Grab eines Jungen der erst vor wenigen Wochen am Hawara-Checkpoint getötet wurde. Die Südafrikaner gingen
still zwischen den Gräbern und machten eine Pause an dem Grab der Mutter
unseres Guide, Abu Hijla. Sie wurde mit 15 Schüssen
erschossen. „Wir versprechen dir, wir
werden nicht aufgeben,“ schrieben ihre Kinder auf den
Grabstein der Frau, die als Mutter der Armen bekannt war.
Wir
haben Lunch in einem Hotel der Stadt und Madlala
Routledge spricht: „Es fällt mir schwer zu beschreiben, was ich fühle. Was ich
hier sehe, ist schlimmer als das, was ich erwartet habe. Aber ich bin auch
davon ermutigt, hier mutige Leute vorzufinden. Wir wollen euch in eurem Kampf
mit allen nur möglichen Mitteln unterstützen. Wir haben einige Juden unter uns,
und wir sind sehr stolz, dass sie es sind, die uns hierher brachten. Sie
demonstrieren damit ihr Engagement, euch zu unterstützen. In unserm Land war es
uns möglich, alle Kräfte in einem Kampf zu vereinen, und es gab mutige Weiße,
einschließlich Juden, die sich dem Kampf anschlossen. Ich hoffe, wir werden
noch mehr Juden sehen, die sich Eurem Kampf anschließen.
Sie
war stellvertretende Ministerin von 1999-2004; 1987 verbrachte sie einige Zeit
im Gefängnis. Später fragte ich sie, in welcher Weise die Situation hier
schlimmer als Apartheid sei. „Die absolute Kontrolle des Lebens der Menschen,
der Mangel an Bewegungsfreiheit, die Präsens der Armee überall, die totale
Trennung und die extensive Zerstörung, die wir sahen.“
Madlala-Routledge denkt, dass der Kampf gegen die
Besatzung nicht von Erfolg gekrönt sein wird, weil die USA Israel unterstützen
– dies war nicht der Fall mit der Apartheid, die mit Hilfe der internationalen
Gemeinschaft zerstört wurde. Hier wird die rassistische Ideologie noch durch
die Religion verstärkt. Das war in Südafrika nicht der Fall. Wenn man vom
„verheißenen Land“ und vom „auserwählten Volk“ spricht, so kommt hier noch eine
religiöse Dimension zum Rassismus, die wir so nicht hatten.
Gleich
hart sind die Bemerkungen des Chefredakteurs der Sunday
Times von Südafrika Mondli Makhanya,
38: Wenn man etwas von ferne beobachtet, weiß man, dass es schlimm ist, aber
man weiß nicht wie schlimm. Nichts konnte einen vorbereiten auf das, was wir
hier gesehen haben. In gewissem Sinn, ist es viel schlimmer, viel schlimmer als
das, was wir durchgemacht haben. Der Grad von Apartheid, der Rassismus und die
Brutalität sind schlimmer als die schlimmste Periode der Apartheid.
„Das
Apartheid-Regime sah die Schwarzen als minderwertig an; ich denke, die Israelis
sehen die Palästinenser gar nicht als Menschen an. Wie kann ein menschliches
Gehirn diese totale Trennung konstruieren, die getrennten Straßen? die Checkpoints?
Was wir durchgemacht haben, war schrecklich, schrecklich – und doch gibt es
keinen Vergleich. Hier ist es schrecklicher. Wir wussten auch, dass dies eines
Tages ein Ende hat. Hier ist aber kein Ende in Sicht. Das Ende des Tunnels ist
schwärzer als schwarz.
„
Unter der Apartheid trafen sich Schwarze und Weiße an gewissen Orten. Die
Israelis und Palästinenser treffen sich gar nicht mehr. Die Trennung ist total.
Mir scheint, als wollten die Israelis, dass die Palästinenser ganz
verschwinden. So etwas gab es bei uns nicht. Die Weißen wollten nicht, dass die
Schwarzen verschwinden. Ich sah die Siedler in Ost-Jerusalem – es sind Leute,
die andere aus ihren Wohnungen vertreiben.“
Danach
machten wir noch einen Spaziergang durch die Gassen von Balata, das größte
Flüchtlingslager in der Westbank, ein Ort, der vor 60 Jahren als vorübergehende
Bleibe für 5000 Flüchtlinge dienen sollte. Es ist jetzt von 26 000 bewohnt. In
den dunklen Gassen, die nur die Breite
für schlanke Leute haben, herrschte unterdrückerische Ruhe. Jeder war mit seinen
Gedanken beschäftigt – nur die Stimme des Muezzin
brach durch die Stille
(dt.
Ellen Rohlfs)