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http://972mag.com/a-letter-to-the-idf-soldiers-at-sabra-and-shatils/55847
Von Ellen Siegel
Am 30. Jahrestag des Sabra
und Shatila-Massakers erinnert sich eine jüdisch-amerikanische Krankenschwester,
die in einem Beiruter Krankenhaus arbeitete, an die erste Begegnung mit
IDF-Soldaten. Heute bittet sie sie darum, am jüdischen Neujahrstag einige
Momente daran zu denken.
An die IDF-Soldaten, die in
Sabra und Shatila waren.
Der September 2012 markiert
den 30. Jahrestag des Massakers im Sabra und Shatila-Flüchtlingslager in Beirut.
1982 fielen die letzten Stunden dieses schrecklichen Ereignisses mit dem ersten
Tag von Rosh Hashana zusammen. In diesem Jahr ist es der erste Tag des jüdischen
Neuen Jahres, der 16. September – als das Töten begann.
Ich begegnete euch 1982.
Ich arbeitete als Krankenschwester in einem Krankenhaus
in Sabra. Ich kam nach Israels Invasion in den Libanon, bald nachdem
Israel sich weigerte, Nahrungsmittel, Wasser und lebenswichtige Medikamente in
die belagerte Stadt gelangen zu lassen. Ich war eine Vertreterin des
Humanitätsgedankens. Moralisch konnte ich nicht zuschauen und
während der Zerstörung einer Stadt und dem Morden und Verletzen seiner
Bewohner schweigen.
Nach der Ermordung des
gerade gewählten Präsidenten des Libanon Mitte September brach die Hölle los.
Ich hörte, wie israelische Flugzeuge über den Lagern die Schallgrenze
durchbrachen, hörte die andauernde Artillerie schießen und hielt mich fern von
zersplitterten Fenster. Fast 48 Stunden, vom 16.-18. September versuchte ich,
das Leben jener zu retten, die ins Krankenhaus gebracht wurden. Viele hatten
schwere Wunden, da sie aus nächster Nähe
angeschossen worden waren. Ich kümmerte mich um Hunderte , die vor Angst
und Schrecken Schutz im Krankenhaus suchten. Ich versuchte, die
halsabschneidenden Gesten der Frauen zu verstehen. Ich beobachtete vom
obersten Stockwerk des Krankenhauses, wie Leuchtraketen
in die Luft abgeschossen wurden. Sie erleuchteten Teile des Lagers, das
Geräusch von automatischen Waffen folgte nach jeder
Illumination.
Der erste Tag des Jahres
5743 war von der Ankunft der Phalangisten markiert – ihr, die ihr dort wart,
erinnert euch an diese extremen Milizen – vor dem Krankenhaus. Sie befahlen den
internationalen Krankenpflegern sich zu versammeln. Sie ließen uns die
Hauptstraße des Lagers hinuntergehen, vorbei an Leichen, an einem Bulldozer mit
hebräischen Buchstaben, der Erde über eine große Fläche deckte, wo einmal
Wohnungen standen Viele der Milizen
benützten Walkie-Talkies. An einer Stelle ließen uns die Soldaten an einer von
Kugeln durchlöcherten Wand aufstellen und richteten ihre Gewehre auf uns. Aber
nach einigen Minuten taten sie sie nach unten und ließen uns aus dem Lager
gehen.
Sie führten uns eine Straße
entlang zu einem verlassenen UN-Gebäude. Im Hof sah ich Teile von IDF-Uniformen,
weggeworfene Armeerationen, und
die israelische Zeitung Yedioth Ahronot aus den letzten Tagen. Nachdem
man uns ausgefragt hatte, führten sie uns über die Straße zum
IDF-Kommandoposten. Der war in einem fünfstöckigen Gebäude, von dem man die
Lager rund herum überschauen konnte; wir sahen Soldaten, die mit
Fernrohren in die Lager schauten. Hier war es, wo ich euch das erste Mal
begegnete.
Einige von Euch trugen eine
Kipa und einen Gebetsschal und lasen
in einem Gebetsbuch.
Es war am Vormittag,
vielleicht rezitiertet ihr das Amidah /Gebet), das aus vielen Gebeten besteht:
in einem ging es um Frieden, Güte, Segen, Freundlichkeit und Mitleid. Einer bot
einer Krankenschwester ein Stück sorgfältig eingepackten Honigkuchen
an – vielleicht hat ihn deine Mutter dir während deines langen
Militärdienstes mitgegeben. Traditionell beginnen wir das Neue Jahr damit, dass
wir etwas Süßes essen – gewöhnlich Honigkuchen – mit den Wünschen für ein gutes,
süßes Jahr. Ich habe diese Geste
nie vergessen. Aber wenn ich zurückdenke,
so fühlte ich mich nicht wohl dabei, das jüdische Neue Jahr zu feiern,
während Tausende von Unschuldigen
unten in Massengräbern lagen. Einer von Euch sagte „Heute ist Weihnachten.“ Ich
verstand, was er sagen wollte. Für uns beginnt an diesem Tag zehn Tage der
Rückschau und Reue, wenn das Buch des Lebens geöffnet wird und das Schicksal des
nächsten Jahres besiegelt ist.
Im September werde ich nach
Beirut zurückkehren, wie ich es jedes Jahr tat – um zu erinnern, um zu gedenken,
um die Massengräber zu besuchen, mich mit Überlebenden zu treffen, um neben
denen zu stehen, die ihre Liebsten verloren haben und um Zeugnis abzulegen.
Ich frage mich, was während
der letzten drei Jahrzehnten mit euch geschehen ist. Ich weiß, dass Emil
Grunzweig, der ein Peace-Now-Aktivist im Februar 1983 während einer Demo
- einer der größten in der israelischen Geschichte – ermordet worden ist.
Er hatte Ministerpräsident Begin gebeten, die Empfehlung der Kahan-Kommission
anzunehmen, dass das Massaker untersucht werden solle. Lt, Avi Grabovsky legte
vor der Kommission Zeugnis ab. Ari Folman machte einen Film „Waltz with Bashir“.
Wie ist es mit dem Rest von
Euch? Viele von euch haben Kinder, vielleicht sogar Enkelkinder. Lebt ihr in
gemütlichen Wohnungen; habt ihr ein Gefühl von Sicherheit in euren Häusern und
Vororten? Seid ihr gut ernährt? Habt ihr eine gute Schulausbildung erhalten und
verdient nun einen guten Lebensunterhalt und seid gut krankenversichert? Freut
ihr euch eures Lebens? Was gebt ihr eurer nächsten Generation weiter?
Lasst mich euch erzählen,
wie das Leben der Palästinenser aussieht, das ich, seit ich in Sabra und Shatila
lebte, kenne. Mehr als 9000 Flüchtlinge leben auf einem Quadratkilometer. Die
meisten Wohnungen sind überbelegt, sind feucht, schlecht belüftet, einige haben
Blechdächer. Offene Abwässerkanäle laufen durch das Lager. Die Bevölkerung ist
Feindseligkeiten verschiedener politischer Fraktionen ausgesetzt. Den
Flüchtlingen wird das Recht verweigert, in den meisten Jobs zu arbeiten. Verarmt
sind sie von einer überarbeiteten und unterfinanzierten UNRWA abhängig, was die
Grundgesundheitsdienste und die Schulbildung betreffen. Ungenügende Ernährung,
chronische Krankheiten und schlechte Gesundheit sind normal. Den Kindern wird
keine gute Schulbildung zuteil. Viele Flüchtlinge sind niemals außerhalb des
Lagers gewesen. Die dritte und vierte Generation ist hier geboren worden und
sterben in diesen Lagern. Es ist trostlos und entsetzlich. Die Zukunft gibt
wenig Hoffnung für irgendeine Verbesserung in ihrem Leben.
Ich weiß, dass nicht ihr
für die Lebensweise der palästinensischen Flüchtlinge anzuklagen seid. Ich bitte
euch nur, ein paar Minuten während eures heiligsten Tages zu nehmen, um an die
Flüchtlinge in Sabra und Shatila zu denken. Ich denke an euch und an die
Flüchtlinge währen dieser Tage und wünsche uns allen eine bessere Zukunft.
Dem Soldaten mit dem
Honigkuchen bis zu dem, der mir etwas von seinem Weihnachten
sagte und den anderen Shana Tovah 5773 – eingutes neues Jahr!
Ellen Siegel ist eine
jüdische Amerikanerin. Sie besuchte 1972 das erste Mal Israel, die Westbank,
Gaza und den Libanon. Seitdem ist sie einaktives Mitglied und rine
Unterstützerin der jüdischen und israelischen Friedensbewegungen und hat die
palästinensische Solidarität unterstützt. Sie machte 1982 freiwillig ihre
Pflegedienste währed des 1. israelischen Libanonkrieges, Sie arbeitete im
Gaza-Krankenhau des Sabraflüchtlingslager in Beirut und war während der Massaker
dort anwesend. Vor der Kahane-Untersuchungs-Kommission legte sie Zeugnis ab. Sie
arbeitet weiter als
Krankenschwester in Teilzeit und
dient im medizinischen Komitee der amerikanischen Nahost-Flüchtlingshilfe.
(dt. Ellen Rohlfs)