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Reuven Moskovitz
Jerusalem,
Liebe
Freundinnen und Freunde,
diesen
Brief schreibe ich am Tag des Holocausts oder, wie wir auf Hebräisch sagen, der
Shoah. Als dieser Tag eingeführt wurde, wagte kaum jemand, daran zu glauben,
dass Israel in den kommenden 70 Jahren die militärische Supermacht im Nahen
Osten und einer der reichsten Staaten der Welt werden würde.
Schon in
den sechziger Jahren machte sich Levi Eschkol, einer der sympathischsten
Ministerpräsidenten unseres Landes, über Israel lustig, weil, wie er sagte,
Israel als Herkules den armseligen und ohnmächtigen Samson spiele. Heute kann
Israel mit Hilfe der aus Deutschland gelieferten U-Boote, die es mit atomaren
Sprengköpfen ausgestattet hat bzw. ausstatten kann, jede Ecke der Welt unter
Beschuss nehmen. Die viel gefürchtete siegreiche israelische Armee heißt immer
noch "Verteidigungsarmee", obwohl das Land den letzten Verteidigungskrieg nach
der Invasion fünf arabischer Staaten im Jahre 1948 führte.
Auch der
Reporter der Zeitung Jedi'ot Acharonot,
Nahum Barnea, erwähnt seinem Buch "Israel schießt und weint", dass man weiter
den Bedrohten, den nur sich selbst verteidigenden Staat spiele. Dieser Titel
weist auch auf die Art und Weise hin, in der der Tag der Shoah zur Zeit begangen
wird.
Neu ist
allerdings, dass es immer mehr empörte Stimmen gibt, die endlich wahrgenommen
haben, dass die israelische Bevölkerung unaufhörlich in Angst versetzt wird.
Schon der berühmte israelische Schriftsteller David Grossmann sagte anlässlich
der Ermordung Itzak Rabins, dass wir Israelis Opfer unserer Ängste seien. Seit
der Staatgründung, beginnend mit Ben Gurion, wurde diese Angst manipuliert und
ist zum hervorragend funktionierenden Bestandteil unseres politischen Systems
geworden. Seitdem ich vor 65 Jahren in dieses Land kam,
frage ich mich, ob wir nicht durch die
permanenten Hinweise auf die Bedrohung diese im Sinne einer self-fulfilling
prophecy selbst geschaffen haben.
Der
berühmte Philosoph und Schriftsteller George Santayana hat den Satz geprägt:
"Wer nicht aus der Geschichte lernt, ist gezwungen, sie zu wiederholen." Jedes
Jahr gedenken wir am Tag der Shoah der schrecklichen nationalsozialistischen
Vergangenheit und vergegenwärtigen uns dieses Inferno noch einmal für 24
Stunden. Damit soll selbstverständlich auch auf die Gefahren der Zukunft
hingewiesen werden. Die Frage ist jedoch nicht so sehr, ob wir etwas aus
der Geschichte gelernt haben, sondern was wir aus der Geschichte gelernt
haben. Und wir haben gelernt, dass wir wehrhaft sein müssen, damit uns dasselbe
Schicksal nicht noch einmal widerfährt, aber wir haben daraus nicht die
Schlussfolgerung gezogen, dass wir Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und eine
menschliche Behandlung auch anderen Völkern zugestehen müssen. Es gab in der
jüdischen Geschichte schon einmal zwei Staaten, die durch die Hybris der Gewalt
und die Ignorierung des prophetischen Geistes und der Bescheidenheit
untergegangen sind.
"Wirklich,
ich lebe in finsteren Zeiten" stellte Bertold Brecht in seinem Gedicht "An die
Nachgeborenen" fest, und mir stellt sich die Frage, was das eigentlich für
Zeiten sind, in denen sorgenvolle Äußerungen über Israels Politik und Zukunft
als Antisemitismus angeprangert werden. Ich muss gestehen, dass ich oft über das
Paradox nachgedacht habe, dass es ohne den Holocaust wohl keinen Staat Israel
gegeben hätte, aber diese schreckliche Tatsache berechtigt uns nicht dazu, in
einer Weise zu handeln, die weder demokratisch noch zivilisiert noch
rechtschaffen ist.
In den
vergangenen 40 Jahren habe ich oft mit dem Gedanken gespielt, wie Émile Zola in
seinem Brief an den französischen Präsidenten ein "J'accuse" hören zu lassen. Da
ich nicht die literarischen Fähigkeiten eines Zola habe, habe ich davon Abstand
genommen. Nun, in meinen letzten Lebensjahren, möchte ich es dennoch wagen:
Ich klage alle israelischen
Regierungen mit Ausnahme der nur zwei Jahre währenden Regierung von Moshe
Sharett an, sich von dem jüdischen Geist
entfernt zu haben, der in dem Satz "Denn die Wege der Thora sind sanftmütig und
alle ihre Pfade sind Frieden." zum Ausdruck kommt. Man hat von Frieden
gesprochen, aber Kriege geführt. Man hat den Plan zur Aufteilung des Landes
zwischen Juden und Palästinensern akzeptiert, aber alles getan, um einen
palästinensischen Staat zu verhindern. In der Bibel sagt Abraham zu seinem
Neffen Lot: "Es soll kein Streit zwischen uns sein […]. Wir sind doch Brüder,
und das Land ist groß genug! Das beste ist, wir trennen uns." (Genesis 13, 8-9)
Diese abrahamitische Botschaft haben wir uns leider nicht zu eigen gemacht, wie
wir überhaupt Äußerungen der jüdischen Propheten aus den Augen verloren haben.
Ich klage die arabischen Politiker
an, die bis zu Sadats Besuch in Israel im Jahre
1977 voller Blindheit und Hass versuchten, die Juden zu verunsichern und ihnen
die Anerkennung zu verweigern. Jeder, der meine Briefe und mein Buch liest, weiß
wohl, wie sehr ich unter dem Leiden und der Herzlosigkeit leide, mit der die
Palästinenser behandelt werden. Dennoch zeigen sich auch bei ihnen gefährliche
nationalistische Züge, die in Ihrer pauschalen Verurteilung des Zionismus zum
Ausdruck kommen. Die Ablehnung der Besatzung und der Verweigerung des
Selbstbestimmungsrechts für Palästinenser durch viele - auch neu gebildete -
Gruppen der (zionistischen) Friedensbewegung wird nicht zur Kenntnis genommen.
Man kann versuchen, dies zu verstehen, aber man kann es nicht rechtfertigen. Die
Entwicklung, die sich auf Grund von Fehlern auf beiden Seiten ergeben hat, kann
nicht ungeschehen gemacht werden, aber man könnte versuchen, Tatsachen zu
schaffen, die uns näher zueinander bringen und uns ein friedliches Nebeneinander
ermöglichen.
Mit einem
Zitat aus meinem Buch "Der lange Weg zum Frieden" möchte ich diese Idee
konkretisieren: "Der jetzt hergestellte Zustand, bei dem mein Volk drei Viertel
des Landes zwischen Mittelmeer und Jordan in Anspruch nimmt, das
palästinensische Volk aber nur ein Viertel, kann nur ein temporärer Zustand
sein, der die Weichen für einen langen Weg des friedlichen Zusammenlebens
stellt. Ich würde mir wünschen, dass er in einer Konföderation endet, in der
Palästinenser und Israelis in allen Teilen Palästinas leben können."
Ich klage die demokratische und
angeblich friedliebende Welt an, die 65 Jahre
lang zugeschaut hat, wie alle Beschlüsse in Bezug auf die Zwei-Staaten-Lösung
unentwegt und rücksichtslos mit Füßen getreten wurden.
Ich klage dieses Deutschland an,
das sich in den letzten 60 Jahren reflexartig auf die Seite einer israelischen
Politik gestellt hat, die den Palästinensern Selbstbestimmung und Freiheit
verweigert.
Ich rufe alle wohlmeinenden Deutschen auf, trotz
verständlicher Posttraumata nicht den Fehler zu machen, jegliche Kritik an der
israelischen Politik als Antisemitismus abzutun. Dieser Fehler spielt nur den
wirklichen Antisemiten in die Hände!
In Kürze
wird es eine neue Trauerzeremonie in Israel geben, nämlich den "Tag der
Erinnerung an die Gefallenen" in den verschiedenen Kriegen und kriegerischen
Auseinandersetzungen vor und nach der Staatgründung. Es ist herzzerreißend, dass
so viele Menschen auf dem Altar des falschen Glaubens geopfert wurden, eines
Glaubens, der nicht einen jüdischen Staat in Palästina, sondern Palästina als
jüdischen Staat anstrebt.
Herzlichst
Reuven