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Dystopie (negative Utopie) im Gazastreifen

Gideon Levy

 Haaretz_09.11.2017

Kinder in Gaza leben in einer Hölle: ein Psychologe spricht über um sich greifenden sexuellen Mißbrauch, über Drogen und Verzweiflung.

Das Interview mit dem israelischen Psychologen Mohammed Mansour ist eines der schockierendsten, erschreckendsten und erschütternsten Dokumente , die hier in letzter Zeit veröffentlicht wurden.

Wäre Israel eine moralische Gesellschaft und nicht eine nationalistische und gehirngewaschene, würden ihre Fundamente wackeln. Es hätte Tagesgespräch sein müssen, ein Tagessturm. Gerade eine Stunde entfernt gibt es eine humanitäre Katastrophe; ein humantäres Desaster, ein Horror, für den Israel die Haptschuld trägt – und Israel ist mit den angeblichen sexuellen Übergriffen von TV-Vorstand Alex Gilady beschäftigt.

Mansour kam von einem Besuch im Gazastreifen mit den Ärzten für Menschenrechte-Israel zurück. Er ist Experte in Traumatherapie - und niemand kann von seinen Beobachtungen während seiner zwei letzten Besuche unberührt bleiben. Rechte oder Linke, es spielt keine Rolle, jeder Mensch mit einem Fünkchen Menschlichkeit muss schockiert sein.

Mehr als ein Drittel der Kinder, die er im Jabalia-Flüchtlingslager getroffen hat,  haben berichtet, sexuell mißbraucht worden zu sein. Ihre Eltern, im Kampf ums Überleben gefangen und selbst unter Depressionen leidend, sind nicht in der Lage sie zu schützen. In Gaza ist es nicht möglich die Kinder und ihre Eltern von den Quellen des Traumas wegzubringen, denn das Trauma hat kein Ende und wird keines haben; Erwachsene und Kinder leben in einer schrecklichen Qual. Niemand in Gaza ist psychisch gesund. Chaos, das ist das richtige Wort.

Mansour beschreibt eine Dystopie, eine zerfallende Gesellschaft. Verwüstung. Die Menschen in Gaza beweisen ein erstaunliches Durchhaltevermögen, Zusammenhalt und Solidarität in ihren Familien, Dörfern, Wohnvierteln und Flüchtlingslagern - nach all den Plagen, die sie erlitten haben: Flüchtlinge, Kinder von Flüchtlingen, Enkel von Flüchtlingen, Urenkel von Flüchtlingen, sie fallen auseinander.

Mansour beschrieb einen äußersten Kampf ums nackte Überleben, mit der Abhängigkeit von Schmerzmitteln als letzter Zuflucht. Nichts, was wir von Gaza kannten, ist übrig geblieben, Nichts erinnert uns an das Gaza, das wir liebten. "Es wird schwierig sein, Gazas Menschlichkeit wieder herzustellen", sagt Mansour.

Die Schilderunen von Mansour, so brutal sie sind, sollten niemanden überraschen. Alles ist nach Buch durchgeführt worden, nach dem größten Buch der Experimente an Menschen. Das ist die einzig mögliche Konsequenz aus der Gefangennahme von zwei Millionen Menschen in einem riesigen Käfig für über zehn Jahre, ohne irgend einen Ausweg und ohne irgendeine Hoffnung. 

Die Blockade des Gazastreifens ist das größte Kriegsverbrechen, das Israel jemals begangen hat. Das ist die zweite Nakba, noch grauenvoller als ihr Vorgänger. Dieses Mal kann sich Israel nicht mit Krieg und fliehenden Arabern ausreden. Nicht einmal die maßlosen Sicherheitsausreden können noch irgendjemanden überzeugen, außer den Israelis, die gegen Gaza aufgehetzt sind.  Einzig sie haben kein moralisches Problem mit einem Menschenkäfig an ihrer Grenze. Einzig sie haben tausend Ausreden und Schuldzuweisungen gegen die ganze Welt, darunter falsche wie die Behauptung Hamas sei durch Gewaltanwendung an die Macht gekommen; oder dass die Qassam-Raketen nach dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen 2005 angefangen hätten – um damit das ohnehin immer ruhige Gewissen zum Schweigen zu bringen – und schließlich sind das ja Araber.

Wir sprechen über Gaza. Wir sprechen über menschliche Wesen. Zehntausende Kinder und Babys ohne Gegenwart und ohne Zukunft. Menschliche Opfer, deren Schicksal niemanden interessiert.

In der Pause zwischen einem brutalen israelischen Angriff und einem anderen, in den Ruinen, die Israel ohne Sinn verursacht hat, und die noch nicht wiederaufgebaut sind, steht Gaza sogar vor der elendsten Prognose (für die Zukunft, Ü.). Die Vereinten Nationen haben gewarnt, dass der Gazastreifen 2020 "unbewohnbar" sein könnte. 2017 ist er bereits eine Hölle.

Israel hat im Lauf eines Jahrzehnts keinem israelischen Journalisten erlaubt in den Gazastreifen zu fahren – um den Israelis auch das kleinste Unbehagen zu ersparen, das das, was man dort zu sehen bekommt, auslösen könnte. Freiwillige von den Ärzten für Menschenrechte, alle von ihnen Araber, sind die einzigen Israelis, die  es schaffen nach Gaza einzureisen. Mansours Bericht ist ein Bericht, der aus einem Ghetto herausgeschmuggelt wurde. Der Gazastreifen kann mit einem Ghetto verglichen werden. Mit gesenktem Kopf und lautem Aufschrei müssen wir beide vergleichen. Gaza ist ein Ghetto, und die Welt schweigt.

Quelle: https://www.haaretz.com/opinion/.premium-1.821845

Übersetzung: K. Nebauer