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Kann man den Goldstone Report lesen?
Atemlose Lektüre – nach jeweils 20 Seiten muss man das dicke Buch zur Seite
legen
Von Rupert
Neudeck
24.03.10
Das ist wie der große
Philosoph Odo Marquardt beim Anblick dieses Kompendiums gesagt hätte: ein
„unanständig dickes“ Buch, das uns einfach durch Lektüre von
816 Seiten (!) zu viel Lebenszeit wegnehmen kann. Darin läge der Mangel
an Anstand, es uns zur Lektüre zuzumuten.
Nun ist es aber kein
gewöhnliches Buch, sondern es ist ein gewaltiger Text, den die Regierung in
Israel, besonders ihr Premierminister Netanyahu regelrecht erledigen will. Warum
das so ist, wird uns deutlich, wenn wir den Bericht lesen. Man kann ihn nicht
weglesen, man kann nur aufschlagen und nach 20 Seiten das dicke Buch erst mal
zur Seite lesen.
Sie erinnern sich, zur
Weihnachtszeit am 27. Dezember 2008 begann der Krieg und wurde erst ausgesetzt
am 18. Januar 2009, weil der neugewählte amerikanische Präsident Barak Obama
nicht bei seiner Inaugurationsfeier zu stark gestört werden sollte.
Wenn man weiß, wie die moderne
Zivilisation an Klärwerken und an Wasser- und Sanitärbereichen hängt, kann man
den Paragraphen 1248 nicht einfach verdauen, ohne dass uns klar wird: was uns
verloren gehen würde und wir entbehren würden, würde es uns in München, Aachen,
Köln oder Berlin geschehen: Das Gazaer Klärwerk wurde zwischen dem 3. und 10.
Januar getroffen und einer der Abwässerteiche wurde stark beschädigt.
Abwasserleitungen, die zur Anlage führten wie auch andere Leitungen wurden
getroffen oder beschädigt. Bis zu 11 Brunnen, sagt der Report, „die Wasser zum
menschlichen Gebrauch lieferten“, wurden getroffen und drei davon komplett
zerstört. Und so geht es weiter: „Tausende Meter Wasser- und Abwasserkanäle bzw.
Systeme wurden zerstört oder beschädigt und etwa 5700 Dachwassertanks zerstört
und etwa 2900 beschädigt“. Das muss man sich vorstellen, in Jahrzehnten eines
ausweglosen Besatzungslebens organisieren diese Menschen sich, bauen sich im
Gaza Streifen ihre Wassertanks auf den Häusern, das alles wird mit einer
Militäroperation zunichte gemacht.
500.000 Palästinenser haben
auf dem Höhepunkt des Krieges keinen Zugang zu fließendem Wasser, das wäre wie
wenn die Nachrichten des DLF sagen würden: Auf Grund eines Angriffs auf die
Wasserversorgung haben 28 Mio Deutsche keinen Zugang zu fließendem Wasser!!!
Was mir auffällt: Zum ersten
Mal taucht hier wieder mehrfach und immer wieder das von Israel verscheuchte
hässliche Wort Besatzung auf. In Paragraph 1263 heißt es deshalb: Viele Probleme
der seelischen Gesundheit werden „vermutlich andauern“, bis die grundlegenden
Ursachen beseitigt sind. „Menschen wachsen auf in einer Gesellschaft unter
Besatzung, mit unterbrochenen Episoden der Gewalt und keinerlei Gefühl von
Sicherheit oder Normalität“. Allein für derlei klare Analyse möchte man den
Report von Richard Goldstone begrüßen und hochschätzen.
Die Kritik an der
völkerrechtlich nicht hinnehmbaren Besatzung und dem Fehlen von Menschenrechts-
Normalität sind der Grundton des Berichtes. Immer wieder weist Goldstone darauf
hin: Die Menschen in Gaza wie auch die in anderen Teilen der besetzten
palästinensischen Gebiete, „leben seit Jahrzehnten unter fremder Besatzung und
müssen die Einschränkungen der von der Besatzungsmacht umgesetzten Politik
ertragen“. Richard Goldstone weist darauf immer wieder in den 31 Kapiteln seines
in der deutschen Fassung 816 Seiten starken Berichtes hin, dass der Krieg das
alles verschärft habe. Jedoch würden die Menschen in Gaza schon lange in einer
Situation leben, „die nicht als ‚normal’ bezeichnet werden kann“.
Welcher Schrecken würde bei
uns ausgelöst, würde bekannt werden, dass unser Boden mit Asbest verseucht ist.
Die WHO lässt aber im Goldstone Bericht mitteilen, dass im Gaza ein großer Teil
des Schutts mit Asbest verseucht ist „Durch die Beschädigung der
Abfallwirtschaft wurde die Wasserschicht kontaminiert.“ Das System der
Krankenhausabfälle sei zudem komplett zusammengebrochen, wodurch auch diese
Abfälle in den Hausmüll gelangen würden. Die Goldstone Kommission habe
Behauptungen bestätigen müssen, wonach Waffen benutzt wurden, „die chemische
Giftstoffe wie Wolfram und weißen Phosphor und damit potentielle
Langzeitwirkungen für die Gesundheit der Opfer enthalten“. 29 Krankenwagen
wurden durch Bomben beschädigt/zerstört oder durch gepanzerte Fahrzeuge zermalmt
und 48 % der 122 Gesundheitseinrichtungen von Gaza wurden direkt oder indirekt
von Bomben und Granaten getroffen. „Medizinische Hilfe und Rettung wurden in
vielen Fällen ebenfalls vorsätzlich behindert“.
Die Menschen haben keine
Arbeit mehr, 40.000 Arbeitsplätze gingen in der Landwirtschaft, 42.000 in der
Bauwirtschaft verloren.
Es sind kleine Beobachtungen,
die zeigen, wie fleißig auch unter eingeschränkten Besatzungsbedingungen
Jahrzehnte die Wirtschaft geatmet hat. Ein Erdbeerbauer – zusätzlich
Vorsitzender des Erdbeerbauerverbandes („Association of Strawberry Farmers“) mit
Sitz in Beit Lahia erklärte der Kommission, er habe vor dem Kriege bis zu 2.000
Tonnen Erdbeeren nach Europa
exportiert. Nun aber wurden im Krieg hunderte Dunum Land sowie 300 Gewächshäuser
und 2000 Morgen Zitronenbaumwälder zerstört. „Hierdurch war der europäische
Markt für ihre Produkte verloren“.
Zwischendurch liest man und es
stockt einem der Atem, zumal wenn man sich bewusst macht, wie furchtbar
Kriegseinwirkungen auf Kinder und behinderte Menschen sind. Kinder wiesen
Anzeichen tiefer Depression, Schlafstörungen und Bettnässen
auf. „Die Kommission hörte die Aussage einer Mutter, deren Kinder
(zwischen 3und 16 Jahren) mit ansehen mussten, wie man ihren Vater in ihrem
eigenen Haus tötete. Während israelische Soldaten ihre Mutter eindringlich
befragten und ihr haus verwüsteten, fragten die Kinder ihre Mutter, ob man sie
auch töten werde. Der Mutter fiel kein einziger Trost ein als ihnen zu sagen,
sie sollen die Shehada – das Gebet, das man im Angesicht des Todes spricht –
beten.“ Der Paragraph schließt mit dem Zitat der Mutter Massouda Sobhia
al-Samouni, die erzählte, dass ihr Sohn immer noch traumatisiert sei. „Er steckt
immer noch Münzen in den Mund, und wenn sie sagt, dass das gefährlich sei und er
sterben könne, wenn er nicht damit aufhöre, antwortet er, er wolle zu seinem
Vater“.
In § 1287 wird von einer
Person bericht, deren elektrischer Rollstuhl verloren ging, nachdem sein Haus
gezielt angegriffen und zerstört worden war. Da die Bewohner nur vor dem
bevorstehenden Angriff sehr kurzfristig gewarnt worden waren, „konnte der
Rollstuhl nicht geborgen werden, und die Person musste von vier anderen auf
einem Plastiksessel an einen sicheren Ort getragen werden“.
Wäre es nicht an der Zeit,
dass die deutsche Regierung in Berlin sich für die Beleidigungen gegenüber einem
der besten Völker- und Menschenrechtsjuristen der Neuzeit entschuldigt. Richard
Goldstone hat sich als südafrikanischer Jude schon während der Apartheidzeit in
Südafrika vorbildlich verhalten. Er
ist - wie mir der Afrika Korrespondent der ZEIT Bartholomäus Grill während der
Leipziger Buchmesse bestätigte - am
Boden zerstört, nicht allein durch die Hetz- und Hasskampagnen gegen ihn von
Seiten der Regierung in Israel – die sich einfach nicht vorstellen konnte, dass
ihr Vernichtungswerk so eindeutig würde ans Tageslicht kommen können. Er fühlt
sich ebenso verlassen von der Vielzahl von Regierungen, die vor Ihren Völkern
immer behaupten, dass die Menschenrechte und ihre Durchsetzung Vorrang haben vor
allen anderen Erwägungen eigener Interessen.
Es würde der deutschen
Regierung, die mehr als alle in Europa diese Verpflichtung übernommen hat in der
Rechtsnachfolge der schlimmsten Verbrecherregierung
der Menschheit, gut anstehen, für den großen Richter in Südafrika eine
Lanze zu brechen. Ein Richter, der mit großer deutscher Zustimmung schon
seinerzeit das Jugoslawien UN-Tribunal in den Haag leiten durfte, das dann
zusätzlich noch das Ruanda UN-Tribunal in Arusha für den Völkermord von Ruanda.
Abraham Melzer (Hg.): Bericht
der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen über den Gaza Konflikt.
Vorwort von Stephane Hessel, Einführung von Ilan Pappe. Semit Edition
Neu Isenburg 2010 816 Seiten 25.- Euro