Israel Palästina Nahost Konflikt
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Die
letzte Zuflucht
Gideon Levy, 27.August 2009
Der
Zeitpunkt des kleinen Trubels über einen Artikel in der Los Angeles Times von Neve Gordon, der Politik und Regierung an der Be’er Sheva- Universität
Ben-Gurion lehrt, und zum Boykott gegen Israel aufruft, war irgendwie grotesk.
Kaum waren die Kehlen derer trocken, die
zu seiner Entlassung, zur Aufhebung seiner Staatsbürgerschaft, zu seiner
Vertreibung – und wenn alles nichts hilft - zu seiner Steinigung aufriefen,
tauchte eine andere Petition im Internet auf, die zu einem Boykott von IKEA
aufrief. Ein schlechter Artikel auf der letzten Seite eines schwedischen
Boulevardblattes genügt, um hier mit 100
Unterschriften für einen Verbraucherboykott aufzurufen. Die Türkei hat sich
kaum vom Boykott unserer Rucksacktouristen erholt, weil ihr Ministerpräsident die Frechheit hatte, unsern Präsidenten
anzugreifen – und schon sind wir dabei,
auf unser nächstes Boykottziel loszugehen. Es ist unser Recht.
Es
ist ziemlich sicher, dass die meisten der Boykotter
von Antalya und IKEA dieselben Leute sind, die den israelischen Professor
zerreißen wollen, der es wagte, dieselbe zivile Waffe anzuwenden, ankündigte.
Den Israelis zufolge, die ärgerlich gegen Gordon losdonnerten, ist die
Auferlegung eines Boykottes ein legitimes, vielleicht sogar effizientes Mittel
von Strafe, das gegen unsere Feinde -
die wirklichen und die eingebildeten - eingesetzt werden kann. Gordon, ein
israelischer Patriot, der in einer Fallschirmtruppe gedient hat und der seine
beiden Kinder hier aufzieht, denkt, dass eine 42 Jahre anhaltende
verbrecherische Besatzung
wenigstens so viel internationalen Protest hervorrufen sollte wie ein
Artikel in einer schwedischen Zeitung,
und dass dieser Protest in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden könnte und sollte . Die Israelis denken, dass
ein skurriler Artikel ausreicht, um
alles Schwedische zu strafen und
ein Kommentar eines Ministerpräsidenten genügt, um dasselbe gegen alles
Türkische zu machen. Gordon denkt, die Besatzung genüge, um alles Israelische zu boykottieren.
Seit
der Zeit des Embargos gegen die jüdische Gemeinde durch den Rabbiner Gershom um die Wende des 1. Jahrtausend ( in Mainz), das
wegen Straftaten verhängt wurde,
die sicher viel weniger schwer waren als die
Misshandlung eines 3,5 Millionen-Volkes. Es ging damals darum, dass man nicht
mehr als eine Frau heiraten dürfe, sich nicht von einer Frau ohne ihr
Einverständnis trennen solle, keine private Post lesen solle ohne des Adressaten Einverständnis - der Boykott war eine gerechte und passende
zivile Waffe. Und seit es den Boykott gegen das Apartheidregime in Südafrika
gab, ist der Boykott eine wirksame Waffe. Israel verlangt seine Verhängung
gegen den Iran, die Amerikaner wollen ihn gegen Nordkorea verhängen und beide
fordern ihn gegen die Hamasregierung im
Gazastreifen und noch schlimmer gegen
alle Bewohner von Gaza. Israel und die ganze internationale Gemeinschaft
verhängen einen Boykott über 1,5 Millionen Gazabewohner,
nur weil sie bei der demokratischen Wahl ihre Stimme nicht der richtigen Partei
gegeben haben, die die internationale Gemeinschaft verlangte. Ein Land, das
ständig den Boykott von der Welt verlangt und selbst Boykott verhängt, kann
nicht Opfer spielen, wenn dieselbe Waffe gegen es selbst angewendet wird. Wenn
die Wahl der Hamas ein Grund zum Boykott ist, dann ist die Besatzung ein weit
größerer Grund. Die Tatsache, dass Israel eine Lüge lebt – und vorgibt, es gäbe keine Besatzung ,
sie gerecht, nur vorübergehend und
unvermeidbar sei – macht den Kampf gegen sie nicht weniger legitim. Sagen wir
also die Wahrheit: der Besatzer verdient, boykottiert zu werden. So lange wie die
Israelis keinen Preis für die Besatzung
zahlen, wird die Besatzung dauern. Deshalb gibt es für die Gegner der Besatzung
nur einen Weg, konkrete Mittel zu nehmen, die die Israelis verstehen, dass die
Ungerechtigkeit, die sie begehen, ein Preis kostet.
Jeder,
der gegen die Besatzung kämpft, ist nicht weniger ein Patriot als ein Soldat,
der einen gefesselten Soldaten anschießt oder ein Siedler, der Land stiehlt und
sein Haus darauf baut – in Missachtung jedes Gesetzes. Sie geben Israel einen
viel übleren Namen als ein Dozent, der zum Kampf gegen die Besatzung aufruft –
man muss nur Israels Kritiker fragen. Es sind genau die Gordons, die von innen
kämpfen, die den ungeheuren Schaden ein bisschen reparieren, der Israels Image
in den letzten paar Jahren angetan wurde. Sie beweisen der Welt, dass trotz allem Israel nicht monolithisch ist,
dass nicht alle Israelis dieselbe Sprache sprechen, dass nicht alle Israelis Liebermans und Kahanisten sind
und dass Israel vielleicht schließlich doch eine Art Demokratie mit
Redefreiheit ist - wenigstens für seine jüdischen Bürger.
Gordon
ging einen Schritt weiter. Boykott ist der nächste logische Schritt, glaubt er,
weil alles andere fehlgeschlagen ist. 42 Jahre
erfolgloser Kampf von innen und eine Besatzung, die nur immer schlimmer
wird, diktiert, den Kampf zu verstärken. Wir versuchten mit Demonstrationen,
aber die Massen kamen nicht; wir versuchten mit Konferenzen, die aber
nirgendwohin führten. Blieb uns also nur noch, nachzugeben und mit unserm Leben
routinemäßig weiter zu machen wie alle Israelis, die Augen zu verschließen
und das Beste zu hoffen – oder den Kampf
zu intensivieren – in Verbindung mit der Intensivierung der Besatzung. Der
israelische Soldat, der gegen zivile Demonstranten in Bilin
oder Na’alin schießt, fast wie im Iran, begehen
einen weit größeren illegalen Akt gegen
die Rechtsstaatlichkeit als jene, die
nach einem internationalen Boykott aufrufen. Aber keiner wird deren Staatsbürgerschaft
in Frage stellen.
Gordon
wählte, nicht wie die meisten seiner
feigen Kollegen oder Nationalisten, der Herde nachzufolgen. Jeder hat das
Recht, zu denken, dass ein Israeli, der Israel nicht boykottiert, nicht das
Recht hat, andere dazu aufzurufen oder dass der Aufruf für einen externen Boykott die letzte Option eines
israelischen Patrioten ist, der nicht das Land verlassen und alles aufgeben
will. Doch für die bösartigen Angriffe
auf Gordon sollte es keinen Platz geben. Der Gipfel von Absurdität wurde von der Präsidentin der Ben-Gurion-Universität Prof. Rivka Carmi erreicht. Sie war von dem Artikel entsetzt, der von einem
Mitglied ihrer Fakultät veröffentlich wurde. Sie fürchtet, dass davon die
Spenden für die Universität von amerikanischen Juden betroffen sein könnten.
Hier erscheint ein neues Kriterium guter
Bürgerschaft und Moral: der Schaden für unsere Schnorrerei. Es stellt auch ein
neues Maß für die akademische und zivile Redefreiheit dar: wenn die Sponsoren von Beverly Hills
oder Miami Beach etwas ärgert, dann
sollten wir nicht laut reden. Psst! – die Leute
spenden.
Die
Reaktionen des offiziellen Israel und der allgemeinen Öffentlichkeit sind seit kurzem reizbarer und aggressiver geworden. Ein Artikel in
einer schwedischen oder einer amerikanischen Zeitung, ein Bericht von „Breaking the Silence“
oder Human Rights Watch, oder was auch immer mit der offiziellen, militaristischen,
nationalistischen Linie oder der des
rechten Flügels nicht konform geht, wird verunglimpft, für illegitim erklärt
und mit Hass überschüttet. (Das ist ein ermutigendes Zeichen für andere.)
Wenn
Israel sich so sicher wäre, dass es
Recht hätte, dann würde es nicht so erschrocken und aggressiv gegen jeden sein,
der gegen die offizielle Linie ist. Wenn wir davon überzeugt wären, dass die
Soldaten von „Breaking the
Silence“ nur Geschichten fabrizieren und Gordons Aufruf zum Boykott und
seine Beschreibung Israels als eines Apartheidstaates nicht den Tatsachen
entsprechen würden, dann würden wir sie nicht so beschimpfen. Nicht nur der
Minister für religiöse Angelegenheiten Yaakov Margi
von Shas, sondern auch der Bildungsminister Gideon Sa’ar drückten ihre Empörung aus und der Minister für
Wissenschaft und Technologie Daniel Hershkowitz, der
zur Entlassung von Gordon aufrief . Es sind zwei
Minister, die angeblich die Verantwortung haben, Bildung und Werte zu
vermitteln, die an vorderster Stelle beim Angriff gegen Gordon stehen. Es ist
nicht nur eine Frage von grundsätzlicher Intoleranz oder selbst subversiver
Meinungen, deren Ausdruck ein fundamentaler Wert in jeder Demokratie ist. Es
ist auch eine Manifestation von Nervosität und Aggressivität, die beweisen, was
Gordon und andere wie er in Israel und
im Ausland deutlich zeigen wollen, dass im Dritten Königreich von Israel etwas sehr
Grundlegendes und sehr Tiefgehendes
nicht in Ordnung ist.
(dt.
Ellen Rohlfs)