Gilad Shalit muss befreit werden – egal was es kostet,
Gideon Levy, 22.12.2009
Es ist nicht schwer, die quälende Entscheidung zu verstehen, der sich Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und seine Kabinettminister gegenübersehen. Eine negative Entscheidung von ihrer Seite würde sehr schwer von ihnen zu akzeptieren sein. Gilad Shalit muss auf jeden Fall und egal, was es kostet, befreit werden, um so mehr als die aktuellen Kosten niedriger sind, als die immer wieder von jenen genannten, die gegen die Entlassung sind.
Wir befassen uns mit der Entlassung der Hunderten von Palästinensern, ein Zehntel der Palästinenser, die im Gefängnis sind. Eine Reihe von ihnen sind im Grunde politische Gefangene; einige sind Frauen und Jugendliche.
Die mörderischsten unter ihnen haben zum größten Teil ihre langen Strafen schon abgesessen. Der größte Teil von ihnen wird nicht zu terroristischen Aktivitäten zurückkehren; sie werden den Rest ihres Lebens lieber in Freiheit leben.
Doch wird es in Zukunft immer mehr Terroristen geben mit oder ohne die entlassenen Gefangenen, wenn die Besatzung und die Schikanen für das palästinensische Volk weitergehen. Das ist die tatsächliche Infrastruktur des Terrors, und das hängt nicht von dem Deal der entlassenen Gefangenen ab.
Eine Generation Palästinenser nach der anderen wird auf ihre eigene Weise für ihre Freiheit kämpfen und immer mehr Terroristen ausbrüten. Der einzige wirklich effektive Weg Terror zu reduzieren, wenn nicht überhaupt zu verhindern, ist, die Maschine, die ihn erzeugt, zu stoppen, nämlich die Besatzung.
Ob Mohamed, Ahmed und Marwan entlassen werden oder nicht, ob sie aus dem Land vertrieben werden oder nicht, die von unsern Nachbarn ausgehende Gefahr wird weiter von der Freiheit des palästinensischen Volkes abhängen, nicht von der Freiheit der fast 1000 (gefangenen ) Leuten.
Die trugschlüssigsten Argumente gegen ihre Freilassung ist der „Verlust der Abschreckung“.
Selbst nach dem Abschluss des Gefangenenhandels, werden die Palästinenser alles tun, um mehr Soldaten gefangen zu nehmen. Israel hat sie schließlich gelehrt, dass es nur einen Weg gibt, ihre Gefangenen Brüder zu befreien.
Genau wie Israels harte Haltung in der Ron Arad-Affäre misslang und die Gefangenschaft zusätzlicher Soldaten nicht verhinderte, so wird Israels Sturheit in der Shalit-Affäre weitere Entführungen nicht verhindern. Wenn Israel nicht 10 000 Gefangene festhalten würde, von denen einige völlig unverhältnismäßige Strafen absitzen und gar keine Hoffnung haben, außer mit Gewalt herauszukommen, würde die Motivation der Palästinenser, mehr Soldaten gefangen zu nehmen, geringer werden.
Ob sich Israel entscheidet, den Deal zu unterzeichnen oder nicht zu unterzeichnen, wird es nichts ändern, außer dem persönlichen Schicksal von Gilad Shalit und dem der palästinensischen Gefangenen . Dies ist das einzige Problem auf der Agenda, nicht Israels Sicherheit oder seine Souveränität.
Das Dilemma ist rasiermesserscharf – wollen wir oder wollen wir Shalit nicht zu Hause sehen; tot oder lebendig, sein oder nicht sein – das ist die einzige Frage. Deshalb muss die Regierung zu Gunsten des Deals entscheiden.
Während sich die Israelis mit Shalits Gefangenschaft beschäftigen, kann man kaum von ihnen verlangen, dass sie auch für die Palästinenser Gefühle zeigen. Sie sollten es, zumindest versuchen sollten sie es.
Hunderte von Gefangenen sind seit Jahren unter harten Bedingungen eingesperrt – vor allem jene aus dem Gazastreifen ohne Besuch der Familie, ohne Telefonanruf von zu Hause. Und längst nicht alle von ihnen haben Blut an ihren Händen. Die Möglichkeit ihrer Entlassung sollte wenigstens in uns Mitleid wecken, so grundlos und scharf dies für beschränkte israelische Ohren klingen mag.
Es ist kein Zufall, dass nur die Familien palästinensischer Gefangener ihre Hoffnung für Shalits Entlassung zum Ausdruck brachten, abgesehen von der Hoffnung für die Entlassung der eigenen Söhne. Es ist erschreckend, kein ähnliches Gefühl auf unserer Seite zu hören, nicht einmal von Shalits Familie.
Aber Shalit und die palästinensischen Gefangenen sind nicht allein. Sieben Millionen Israelis und 3,5 Millionen Palästinenser sind seit 42 Jahren in einer dunklen Höhle gefangen „dank“ des Fluches der Besatzung. Hätte das turbulente israelische Naturell eine genau so eindrucksvolle Kampagne gestartet, wie um Shalit zu befreien, auch um das Besatzungsende zu kämpfen und beide – die Palästinenser und die Israelis - von ihrem Joch zu befreien, dann sähen die Dinge heute anders aus .
Angesichts der sehr großen (und angemessenen) Sensibilität und Sorge, wie sie die israelische Gesellschaft für das Leben und die Freiheit eines einzelnen Menschen demonstrierte, ist es Zeit, darüber nachzudenken, ähnliche Sensibilität, Entschlossenheit, Engagement und Sorge hinsichtlich des Schicksals von 10 Millionen Israelis und Palästinensern zu haben. Sie sehen zwar das Licht des Tages, aber ihre Zukunft ist in Dunkel gehüllt.
Dieselben intensiven Verhandlungen, derselbe öffentliche Druck, dieselben Rennen, Ballone, Petitionen, Gesetzentwürfe, Anstecknadeln und Demonstrationen, dieselben Protestzelte und dieselben Demonstrationen gegen die anhaltende Besatzung würde uns längst an das sichere Ufer gebracht haben, eines, das weitere Gilad Shalits verhindern würde. Aber zunächst muss Shalit befreit werden und zwar möglichst noch heute.
(dt. Ellen Rohlfs)