Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Religiöse Indoktrination ist
in Israel keine echte Bedrohung
Gideon Levy,13.7.17
Die
Siedler haben Israel mehr Schaden angerichtet als die Haredim und
der Nationalismus ist viel
gefährlicher als die religiöse Indoktrination.
Wenn
eine hebräische Bibel auf den Boden fällt, hebt man sie schnell auf und küsst
sie. Bis heute stehen in meinem Bücherschrank eine ganze Reihe von Bibeln in
verschiedenem Zustand, die mir bei verschiedenen Gelegenheiten in meinem Leben
gegeben wurden und die ich auch nie wegwerfen würde.
In der Bibelklasse und in der Klasse mit
H. Koliker (der später seinen Nachnamen in Yakir verändert hat) trugen
wir alle eine Kippa – das war obligatorisch.
Und während Prüfungen saß er
vor uns mit einer Zeitung, in der versteckt ein Loch war, durch das er uns
beobachtete, ob wir auch nicht mogeln.
In der
Grundschule begann jeder Unterrichtstag mit einer Andacht, während der der
Tora-Vers des Tages rezitiert wurde. Ich erinnere mich an viele Verse und kann
sie auswendig, da ich oft
aufgerufen wurde, um sie laut zu lesen. Ich verstand sie nicht immer. Aber die
Texte klangen noch auf dem Schulhof nach.
An
Freitagen war unsere Kleidung blau und weiß und wir hatten ein Kabbalat Shabbat
in der Klasse. In der zweiten Klasse hatten wir unsere erste große
Feier, den „Festtag des Buches“, an dem der Schulrektor jedem von uns
unsere 1. Bibel schenkte.
Wir
lernten nie etwas über das
Christentum. Nichts außer dem Lesen
A.A.Kabaks „Der schmale Pfad“. Wir hörten nichts über den Islam (Nichts über die
Nakbah). Bei unserer Bar-Mitzwa wurden wir
in der Orthodoxen Synagoge
nach vorne gerufen, um aus der Tora zu lesen. Darüber redete man nicht. Das
war selbstverständlich.
All dies
war in Tel Aviv in den 60er-Jahren in einer gut angesehenen öffentlichen Schule
mit einer säkularen Schülerschaft, einige von ihnen wie ich, Kinder von
säkularen Eltern. Als man uns die Aufgabe erteilte, Josefs Traum
über die 7Kühe zu malen, weinte ich die ganze Nacht, weil es mir nicht
richtig gelang. Mein Vater malte sie, ohne zu wissen, welchen Sinn dies hatte.
Mein Vater konnte zwar gut Latein, aber
er konnte kaum den Unterschied zwischen Purim und Passover sagen.
Naftali
Bennett war noch nicht geboren und das hebräische Wort Hadata (religiöse
Indoktrination) war noch nicht bekannt. Wir wuchsen in einer religiöseren
Atmosphäre auf, als uns bewusst war, in einem Land, das religiöser war, als es
sich selbst darstellte. Selbst jetzt ist es das religiöseste Land in aller Welt
mit der Ausnahme von Iran und Afghanistan. Ein Land, in dem sogar „säkulare“
junge Leute die Mesusa am
Türpfosten küssen, ohne weiter darüber nachzudenken,
die Läden am Yom Kippur völlig
und an Schabbat teilweise geschlossen sind, ein Land, in dem fast alle
männlichen Babys beschnitten werden und wo die Mehrheit der Bewohner einmal im
Jahr fasten, und wo Scheidungen nur
im Oberrabbinat geschehen, ist ein sehr religiöses Land, selbst ohne Hadata.
Der
Aufschrei durch säkulare Eltern
über Hadata kommt ein paar Generationen zu spät. Das Schulsystem war religiöser
und obligatorischer, als ich jung war. Heute muss man in der Bibelklasse keine
Kippa tragen und man muss bei der
Morgenandacht nicht den täglichen Tora-Vers lesen. Die Revolution, die der
Bildungsminister und seine Partei-Lakaien versuchen anzufachen, ist viel
nationalistischer als religiös und viel gefährlicher, als ein Kind zu zwingen,
eine Kippa zu tragen. Wenn eine zweite Klasse einen Festtag hält, um den Tempel
zu bauen, ist das Ziel viel nationalistischer als religiös.
Das ist
unser Land. Nur unseres. Wir werden den Tempel auf den Ruinen
der Al-Aqsa wieder aufbauen. Dies ist die wahre Botschaft, des
Tempel-Festtages. Aber Nationalismus erregt weniger Opposition durch säkulare
Eltern als religiöse Indoktrination, genau wie die Siedler weniger Abneigung als
die Haredim zeigen. Es ist eine
unglückliche Verdrehung. Die Siedler haben Israel gegenüber viel mehr Schaden
angerichtet als die Haredim und der Nationalismus
ist viel gefährlicher als religiöse
Indoktrination.
In
Israel gehen die beiden Hand in Hand. Religiosität steht im Dienst des
Nationalismus. Das tiefe zerstörende Gefühl, das auserwählte Volk zu sein, ist
uns via Religion und im Dienst des Rassismus anerzogen worden. Religiöse
Rechtfertigungen werden für das Siedlungsunternehmen für einen nicht religiösen
Zweck zitiert. „Hebron – war immer, wird immer Kolonialismus sein, der in
Religiosität eingehüllt wird.
Und nun
regen sich Eltern über ein Schulbuch auf, das eine Familie mit Kippa und
Kopfbedeckung zeigt. Das ist keine triviale Angelegenheit; der Kampf für Israels
Säkularismus ist bedeutsam, aber der Kampf gegen den wachsenden Nationalismus
und Rassismus ist sogar bedeutsamer. Bennett kümmert sich nicht darum, ob wir
eine Kippa tragen oder nicht. Er möchte nur das zweite Apartheid-Königreich
errichten – und das ist um vieles gefährlicher.
(dt. Ellen Rohlfs)