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Seder ohne Haggadah  ( Das Passahfest ohne die Bibel)

 

Von Carlo Strenger, Haaretz, 22.4.08

 

Was ist das Wesentliche am jüdischen Feiertag? „Sie versuchten uns zu töten. Gott rettete uns. Lasst uns essen!“ hieß es einmal  in einer jüdischen Komödie. Diese Beschreibung, die  nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist, lässt eine Frage stellen: Kann dies die Grundlage für die jüdische Identität sein?  Kann ein Staat auf solcher Grundlage geführt werden?

 

Israels Existenz und die Kontinuität der jüdischen Nation sind sehr wichtig für mich, aber der Mythos, der  eine direkte Dynastie vom legendären Patriarchen Abraham bis in die gegenwärtige Zeit beschreibt, hilft nicht weiter.

 

Seit Jahren feiern meine Freunde und ich den Sederabend,  ohne dass wir den Text in der Bibel lesen, weil dieser Teil eines mythischen Narrativs des Exils und der Rettung ist, die sich während der ganzen jüdischen Geschichte wiederholte.  Die Hauptbotschaft der Haggadah ist, dass die jüdische Nation ihre Freiheit dem blinden Gehorsam gegenüber Gott verdankt, der uns die Torah gab und uns  das Heilige Land versprochen hat, einer Gottheit, die entschieden hat, es sei angemessen, alle Erstgeborenen   in Ägypten zu töten und der uns den Befehl gegeben hat, die Amalekiter  zu liquidieren.

 

Derselbe Gott sagte zu Abraham, dessen Nachkommen wir angeblich sind, er solle auf den Berg Moriah steigen (nach der Tradition der Tempelberg) und dort seinen Sohn Isaak opfern. Abraham sandte seinen 2. Sohn Ismael zum Sterben in die Wüste. Gott rettete die Jungen, aber ihre Nachkommen leben weiter im Schatten dieser Geschichten bis auf den heutigen Tag. Als Teil ihres tiefen Glaubens an diese Geschichten, fahren sie fort, ihre Söhne zum Töten und zum Getötet-werden zu schicken – wegen ein paar Steinen an jenem Ort, wo angeblich diese  mythischen Ereignisse  stattgefunden haben sollen.

 

Die zionistische Bewegung, von Ben Gurion angeführt, enteignete den direkten Dynastie-Mythos, der mutmaßlich die Errichtung des Staates Israel rechtfertigen sollte. Während die Führer der zionistischen Bewegung diesen Mythos als  politischen Notbehelf angesehen haben mögen, sahen große Teile der israelischen Öffentlichkeit ihn seit 1967 als  heilige Realität an -- und die Auswirkungen dieser Ansichten sind erschreckend.

 

Das zentrale Thema der Sedernacht – aus der Sklaverei in die Freiheit – sollte deshalb als ein Übergang vom Mythos zur Geschichte interpretiert werden. Wir benötigen dringend den Exodus aus Ägypten, um uns vom  Mythos zu befreien, der uns an Steinmauern fesselt und  uns in eine Geschichte führt, die ein vollkommen  anderes und  sehr viel genaueres Narrativ der jüdischen Geschichte  aufdeckt.

 

Welche Bedeutung hat das Pessachfest, wenn Moses nie existiert hat und die jüdische Nation nie in der Sklaverei Ägyptens war?  Waren 2 Millionen Juden nicht vertrieben worden, sondern lebten weiter im Lande Israel bis das römische Reich zusammenbrach?  Wenn die Massada-Geschichte sich nicht wirklich ereignete ( wie Yigal Yadin wusste, aber dachte, das muss die Öffentlichkeit nicht wissen) ? Und vor allem: Falls unser Recht, hier zu sein, sich nicht auf ein göttliches Versprechen gründet, sondern allein auf den dringenden  Bedarf eines Landes  für die Juden – einer Notwendigkeit, deren Realisierung für ein anderes Volk tragischerweise eine große Katastrophe  verursachte ?

 

Das bedeutet, dass wir eine ganz andere Geschichte der jüdischen Geschichte erzählen müssen, eine Geschichte, die interessanter und komplexer als der Verfolgungs- und Erlösungs-Mythos ist. Von Maimonides bis Woody Allan, von Spinoza bis Steven Spielberg,

von Yeshayahu Leibowitz bis Hanoch Levin – die jüdische Geschichte hat uns mit faszinierenden Gestalten beschenkt, die eine großartige Geschichte  darstellen.

 

Maimonides, konvertierte nach historischen Zeugnissen  für kurze Zeit aus praktischen Gründen zum  Islam, er ist dennoch einer der größten Gelehrten des Judentums. Woody Allan

personifiziert die große Gabe des Humor – aber er heiratete seine Stieftochter. Spinoza wurde aus der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ausgestoßen – er ist aber einer der größten Philosophen aller Zeiten und einer der  Gründer der kritischen Bibelinterpretation. Steven Spielberg gründete nicht nur die „Stiftung der Geschichte der Shoah-Überlebenden“, er ist auch der geschworene Bewahrer der Menschenrechte in aller Welt.

 

Das Leiden der jüdischen Nation war real und schrecklich, aber dies ist nicht der einzige Aspekt der jüdischen Geschichte. Die neue jüdische Geschichte wird die farbenreiche Geschichte großer Erfinder, Wissenschaftler, Gaunern, Geschäftsleuten, Komödianten und Künstlern, die nicht nur fürs Überleben lebten, sondern um Leben zu schaffen und zu feiern, weil – wie Freud uns lehrte - um Traumata zu überwinden, muss man  sich vom Mythos zur Geschichte bewegen. Traumatas als Vorwand für Unmenschlichkeit,  lässt diese nur weiter wirken.

 

Die jüdische Tradition des kritischen Denkens, der Ironie und des Weltbürgertum hat ihre erste Schlacht um die Definition der israelischen Identität verloren. Aber die Stimmen von Ahad Haam ( hebr. für Asher Hirsch Ginsberg), Martin Buber und Yeshayahu Leibowitz klingen weiter in unsern Ohren. Sie müssen uns mit  Stoff für einen neuen Sederabend beschenken. 

 

Der Autor ist Professor der Psychologie an der Tel Aviver Universität und ein Mitglied des

„Permanent Monitoring Panel on Terrorism of the World Federation of Scientists”

 

(dt. Ellen Rohlfs)