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Dystopie
(negative Utopie) im
Gazastreifen
Gideon Levy
Kinder in Gaza
leben in einer Hölle: ein Psychologe spricht über um sich greifenden sexuellen
Mißbrauch, über Drogen und Verzweiflung.
Das Interview
mit dem israelischen Psychologen Mohammed Mansour ist eines der
schockierendsten, erschreckendsten und erschütternsten Dokumente , die hier in
letzter Zeit veröffentlicht wurden.
Wäre Israel
eine moralische Gesellschaft und nicht eine nationalistische und
gehirngewaschene, würden ihre Fundamente wackeln. Es hätte Tagesgespräch sein
müssen, ein Tagessturm. Gerade eine Stunde entfernt gibt es eine humanitäre
Katastrophe; ein humantäres Desaster, ein Horror, für den Israel die Haptschuld
trägt – und Israel ist mit den angeblichen sexuellen Übergriffen von TV-Vorstand
Alex Gilady beschäftigt.
Mansour kam
von einem Besuch im Gazastreifen mit den Ärzten für Menschenrechte-Israel
zurück. Er ist Experte in Traumatherapie - und niemand kann von seinen
Beobachtungen während seiner zwei letzten Besuche unberührt bleiben. Rechte oder
Linke, es spielt keine Rolle, jeder Mensch mit einem Fünkchen Menschlichkeit
muss schockiert sein.
Mehr als ein
Drittel der Kinder, die er im Jabalia-Flüchtlingslager getroffen hat,
haben berichtet, sexuell mißbraucht worden zu sein. Ihre Eltern, im Kampf
ums Überleben gefangen und selbst unter Depressionen leidend, sind nicht in der
Lage sie zu schützen. In Gaza ist es nicht möglich die Kinder und ihre Eltern
von den Quellen des Traumas wegzubringen, denn das Trauma hat kein Ende und wird
keines haben; Erwachsene und Kinder leben in einer schrecklichen Qual. Niemand
in Gaza ist psychisch gesund. Chaos, das ist das richtige Wort.
Mansour
beschreibt eine Dystopie, eine zerfallende Gesellschaft. Verwüstung. Die
Menschen in Gaza beweisen ein erstaunliches Durchhaltevermögen, Zusammenhalt und
Solidarität in ihren Familien, Dörfern, Wohnvierteln und Flüchtlingslagern -
nach all den Plagen, die sie erlitten haben: Flüchtlinge, Kinder von
Flüchtlingen, Enkel von Flüchtlingen, Urenkel von Flüchtlingen, sie fallen
auseinander.
Mansour
beschrieb einen äußersten Kampf ums nackte Überleben, mit der Abhängigkeit von
Schmerzmitteln als letzter Zuflucht. Nichts, was wir von Gaza kannten, ist übrig
geblieben, Nichts erinnert uns an das Gaza, das wir liebten. "Es wird schwierig
sein, Gazas Menschlichkeit wieder herzustellen", sagt Mansour.
Die
Schilderunen von Mansour, so brutal sie sind, sollten niemanden überraschen.
Alles ist nach Buch durchgeführt worden, nach dem größten Buch der Experimente
an Menschen. Das ist die einzig mögliche Konsequenz aus der Gefangennahme von
zwei Millionen Menschen in einem riesigen Käfig für über zehn Jahre, ohne irgend
einen Ausweg und ohne irgendeine Hoffnung.
Die Blockade
des Gazastreifens ist das größte Kriegsverbrechen, das Israel jemals begangen
hat. Das ist die zweite Nakba, noch grauenvoller als ihr Vorgänger. Dieses Mal
kann sich Israel nicht mit Krieg und fliehenden Arabern ausreden. Nicht einmal
die maßlosen Sicherheitsausreden können noch irgendjemanden überzeugen, außer
den Israelis, die gegen Gaza aufgehetzt sind.
Einzig sie haben kein moralisches Problem mit einem Menschenkäfig an
ihrer Grenze. Einzig sie haben tausend Ausreden und Schuldzuweisungen gegen die
ganze Welt, darunter falsche wie die Behauptung Hamas sei durch Gewaltanwendung
an die Macht gekommen; oder dass die Qassam-Raketen nach dem Rückzug Israels aus
dem Gazastreifen 2005 angefangen hätten – um damit das ohnehin immer ruhige
Gewissen zum Schweigen zu bringen – und schließlich sind das ja Araber.
Wir sprechen
über Gaza. Wir sprechen über menschliche Wesen. Zehntausende Kinder und Babys
ohne Gegenwart und ohne Zukunft. Menschliche Opfer, deren Schicksal niemanden
interessiert.
In der Pause
zwischen einem brutalen israelischen Angriff und einem anderen, in den Ruinen,
die Israel ohne Sinn verursacht hat, und die noch nicht wiederaufgebaut sind,
steht Gaza sogar vor der elendsten Prognose (für die Zukunft, Ü.). Die Vereinten
Nationen haben gewarnt, dass der Gazastreifen 2020 "unbewohnbar" sein könnte.
2017 ist er bereits eine Hölle.
Israel hat im
Lauf eines Jahrzehnts keinem israelischen Journalisten erlaubt in den
Gazastreifen zu fahren – um den Israelis auch das kleinste Unbehagen zu
ersparen, das das, was man dort zu sehen bekommt, auslösen könnte. Freiwillige
von den Ärzten für Menschenrechte, alle von ihnen Araber, sind die einzigen
Israelis, die es schaffen nach Gaza
einzureisen. Mansours Bericht ist ein Bericht, der aus einem Ghetto
herausgeschmuggelt wurde. Der Gazastreifen kann mit einem Ghetto verglichen
werden. Mit gesenktem Kopf und lautem Aufschrei müssen wir beide vergleichen.
Gaza ist ein Ghetto, und die Welt schweigt.
Quelle:
https://www.haaretz.com/opinion/.premium-1.821845
Übersetzung: K. Nebauer