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Moralische
Supermacht ?
Gideon Levy, Haaretz, 1.9.13
Eine Übung in Ehrenhaftigkeit (und Doppelmoral): Was würde geschehen, wenn
Israel chemische Waffen benützen würde? Würden die US auch sagen, es müsse
angegriffen werden? Und was würde geschehen, wenn die US selbst solche Maßnahmen
anwendet? Israel würde niemals Massenzerstörungs-waffen anwenden, auch wenn sie
im Arsenal liegen, außer unter extremen Umständen. Aber es hat schon
Waffen benützt, die nach dem Völkerrecht verboten sind: Weißen Phosphor
und Flechette-Runden gegen die zivile Bevölkerung in Gaza und Splitterbomben im
Libanon – und die Welt erhebt nicht den Finger. Und ein paar Worte sind nötig,
um die Massenvernichtungs-waffen zu beschreiben, die die USA
benützte, die Atombomben in Japan und Napalm in Vietnam. (Und Depleted
Uran in Afghanistan und im Irak)
Aber Syrien ist natürlich eine andere Sache. Schließlich kann keiner ernsthaft
daran denken, dass ein amerikanischer Angriff auf das Regime von Präsident
Bashar Assad aus moralischen Gründen geschieht. Etwa 100 000 Getötete, die in
diesem unglücklichen Land geboren wurden, bringen die Welt nicht zum Handeln –
nur der Bericht von den 1400 durch chemische Waffen Getöteten – was bis jetzt
noch nicht überzeugend bewiesen ist –lässt die „ Rettungsarmee“ der Welt
handeln.
Keiner kann irgendjemanden verdächtigen, dass die meisten Israelis
(67%) einen Angriff unterstützen und um
das Wohlbefinden von Syriens Bürger besorgt sind. Es ist vielleiht das einzige
Land in der Welt, wo eine Mehrheit einen Angriff unterstützt: das leitende
Prinzip ist vollkommen fremd: schlagt die Araber:
egal warum, Hauptsache tüchtig.
Es wird auch keiner ernsthaft denken, dass die US eine „Moralische Supermacht“
ist, wie Ari Shavit sie hier ( Haaretz 29.8) definiert hat. Das Land, das seit
dem 2. Weltkrieg für das meiste Blutvergießen verantwortlich ist – einige
sprechen von 8 Millionen Toten allein durch seine Hände: in Südostasien,
Südamerika, Afghanistan und Irak – kann nicht als „moralische Macht“ bezeichnet
werden. Auch kann ein Land, in dem ein Viertel aller Gefangenen der Welt in
Kerkern schmachtet; wo der Prozentsatz der Gefangenen größer ist als in China
und Russland, und wo 1 342 Menschen
seit 1976 hingerichtet wurden.
Selbst Shavits Statement „Die neue internationale Ordnung nach dem 2. Weltkrieg
war daraufhin ausgerichtet … das entsetzliche Szenarium
von Vergasen würde nicht wiederholt werden,“
hat nichts mit der Realität zu tun. In Korea, Vietnam, Kambodscha, Ruanda
und Kongo wie in Syrien kann diese grundlose Behauptung nur ein bitteres Lächeln
hervorrufen.
Der Angriff – in Vorbereitung – wird ein zweiter
Irak sein. Die US, die nie für
ihre Lügen von Irak und den
Hunderttausenden vergeblichen Toten in diesem Krieg gestorben waren, sagen, ein
ähnlicher Krieg würde ausbrechen. Noch einmal ohne einen entscheidenden Beweis,
mit nur partiellem Beweis, und mit roten Linien, die der Präsident selbst
gezogen hat. Und jetzt ist er verpflichtet, sein Wort zu halten. In Syrien ist
ein grausamer Krieg im Gange, den die Welt stoppen muss – der amerikanische
Angriff wird es nicht tun.
Die Berichte aus Syrien sind hauptsächlich tendenziös. Keiner weiß, was genau
vor sich geht oder kennt die Identität der guten Kerle und der bösen Kerle,
falls sie so definiert werden können. Wir sollten auf die klaren Worte einer
Nonne aus Syrien hören, auf Schwester Agnes-Mariam de la Croix, die sich bei mir
übers Wochenende aus dem Jerusalemer Kloster beklagte, wo sie Zwischenstation
von Malaysia nach Syrien machte. Sie klagte die internationale Presse an.
Schwester Agnes beschrieb das Bild anders als die meisten. Es gibt etwa 150 000
ausländische Jihadisten in Syrien, sagt sie, und sie sind für die meisten
Brutalitäten verantwortlich. Das Assad-Regime ist das einzige, dass sie stoppen
könnte; und das einzige, was die Welt tun kann, ist, die Flut von Kämpfern und
Waffen zu stoppen. „Ich verstehe nicht, was die Welt wünscht. Al-Qaida helfen?
Einen jihadistischen Staat in Syrien gründen?“
Diese Äbtissin, deren Kloster an der Straße von Damaskus nah Homs liegt,
ist sicher, dass ein amerikanischer Luftschlag nur die Jihadisten stärken wird.
„Ist es das, was die Welt will? Noch ein Afghanistan?“
Vielleicht weiß die Welt, was sie will, vielleicht auch nicht.
Aber eines scheint jetzt klar: Noch ein amerikanisch gewollter Angriff
wird eine weitere Katastrophe sein.
(dt. Ellen Rohlfs)