Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
The Guardian,
10.
10. 14
Während
der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts verließ
mein Vater die Talmud-Schule und
hörte
auf, in die Synagoge zu gehen. Regelmäßig
drückte
er seinen Widerwillen gegen die Rabbiner aus. An diesem Punkt fühlte
ich in meinem eigenen Leben wiederum
eine moralische Verpflichtung, mit dem tribalen Judeozentrismus zu
brechen. Mir ist heute voll bewusst, dass ich niemals ein echter säkularer
Jude gewesen bin, der versteht,
dass solch einem imaginären
Merkmal jede spezifische Basis oder kulturelle Perspektive fehlt und dass
seine Existenz sich auf eine hohle und ethnozentrische Ansicht der Welt gründet.
Früher
glaubte ich fälschlicher
Weise, dass die jiddische Kultur der Familie, in der ich aufwuchs, die Verkörperung
der jüdischen
Kultur sei. Ein bisschen später
wurde ich von Bernard Lazare,
Mordechai Anielewicz, Marcel Rayman und Marek Edelman beeinflusst, die alle
gegen den Antisemitismus, Nazismus und Stalinismus kämpften,
aber ohne eine ethnozentrische
Ansicht zu
übernehmen
–
identifizierte ich mich als Teil einer unterdrückten
und abgelehnten Minderheit. In Gesellschaft des sozialistischen Führers
Leon Blum, dem Dichter Julian Tuwim und vielen anderen blieb ich
hartnäckig
ein Jude, der seine Identität
akzeptiert hat auf Grund der Verfolgungen und Mörder,
Verbrechen und ihrer Opfer.
Jetzt, nachdem mir schmerzlich
bewusst geworden ist, dass ich eine Anhänglichkeit
an Israel durchgemacht habe, durch Gesetz
in einer fiktiven Ethnie von Verfolgern und ihren Unterstützen
assimiliert worden bin, und in der Welt als einer aus dem exklusiven
Klub der Erwählten
und ihrer Gefolgsleute erschienen bin. Nun wünsche
ich
zurück
zu treten und möchte
mich selbst nicht mehr als Jude ansehen.
Obwohl der Staat Israel nicht bereit ist, meine offizielle Nationalität
von
„Jude“
in
„Israeli“
zu verändern,
so wage ich zu hoffen, dass freundliche Philosemiten, engagierte Zionisten
und
begeisterte Antizionisten, dass alle, die so oft
sich von wesentlichen Ideen ernährten,
meinen Wunsch respektieren und aufhören
, mich als Juden einzuordnen. Als Tatsache: was sie denken, bedeutet mir
wenig und noch weniger, was die noch vorhandenen antisemitischen Idioten
denken. Angesichts der historischen Tragödien
des 20. Jahrhunderts bin ich entschlossen, nicht
mehr länger
zu einer kleinen Minderheit in einem
exklusiven Club zu gehören,
bei dem andere weder die Möglichkeit,
noch die Qualifikation haben, sich ihm anzuschließen.
Durch meine Weigerung, ein Jude zu sein, vertrete ich
eine Art, die dabei ist, zu verschwinden. Ich weiß,
dass ich - wenn ich darauf bestehe , dass nur meine historische Vergangenheit jüdisch
war, während
meine tägliche
Präsenz
(wohl oder
übel)
israelisch
ist und schließlich,
dass meine Zukunft und die meiner Kinder (wenigstens für
die Zukunft wünsche
ich mir das )
von universalen, offenen und edlen
Prinzipien geleitet werden muss, gegen die herrschende Mode laufe, die sich
am Ethnozentrismus orientiert.
Als Historiker der heutigen Zeit stelle ich die Hypothese auf, dass der
kulturelle Abstand zwischen meinem Urenkel und mir so groß
ist
–
oder größer
als der, der mich von meinem eigenen Urgroßvater
trennt. Umso besser. Ich habe das Missgeschick jetzt unter zu vielen Leuten zu
leben, die davon
überzeugt
sind, dass ihre Abkommen ihnen in
allen Hinsichten
ähneln,
weil für
sie die Völker
ewig sind
–
vor allem ein rassistisches Volk wie das der Juden.
Mir ist bewusst, dass ich in einer der rassistischsten Gesellschaften
der westlichen Welt
lebe. Rassismus ist bis zu einem gewissen Grad
überall
vorhanden, aber in Israel existiert er bis tief in die Gesetze hinein. Es wird
in den Schulen und Hochschulen gelehrt, in den Medien verbreitet und
über
allem und am schrecklichsten; in Israel
wissen die Rassisten nicht, was sie tun und deshalb fühlen
sie sich auch nicht verpflichtet, sich zu entschuldigen. Diese Abwesenheit eines
Bedürfnisses
für
Selbstgerechtigkeit hat Israel zu einem besonders wertvollen Bezugspunkt für
viele Bewegungen für
die politische Rechte in der Welt
gemacht, deren vergangene Geschichte von Antisemitismus nur zu gut bekannt ist.
In solch einer Gesellschaft zu leben, ist für
mich zunehmend unerträglich
geworden, aber ich muss auch zugeben, dass es nicht weniger schwierig für
mich ist, mein Heim woanders aufzuschlagen. Ich bin selbst ein Teil der
kulturellen, sprachlichen und sogar
begrifflichen Produktion des zionistischen Unternehmens und ich kann das nicht
ungeschehen machen. Durch mein tägliches
Leben und meine Kultur bin ich ein Israeli. Ich bin nicht besonders stolz
darauf, so wie ich auch keinen Grund habe, darauf stolz zu sein , dass ich ein
Mann bin mit braunen Augen und
durchschnittlicher Größe.
Oft schäme
ich mich für
Israel, besonders, wenn ich Beweise seiner grausamen militärischen
Kolonisierung mitbekomme und zwar
mit seinen schwachen und unbewaffneten Opfern, die kein Teil des
„auserwählten
Volkes“
sind.
Früher
hatte ich einmal einen kurzen utopischen Traum, dass ein palästinensischer
Israeli sich in Tel Aviv so heimisch fühlt
wie ein jüdischer
Amerikaner in New York.
Ich kämpfte
und suchte nach dem zivilen Leben eines muslimischen Israeli in Jerusalem, dass
es ihm
ähnlich
ergehe wie einer jüdisch
französischen
Person, die in Paris zu Hause ist.
Ich wünschte
mir, dass israelische Kinder von christlichen afrikanischen Immigranten
so behandelt werden wie britische Kinder von
Immigranten vom indischen
Subkontinent in London. Ich hoffte von ganzen Herzen, dass alle israelischen
Kinder in denselben Schulen zusammen erzogen
werden. Heute weiß
ich, dass meine Träume
unerhört
fordernd sind, dass meine Forderungen
übertrieben
und unsachlich sind, dass allein die Tatsache, sie zu formulieren, von Zionisten
und ihren Unterstützern
als ein Angriff auf den jüdischen
Charakter des Staates Israel ist
–
und so als Antisemitismus gilt.
Doch so seltsam es aussehen mag und im Kontrast zum verschlossenen Charakter der
säkularen
jüdischen
Identität
, wird die israelische Identität
eher politisch-kulturell denn als
„ethnisch“
behandelt, und scheint
so die Möglichkeit
anzubieten, eine offene und
umfassende Identität
zu erreichen. Nach dem Gesetz ist
es tatsächlich
möglich,
ein israelischer Bürger
zu sein, ohne
ein säkular
„ethnischer“
Jude zu sein, um an seiner
„Superkultur“
teilzunehmen, während
man seine
„Infrakultur“
bewahrt, um die
vorherrschende Sprache zu sprechen und parallel eine andere Sprache
kultiviert, um verschiedene Lebensweisen aufrecht zu erhalten und so
verschiedene Kulturen vereinigt. Um dieses republikanisch politische Potential
zu festigen, würde
es natürlich
nötig
sein, eine lange verlassene
Stammeshermetik zu haben, um Respekt vor dem anderen zu lernen und ihn oder sie
als Gleichen willkommen zu heißen
und die Verfassungsgesetze Israels zu
ändern
, um sie demokratischen Prinzipien
anzugleichen.
Das Wichtigste, falls man es momentan vergessen hat: Bevor wir Ideen vorbringen,
die Israels Identitätspolitik ändern, müssen wir zuerst uns selbst von der
verhassten und endlosen Besatzung frei machen, die uns auf den Weg in die Hölle
führt. In der Tat ist unsere Beziehung mit denen, die Bürger zweiter Klasse von
Israel sind, untrennbar an unsere Beziehung zu jenen gebunden, die in
unvorstellbarer Not ganz unten an der Kette der zionistischen Rettungsaktion
(rescue operation?) leben. Diese unterdrückte Bevölkerung, die seit fast 50
Jahren unter der Besatzung lebt, die ihrer politischen und zivilen Rechte
beraubt wurde, in einem Land, das der „Judenstaat“ als das seine betrachtet, von
der internationalen Politik im Stich gelassen und ignoriert. Ich erkenne heute,
dass mein Traum von einem Ende der Besatzung und der Schaffung einer
Konföderation zwischen zwei Republiken, der israelischen und der
palästinensischen, ein Hirngespenst war, das das Gleichgewicht der Kräfte
zwischen den beiden Parteien unterschätzt hat.
Mehr und mehr scheint es so, als sei es bereits zu spät; alles scheint bereits
verloren und jede ernstgemeinte Annäherung an eine politische Lösung ist
festgefahren. Israel ist gewachsen, indem es sich daran gewöhnt hat, und ist
unfähig, sich aus seiner kolonialen Dominanz über ein anderes Volk zu befreien.
Die Außenwelt tut unglücklicherweise auch nicht das, was nötig wäre. Ihre Reue
und ihr schlechtes Gewissen hindert es daran, Israel zu überzeugen, sich in die
Grenzen von 1948 zurückzuziehen, noch ist Israel bereit, die besetzten Gebiete
offiziell zu annektieren, da es dann der besetzten Bevölkerung gleiche
Bürgerrechte gewähren müsste und sich alleine schon aufgrund dieser Tatsache, in
einen bi-nationalen Staat umwandeln würde. Es (Israel) ist eher wie die
mythologische Schlange, die ein zu dickes Opfer verschluckt hat, aber es
bevorzugt, lieber zu ersticken, als dieses aufzugeben.
Bedeutet das, dass auch ich die Hoffnung aufgeben muss? Ich lebe in tiefem
Widerspruch. Ich fühle mich wie ein Verbannter, angesichts der wachsenden
Ethnisierung um mich herum, während zur selben Zeit die Sprache, in der ich
spreche, schreibe und träume, überwiegend Hebräisch ist. Wenn ich mich im
Ausland befinde, überkommt mich eine Sehnsucht nach dieser Sprache, Instrument
meiner Emotionen und Gedanken. Wenn ich weit entfernt von Israel bin, gehe ich
nicht in Synagogen, um diese Sehnsucht zu zerstreuen, weil sie dort in einer
Sprache beten, die nicht die meine ist, und die Menschen, die ich dort treffe,
haben absolut kein Interesse daran, zu verstehen, was es für mich bedeutet, ein
Israeli zu sein.
In London sind es die Universitäten und deren Studenten beider Geschlechter,
nicht die Talmudschulen (wo es keine weiblichen Studenten gibt), die mich an den
Campus erinnern, wo ich tätig war. In New York sind es die Manhattan-Cafés,
nicht die Brooklyn Enklaven, die mich einladen und mich anziehen, wie die in Tel
Aviv. Und wenn ich die zahlreichen Bücherläden von Paris besuche, ist das, was
mir in den Sinn kommt, die hebräische Buchwoche, die jedes Jahr in Israel
organisiert wird, und nicht die heilige Literatur meiner Ahnen.
Meine tiefe Verbundenheit mit dem Ort (Land), dient nur dazu, den Pessimismus zu
schüren, den ich ihm gegenüber empfinde. Und so überkommt mich oft Verzweiflung
über die Gegenwart und Angst vor der Zukunft. Ich bin müde und fühle, dass die
letzten Blätter der Vernunft von
unserem Baum der politischen Aktion fallen, der uns unproduktiv zurücklässt,
angesichts der Launen der schlafwandelnden Hexenmeister des Stammes. Aber ich
kann mir nicht erlauben, völlig fatalistisch zu sein. Ich wage zu glauben, dass,
wenn es der Menschheit gelänge, ohne einen Atomkrieg aus dem 20. Jahrhundert
herauszukommen, alles möglich wäre, sogar im Nahen Osten. Wir sollten uns an die
Worte von Theodor Herzl, dem Visionär, erinnern, der für die Tatsache
verantwortlich ist, dass ich ein Israeli bin: „Wenn du es willst, ist es kein
Märchen.“
Als Nachkomme der Verfolgten, die aus der europäischen Hölle der 1940er kamen,
ohne die Hoffnung auf ein besseres Leben aufzugeben, bekam ich von dem
verängstigten Erzengel der Geschichte keine Erlaubnis, aufzugeben und zu
verzweifeln.
Das ist der Grund, um ein „anderes Morgen“ zu beschleunigen – und - was auch
immer meine Gegner sagen, ich werde weiterhin schreiben.
Dies ist ein Auszug aus: „Wie ich aufhörte, Jude zu sein“, von Shlomo Sand.
Ins Deutsche
übersetzt
von Ellen Rohlfs
ab hier übers. v. Inga Gelsdorf