Israel Palästina Nahost Konflikt
Infos
Nur
Frechheit – sonst nichts
Gideon Levy, Haaretz,8.10.2009
Ist
der Diskurs, den wir führen – falls wir überhaupt einen Diskurs unter uns und mit unserem Gesprächspartner führen –
legitim? Seitdem die Gebiete besetzt wurden, ist hier eine öffentliche Debatte
über ihre Zukunft und was dort getan
wird, geführt worden. Die Fragen kamen und gingen, und alle im selben verfluchten Ton: Geben?
Abtreten? Unter welchen Bedingungen? Im
Tausch gegen was? Die Siedlungen – ja oder nein; die Straßensperren – ja oder
nein; die Morde, die Verhaftungen, das Verhungern lassen, das Absperren, das
Einkesseln, die Ausgangssperren, das Aufdecken, die Folter, die
Bewegungsfreiheit , die Wahl oder das Ritual – ja oder nein.
Ein
ausgezeichnetes Beispiel wurde diese Woche durch den Jerusalemer Polizeichef Aharon
Franco geliefert, der sagte, die Muslime der Stadt, seien „undankbar“. Für was?
Wir gaben ihnen die Erlaubnis – hier haben wir das Wort „geben“ schon wieder
– auf dem Tempelberg zu beten, und sie
antworteten mit Gewalt.
Tatsächlich
haben wir kein moralisches Recht, diese Diskussion zu führen. Zunächst einmal ist es ein Lüge,
dass wir den( allen) Muslimen die Erlaubnis zum Gottesdienst gegeben haben –
nur den Männern über 50. Noch wichtiger ist, wer sind wir denn, ihnen Rechte
„zu geben“, auf die sie sowieso – in jeder Demokratie - ein Anrecht haben? Könnte man sich vorstellen,
dass wir junge Juden daran hindern, zur Klagemauer zu gehen? Können
Palästinenser davon träumen, einen eigenen „Jerusalem-Marsch“ abzuhalten?
Der
Verteidigungsminister Ehud Barak und seine Sprecher rühmen sich, ein paar
Straßensperren abgebaut zu haben, und der stellvertretende Generaldirektor, der
für die Frequenzen im Kommunikationsministerium verantwortlich ist, überlegt,
ob er den Palästinensern ein 2. Mobiltelefonnetz „gibt“, nachdem die Regierung
Bedingungen gestellt hat – Goldstone-Bericht im Austausch für Wataniya, dem Handy-Operator.
Woher
kommt dieses Recht? Genau wie ein Vergewaltiger nicht das Recht hat, über die
Ausführung seines ruchlosen Tuns zu diskutieren und
der Räuber nicht über Bedingungen der Rückgabe seines Raubes feilschen kann,
der Besatzer, der Arbeitgeber, der mit schweren Stiefeln versehene Soldat und
der Ausbeuter nicht über Bedingungen diskutieren, unter denen sie ihre Taten
ausführen wollen. Dies ist eine offensichtlich unmoralische Diskussion. Die
Diskussion freier Leute über das Schicksal von Menschen unter ihrer Herrschaft
ist genau so legitim wie die Diskussion von Sklaven- und Menschenhändlern. Die
einzige legitime Diskussion wäre die, die ein Ende der schlimmen Situation
beabsichtigt – sofort und bedingungslos.
Das
beginnt schon ganz oben. Der Oberste Gerichtshof denkt über Verschiedenes nach:
Ist Folter legal? Sind Morde erlaubt? Ist es erlaubt, Bauern Land wegzunehmen?
Ist es erlaubt, eine Belagerung über Hunderttausende zu verhängen? Ist es
legal, Menschen jahrelang ohne Gerichtsurteil in Gefangenschaft zu halten? Ist
es möglich, Menschen daran zu hindern, medizinische Behandlung zu erhalten? Ist
es legitim, Kinder daran zu hindern, zur Schule zu gelangen? Die reine
Tatsache, dass diese Fragen vor Gericht gestellt werden, als ob es nicht schon
längst überzeugende Antworten auf sie gäbe, ist der bedrückendste Beweis für
den moralischen Tiefpunkt, an dem wir angelangt sind.
Natürlich sickert diese illegitime Diskussion seit
langem in jede Schicht der Gesellschaft. Im Fernsehen diskutieren erfahrene
Kommentatoren, ob die Belagerung des Gazastreifens „effektiv“ sei. Über einer Dose Red
Bull debattieren Soldaten darüber, ob
die Operation Cast Lead nicht zu früh abgebrochen wurde und wenn, dann „werden
wir es ihnen noch mal zeigen“. In ihren Cafes sitzen
junge Leute über einer Tasse Eis-Java und diskutieren, ob „wir den
Palästinensern einen Staat geben sollen“, als ob dies überhaupt eine Frage wäre und wir Staaten ver-„geben“
würden. Aber auch diese Diskussionen -
so monströs sie sein mögen, haben in den letzten Jahren den Weg zur
Unterdrückung ( im psychologischen Sinne) freigegeben,
zum Schweigen, zur Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit.
Etwa
eine Fahrtstunde entfernt von uns geht die unglaublich grausame Realität
weiter. Alles, was dort geschieht, geschieht angeblich in unserm Namen - und im
Namen der Sicherheit, auch angeblich.
Und hier unter uns findet ein verzerrter Diskurs statt oder gar keiner.
Nichts
wird sich ändern, solange dieser Zustand anhält. Ein kürzlicher
Bericht des UN-Office für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (OCHA)
zeichnet ein schockierendes Bild über das, was sich jetzt im Gazastreifen
abspielt. Z. B. 75 % seiner Bewohner, mehr als
eine Million leiden unter Unterernährung. 90% leben mit Stromsperren 4-8
Stunden täglich, 40% derjenigen, die einen Antrag stellen, um medizinische
Behandlung (außerhalb des Gazastreifens zu bekommen) werden von Israel abgelehnt, 140 000 Bewohner
sind arbeitslos. (Ich denke viel mehr: 70-80%,ER)
All
diese Zahlen spiegeln eine Situation wieder, die sich im vergangenen Jahr grob
verschlimmert hat, und all dies hängt
mit den drei Jahren Belagerung zusammen. Wie viele von uns wissen dies? Wie
viele von uns berührt dies überhaupt noch ? Und vor allem woher nehmen wir die Frechheit, über
das Schicksal eines anderen Volkes zu entscheiden?
(dt.
Ellen Rohlfs)