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Die Israelis leben wie im
Paradies - und erkennen die
Realität nicht an
Gideon
Levy, Haaretz
Das
jüdische Jahr 5777 ist gerade zu
Ende gegangen und ist ein wunderbares Jahr gewesen. Der Sommer
war rammelvoll mit Musikereignissen. Es gab nie einen Sommer wie den in
Tel-Avivs Yarkon-Park. Die Ereignisse wurden alle dort veranstaltet trotz der
Boykott-, Divestment, und Sanktion–Bewegung und Roger Waters. Man sagt, die
Leute hatten eine tolle Zeit. Der Winter brachte auch eine Menge Vergnügen, wie
auch der Frühling und der Herbst.
Niemals
sind so viele neue Autos
verkauft worden (abgesehen vom vorigen Jahr). Vor allem Jeeps. Am Ben
Gurion-Flughafen gab es wieder eine
Höchstzahl an Passagieren, Anreisende und Abreisende. Fast alles war
ausverkauft: Versuche eine Reservierung im Restaurant, versuche einen Flug nach
New York zu bekommen.
Versuche einen Trainingsanzug im neuen Decathlon-Sportgeschäft nahe Tel
Aviv zu bekommen, versuche einen
Parkplatz zu bekommen; Versuche vor Sonnenuntergang durch die Menschenmengen am
Tel-Aviver Hafen durch zu kommen. Kokain
verkauft sich in Nachtclubs wie Wasser, genau so Alkohol.
Vergnügungszentren sind übervoll, wie auch die Parks.
An jeder Kreuzung sind Einkaufszentren. Parkplätze gibt es an jeder Ecke,
aber keine Parklücken. Das Konzept der
Rush-hour ist eine Sache der Vergangenheit – jetzt gibt es ständigen
Verkehrsstau. Und jeder Arbeiter hat inzwischen sein Auto.
Europa
explodiert vor Terrorangriffen, während es hier ein paar Leute
mit Messer von der andern Seite der
dunklen Hügel gibt. Es ist auf unsern
Durchfahrtsstraßen bei Nacht sicherer als in fast jeder westlichen Hauptstadt.
Europa hat Millionen von Flüchtlingen, während
es in Israel kaum 40 000
Asylsuchende gibt – und nur einem gelang es, dies Jahr durch den Zaun zu
schlüpfen.
Es war
ein Jahr ohne Krieg, auch nicht im Sommer. Da gab es wohl Niederlagen beim
Fußballspiel – es gab aber eine historische Medaille bei der rhythmischen
Gymnastik. Arbeitslosigkeit war sehr niedrig und die Lebenserwartung sehr hoch.
In Tel Aviv gab es viele Baukräne, genau wie in Shanghai. Es gibt keine Straße
ohne ein Bauprojekt. Hochhäuser
sprießen in die Höhe, wie auch
Verkehrszirkel, Tunnel,
Ausgrabungen, Pflasterungen, Erweiterungen, Erneuerungen. Das ganze Land ist
voller Baudreck.
Im Cafe
wird immer über dieselbe Sache gesprochen: über Geld. Hör mal hin. Es geht immer
ums Geld - in allen Variationen.
Wie viel kostet dies und jenes? Die Preise sind himmelhoch, die Proteste dagegen
gering. Weil es wie im Paradies
ist, als alles rosig war.
Einige
leiden und einige sind niedergeschlagen, aber ihre Stimmen werden nicht gehört.
Die Leute jubeln, errege sie nicht. Demonstrationen sind schlecht. Sie stören
die Nachbarn und verursachen Verkehrsstaus. Polizei-Untersuchungen, Korruption,
Kriminalfälle – sie sind auch schlimm, aber nicht so, dass sie die Leute stören.
Ein neues asiatisches Lokal wurde gerade eröffnet und man sagt, es sei
phantastisch.
Von
außerhalb sieht es unglaublich aus, auch von innen
sieht es genau so unglaublich aus. Solch ein schlimmes Jahr,
verschleiert wie ein gutes Jahr. Das Faule hat sich in erschreckender
Eile verbreitet, sich auf jedes Feld ausgedehnt, während sich die Begeisterung
genauso schnell verbreitete. Die Demokratie wird täglich
verletzt, sogar für israelische Juden. Da gab es immer verrücktere
Verordnungen, doch die Israelis sagen, alles sei ok. Beim internationalen
Glückstag war Israel der 11
in diesem Jahr von Schweden bis Costa Rica. Und die Vereinigten Staaten?
Israel liegt drei Plätze höher. Was wollen wir mehr?
Es würde
so gut sein, wenn es nicht so schlecht wäre.
Es gibt keine andere Gesellschaft, die in solch tiefer Verleugnung lebt.
Israel hat sich noch nie so viel angelogen wie jetzt.
Jede Pauschalreise und jedes Klein Auto hat nur die Unterdrückung und
die Blindheit vergrößert. Es ist ein Tanz der Selbsttäuschung, eine
nationale Orgie der Verstörtheit. Jenes Leiden zählt nicht. Die Drangsal wird
versteckt, die Fäulnis zugedeckt.
Und die Medien nehmen begeistert daran teil.
Nur
wenige Leute haben eine Idee von
dem, was sich hier nachts in den Nachtklubs
abspielt. Fragt einen Taxifahrer und er wird es euch erzählen. Nur wenige
wissen, wie groß die Ignoranz unter den jungen Leuten ist und was diese über die
Zukunft sagen. Nur wenige machen
sich darüber Sorgen. Nur wenige wissen, wie die Besatzung aussieht und noch
weniger wollen es wissen. Wenige
wissen, wohin wir gehen und nur wenige wollen es wissen. In solch einem Zustand
von Affären wird sich keine positive Veränderung
einstellen.
Alle
Anzeichen deuten daraufhin, wir werden auch 5778 gesegnet sein, genau wie im
vergangenen Jahr. Keine Prophetie
eines drohenden Unheils. Keine Verbreitung von Mutlosigkeit. Die Israelis
frohlocken und die Israelis wissen warum.
(dt.
Ellen Rohlfs)