Israel
Palästina Nahost Konflikt Infos
Schwarz auf weiß (gewaschen)
Gideon Levy, Haaretz, 25. 6.09
Es
wäre wohl sinnvoll, sich zunächst daran zu erinnern, wer dieser Tamir ist. Von seiner Beteiligung als Kommandeur der Golani-Infanterie-Brigade, - als seine Soldaten den Jeninmarkt
beschossen (2002) und mehrere Kinder töteten, einschließlich zwei kleiner
Brüder, bis zur Operation „Herbstwolken“ im Gazastreifen ( 2006), die er
befehligte, - ist er verantwortlich für das mutwillige Blutvergießen von 80
Palästinensern, von denen mindestens die Hälfte Zivilisten waren. Wir sollten
auch das berüchtigte Beschießen der Stadt Beit Hanoun im Gazastreifen (auch 2006) unter seinem Kommando
und seiner Verantwortung nicht vergessen, als eine Salve von 11 unnötigen
Granaten auf einen Wohnblock abgefeuert wurde. Danach wurde einem
PC-Chip-Fehler von der IDF die Schuld dafür gegeben und nicht dem Kommandeur,
Chico Tamir. Machen wir eine Pause und fragen uns.
Warum ein Offizier wie dieser mit Blut von Unschuldigen an seinen Händen, solch
ein Lob aus Jerusalem und Tel Aviv verdient. Aber lassen wir das erst mal
beiseite.
Wir
tun auch gut daran, uns daran zu erinnern, dass Tamirs
Kardinalsünde in den Lügen liegt, mit denen er nach einem Unfall ein Formular
ausfüllte: er hatte seinem minderjährigen Sohn erlaubt, einen militärischen
Geländewagen zu fahren - eine unschuldige Geste eines liebenden Vaters. Diese
Affäre brachte unmittelbar die Armee-Kultur des Lügens ans Licht. Und der
Aufstand gegen die Strafe eines Offiziers, der log, bewies, dass nur eines
wirklich geschah: „die Bastarde hatten die Regeln verändert“ ohne einen
Offizier zu informieren, der für Größeres bestimmt war. Tamir
tat, was alle taten, und nun wird er ernstlich bestraft, indem er degradiert
wird. Nun lasst uns ehrlich sein: die IDF lügt. Das Unfallformular, das Tamir ausfüllte, ist weder die erste noch die letzte und
schon gar nicht die schlimmste Lüge.
Wir
können bis 1948 zurückgehen und noch ein paar Episoden ans Licht bringen, bei
denen uns nicht die Wahrheit leitete. Alles begann damals. Mit Lügen,
Verheimlichen, Verwirrung, Vergessen, Unterdrückung. Mit Massakern, die mit
Märchen zugedeckt wurden und mit Wäldern, die der jüdische National Fond über
die zerstörten Dorfruinen pflanzte. Aber warum so weit zurückgehen, wenn neue
Beispiele zur Hand sind, sogar aus der Zeit, die dem Tamir-Fall
folgten.
Vor
ein paar Tagen misshandelten Soldaten sechs palästinensische Jugendliche aus
dem Dorf Wadi al-Shajneh:14 Stunden lang hielten sie sie ununterbroche
gefangen, schlugen sie und warfen sie schließlich beim Morgengrauen aus dem
Jeep auf die Straße. Eines der Opfer berichtete, dass ihm auch das Geld
gestohlen worden war. Diese jungen Leute hatten nichts Falsches getan. Sie
wurden nicht offiziell verhaftet und auch nicht verhört. Was sagte der
IDF-Sprecher dazu: „Zwei Molotowcocktails waren gegen IDF-Leute geworfen worden
– sechs Palästinenser, die in der Umgebung identifiziert wurden, wurden von
Soldaten verhaftet. Ich sag es noch einmal: in der Umgebung :“
in der Umgebung identifiziert“. Da stellt sich wieder die Frage: „Wenn sie
Molotowcocktails warfen, warum wurden sie nach einer „Clockwork
Orange“ (?) -Nacht entlassen? Und wenn sie nichts geworfen haben, warum wurden
sie dann verhaftet und vor allem, was verbirgt der Militärsprecher und warum?
Gehen
wir noch ein paar Wochen zurück: im März feuerte ein IDF-Scharfschütze eine
Kugel in den Kopf von Mahdi Abu Ayash, einen 16 Jährigen – direkt vor seinem
Vater. Der Schütze benützte eine Ruger 0.22 Kaliber-Waffe, deren Anwendung der militärische
Generalanwalt zur Auflösung von Massendemos verboten hat. Und was sagte der
Militärsprecher: „Während IDF-Aktivitäten im Dorf Beit
Omar entwickelte sich eine gewalttätige Unruhe … das Militär schlug mit
Maßnahmen zurück, die Demos auflösen
sollen.“ Bingo.
Im
Januar 2008 begannen bei Kifar Sider,
damals 23 Jahre alt, zu Hause in Hebrons Tel Rumeida-Stadtteil
die Wehen. Dieses Viertel wird von jüdischen Siedlern beherrscht und ist für
palästinensische Fahrzeuge, auch Ambulanzen gesperrt. Nach Aussagen ihres
Mannes wurde sie auf dem Weg zum Krankenhaus am Kontrollpunkt 20 Minuten von
Soldaten aufgehalten, bis sie sich schließlich bei Frost auf die Straße legen
musste, um dort zu gebären.
Was
sagte der IDF-Sprecher dazu? „Die palästinensische Frau passierte ohne
Verzögerung den Kontrollpunkt. Die IDF tat alles, um der Frau in Wehen
beizustehen.“ Hier steht ein Bericht gegen den anderen. Aber warum sollen wir
denken, dass der Mann und die Augenzeugen lügen?
Ein
anderer Fall: Fauziyah al-Darek,
eine 66 Jährige, die eine schwere Herzattacke hatte, wurde im März 2008 schnell
ins Krankenhaus nach Tulkarem gebracht, dh. sie sollte schnell hingebracht werden. Es ist Tulkarem und nicht Kfar Sava.
Leider musste sie durch einen Checkpoint. Die Soldaten erlaubten ihr nicht, den
Checkpoint zu passieren und sagten ihrem Mann – jetzt ein Witwer – „Es ist uns
egal, ob deine Frau stirbt.“ Ja Darek starb am
Kontrollpunkt.
Der
IDF-Sprecher gab folgende Antwort: „Die IDF verhindert die Durchfahrt des
Ambulanzwagens nicht, auch dann nicht …
wenn es sich um eine Sicherheitskontrolle handelt“.
Woche
um Woche werden die hier veröffentlichen Geschichten über die israelische
Besatzung von Antworten des IDF-Sprechers begleitet und fast jede Woche ist die
Antwort eine Lüge. Und es sind keine weißen Lügen. Sie sind schwärzer als
schwarz, selbst wenn die Untaten und Ungerechtigkeiten beschönigt (weiß
gewaschen) sind. Hunderte von kaltblütigen Morden sind unter dem Lügenmantel
nach den „Regeln des Kampfes“ ausgeführt worden, einschließlich des Erschießens
von Unschuldigen und unbewaffneten Demonstranten unter dem Vorwand einer
„tödlichen Gefahr“ für die Soldaten. Hunderte von anderen Fällen sind unter der
Kategorie von „militärischen Polizei-Nachforschungen“, vergraben, die nie den
Stand der Anklage erreichen.
Im
Januar 2009 zwangen Soldaten Yasser Temeizi vor
seinem jungen Sohn vom Esel abzusteigen und führten ihn aus seinem kleinen
Olivenhain. Temezi war ein treuer Angestellter der Harash-Gesellschaft in Ashdod,
aber während der Januar-Operation „Gegossenes Blei“ im Gazastreifen bat ihn
sein Arbeitgeber, nicht zur Arbeit zu kommen. Also begann er, im Olivenhain der
Familie zu arbeiten. Am Ende des Tages wurde er tot aufgefunden. Er war aus
nächster Nähe erschossen worden, und man sah noch Spuren von Fesseln an den
Händen. Dieses Mal gab die IDF ein lakonisches Statement ab: „Die Sache wird noch
von der Verbrechensuntersuchungsdivision (Militärpolizei) untersucht.“ Dies ist
dieselbe Militärpolizei, deren entsetzliche Methoden in dieser Woche aufgedeckt
und vom Gericht scharf kritisiert wurde, das den Brigadegeneral Tamir verurteilte.
Das
Gericht bezeichnete seine Untersuchungsergebnisse über die Militärpolizei als
ein „Erdbeben“ obgleich dieser Aspekt der Affäre natürlich vor der
Öffentlichkeit von Tamir-Dreyfus, unserm Opfer,
geheim gehalten wurde.
Wenn
sich die Militärpolizeiuntersuchungseinheit einem Brigadegeneral gegenüber so
verhält, kann man sich etwa vorstellen, wie sie mit dem Tod eines gefesselten
Palästinenser umgeht. Woher wissen wir das? Es ist eine unwiderlegbare
Tatsache, dass etwa 4800 Palästinenser in den vergangenen 9 Jahren von der IDF
getötet wurden, von denen nach der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem 950 Kinder waren. Wie viele Anklagen sind an die
IDF gegangen? Dreißig, nicht mehr. Das ist weniger als 1% der Anzahl der
Tötungen. Wie viele Soldaten sind verurteilt worden? Fünf. Wie viele sind zu
einer nennenswerten Gefängnisstrafe verurteilt worden? Einer - einer im
Zusammenhang mit 4800 Morden. Was soll man hierzu noch sagen?
Es
ist auch nicht nötig, näher auf die Lüge von „ der moralischsten Armee der Welt“
einzugehen, ganz sicher nicht nach der Operation Gegossenes Blei. Die Soldaten
im Armee-Vorbereitungskurs logen, die ausländischen Korrespondenten, die Gaza
besuchten, logen. Amira Hass log in ihren Berichten, die UN-Agentur log. Nur
die IDF, die all diese Berichte und Proteste begrub, sagte die Wahrheit und
nichts als die Wahrheit.
Israel
hat gerade noch einmal eine offizielle UN-Untersuchungskommission, geleitet vom
Richter Richard Goldstone, einem südafrikanischen Juden und Zionisten daran
gehindert, das Land zu betreten, um die Folgen des Gazakrieges
zu untersuchen – als ob wir Nordkorea oder Birma wären. Wenn alle Berichte der
Wahrheit entsprechen, was muss dann versteckt werden. All die Lügen von Daddy Tamir verblassen in Belanglosigkeit angesichts der Lügen
dieses Krieges mit seinen schrecklichen Flechettes-Granaten,
die ihre tödlichen Stahlprojektile überallhin verteilten, mit dem weiße
Phosphor, der lebendes Fleisch verbrennt, mit dem Beschießen der Schulen, dem
Bombardieren von Wohngebieten und der Vernichtung ganzer Familien, die nichts
Unrechtes getan hatten. Die IDF deckte alle diese Aktionen mit ihren Lügen zu,
mit verschiedenen Versionen und Halbwahrheiten.
Selbst
solch einen brutalen Angriff auf eine hilflose, belagerte Bevölkerung, fast
ohne irgendwelche Anzeichen von Kampf und Widerstand, einen „Krieg“ zu nennen,
ist ein Lüge.
Aber
die IDF geht streng mit irrelevanten und ernsten Fällen um. Chicko
log. Chiko wird es bezahlen.
(dt.
Ellen Rohlfs)