Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Sehr geehrte Damen & Herren, liebe Freunde & Kollegen,
anbei finden Sie zwei Beiträge zum inneren Zustand der israelischen und der palästinensischen Gesellschaften aus der Sicht von medicos israelischen bzw. palästinensischen Partnern, sozusagen von Innen heraus. Dazu ein Kommentar in der tageszeitung, der auf diese besorgniserregende Einsichten aufbaut.
Die Weiterleitung und Veröffentlichung (unter Angaben der Quellen www.medico.de bzw. www.taz.de) ist erlaubt und erwünscht.
Mit den besten Grüßen
Tsafrir Cohen
Representative in Palestine & Israel
medico international e.V.
Al-Bireh/Ramallah: Al-Hilal Street 7A, Palestine Investment Bank Building, 5th
Floor
Jerusalem: POBox 558, 91004 Jerusalem
Israel: Die innere Entdemokratisierung
Die Arbeit
der Ärzte für Menschenrechte in Tel Aviv steht unter Druck. Neue
Gesetzesvorhaben sollen die Stimmen der israelischen Opposition einschränken.
Während die israelische Regierung gegenüber dem Engagement von Menschenrechtlern in den besetzten Gebieten stets eine ambivalente Haltung einnahm, konnten ihre Kollegen in Israel bis vor kurzem relativ ungehindert arbeiten. Die Redefreiheit war gewährleistet, und der medico-Partner Ärzte für Menschenrechte – Israel (PHR) konnte auf professioneller Ebene mit Armee- und Regierungsstellen kommunizieren und nötigenfalls durch vorgesehene Kanäle Anliegen palästinensischer Einwohner vortragen. Doch seit den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen um die Jahreswende 2008/09 stellt die israelische Regierung die Legitimität von Menschenrechtsorganisationen immer stärker in Frage. Ein Mitarbeiter der PHR wurde durch die Geheimdienste verhört und gewarnt, sich „politischen Aktivitäten“ zu Gaza zu enthalten. Mitglieder einer Kriegsdienstverweigererorganisation wurden verhaftet. Die Regierung eröffnete eine öffentliche Kampagne gegen den medico-Partner Breaking the Silence, der Zeugnisse israelischer Soldaten über die Operation ‚Gegossenes Blei’ veröffentlichten. Und die Kanäle, durch die PHR mit den Behörden kommunizierten funktionieren immer seltener.
Einschränkung des eigenen Universalprinzips
Die Versuche, den Spielraum israelischer Menschenrechtler einzuschränken, kulminieren aktuell in zwei Gesetzesinitiativen. Der erste sieht die Aberkennung der Steuerfreiheit für Organisationen, die sich für gesellschaftliche und politische Veränderungen engagieren. Diese müssten sich als politische Organisation anmelden, die Liste ihrer Mitglieder an die Behörden weitergeben. Der zweite wendet sich speziell gegen israelische Organisationen, die vor der Goldstone-Kommission Zeugnis ablegten. Jede Aktion, die dazu führen könnte, dass Militärs oder Staatsvertreter internationalen Gerichtsverfahren ausgesetzt werden, soll künftig bestraft werden. „Damit könnten wir etwa vor künftigen UN-Kommissionen nicht mehr auftreten, ihnen nicht einmal Informationen zukommen lassen“, sagt Hadas Ziv, Geschäftsführerin der PHR. Dabei sei Israel eine führende Kraft hinter dem ‚Universalprinzip’ gewesen, damit nationalsozialistische Verbrecher weltweit verfolgt werden können.
Beide Gesetzesentwürfe stammen von Kadima. Also der Partei, die im westlichen Ausland stets als Alternative zu Netanjahus Rechtsaußenregierung gepriesen wird. „Deshalb sind diese Vorhaben so gefährlich. Ihr Ziel, die Delegitimierung von Organisationen wie amnesty oder PHR, kommt aus der Mitte unserer Gesellschaft.“ Das, was die Parlamentarier tun, entsteht nicht im luftleeren Raum. So textete Amir Benayun, einer der erfolgreichsten israelischen Sänger: „Ich bin Dein Bruder, ich schreite fort, mein Rücken Dir stets zugewandt – und Du wetzt das Messer“. Im Stil eines jüdischen Gebets, wurde das Lied Tausendfach in Synagogen verteilt. Den Adressat musste er kaum nennen. Ein jeder wusste, von welcher fünften Kolonne er sang.
„Die Welt sympathisiert mit den Palästinensern, lässt ihnen aber nur humanitäre Hilfe zukommen“, sagt Hadas. „Für die Israelis hat die Welt immer weniger Empathie. Folglich nimmt sich Israel als eine Gesellschaft unter Belagerung wahr, die jede Abweichung vom Konsens als Verrat versteht. Gleichzeitig blüht die Wirtschaft und konnte das Land der OECD beitreten. Israel glaubt daher keine konkreten Schritte unternehmen zu müssen, um die Isolation zu überwinden. Aber für das Ende der Besatzung benötigen wir ein klares Signal: Ein wenig mehr Empathie bei gleichzeitigem Druck.“
Tsafrir Cohen
Projektstichwort: Einsamkeit im eigenen Land, so charakterisierten die mutigen Ärzte für Menschenrechte aus Tel Aviv oftmals ihre Arbeit. Dennoch ist ihr Engagement für die Gesundheitsversorgung, die Menschenrechte und Bürgerrechte aller Menschen in Israel und Palästina bereits jetzt ein Moment gelebter Zukunft in einem Nahen Osten jenseits der Segregation und der Gewalt. Das Spendenstichwort lautet "Israel-Palästina", Spendenkonto: 1800, Frankfurter Sparkasse, BLZ 500 502 01.
„Unsere
Zivilgesellschaft hat noch Widerstandskraft”
Interview mit Majeda Al-Saqqa,
Sprecherin der Culture & Free Thought Association, dem medico-Partner in Gaza,
über die Auswirkungen der israelischen Blockade auf das soziale und politische
Leben.
Über drei Jahre nach ihrem Beginn, wird von einer
Aufweichung der Blockade gesprochen. Grund zur Freude?
Das würde unsere Abhängigkeit von den Waren verringern, die
durch die Tunnel aus Ägypten geschmuggelt werden. Da es sich um Schmuggelware
handelt, haben Geräte keine Garantien, Medikamente und Lebensmittel falsche
Verfallsdaten, und insgesamt ist alles von miserabler Qualität. Die Blockade
betrifft alle Lebensbereiche. Unsere Fahrzeuge müssen häufiger für viel Geld in
die Reparatur, weil das schlechte Benzin den Motor beschädigt. Die Malstifte,
die wir für Kurse nutzen, trocknen nach einmaligem Gebrauch einfach aus. Gerade
schreiben alle Schüler ihre Endexamen, doch weil auch die Energiezufuhr nicht
reibungslos funktioniert, fällt der Strom etwa acht Stunden am Tag aus, meist
abends. Eine bessere und kontrollierte Zufuhr von Hilfsgütern wird aber die
Arbeitslosigkeit, die bei über 40% liegt, nicht senken helfen. Auch wird sie die
Abhängigkeit von Außenhilfe nicht verringern, die bei
80% liegt. Beides verursacht eine Krise der Würde.
Wie wirkt diese Krise der
Würde aus?
Die physische Aussperrung zieht
eine mentale Blockade nach sich. Ohne Arbeit sind die Tage eine ständige
Wiederholung, die Menschen ziehen sich immer mehr ins Private zurück.
Währenddessen wird die öffentliche Sphäre von religiösen Angeboten, etwa der
islamischen Universitäten, besetzt. Alternativen dagegen sind immer schwieriger.
Früher organisierten wir in unseren Zentren rege, kontroverse politische
Diskussionen. Heute undenkbar. Gegenwärtig müssen wir aufpassen, wen wir
einladen und welche Themen wir aussuchen, denn es werden Exempel statuiert.
Neulich wurde eine befreundete Nichtregierungsorganisation geschlossen.
Wahrscheinlich weil sie gemischtgeschlechtliche Angebote hatten. Vielleicht aber
auch weil sie mit den islamischen Organisationen konkurrierten. Früher wären
Leute auf die Straße gegangen. Heute geht es nicht mehr. Der Protest verlegte
sich aber aufs Internet. 12.000 Menschen haben sich diesem Protest
angeschlossen, und die Organisation durfte wieder aufmachen. Die Gazaer
Zivilgesellschaft hat noch Widerstandskraft. Doch es ist ein Kampf gegen die
Zeit. Denn einmal angestoßen, können solche Entwicklungen nur schwer
rückgängig gemacht werden. Wenn die Einschränkungen
der Bewegungsfreiheit nicht aufgehoben werden, werden wir zu einer
geschlossenen, konservativen Gesellschaft mit immer mehr reaktionären Elementen.
Sind Frauen besonders hiervon
betroffen?
Eindeutig. Während junge Männer
ihre Zeit wenigstens in Cafes verbringen können, dürfen Mädchen kaum dorthin.
Gehen sie dahin, etwa mit der Familie, so ist es ihnen mittlerweile in der
Öffentlichkeit untersagt, Wasserpfeife zu rauchen. Auch ein Strandbesuch ist
mittlerweile nur in familiärer Begleitung üblich. Der Aktionsradius - und damit
die Lebenswelt - von Frauen beschränkt sich immer mehr auf das eigene Haus und
die (Groß)Familie. Bei sozioökonomisch schwachen Haushalten dürfen Frauen das
Haus unbegleitet nur mit gutem Grund verlassen. Etwa wenn medizinische Gründe
vorliegen. Etwa für einen Besuch eines unserer Frauengesundheitsprogramme. Hier
setzen wir an: Einmal in unserem Zentrum angekommen, nehmen sie an einem
Gesundheitscheck oder einem Kurs zu Brustkrebsfrüherkennung teil. Gleichzeitig
können sie unsere anderen Angebote wahrnehmen. Sie können einen Vortrag hören,
an einem Malkurs teilnehmen, Sport treiben oder einfach mit anderen Frauen im
Hamam ausspannen. Für viele Frauen ist unser Zentrum die einzige verbliebene
Möglichkeit die eigenen Horizonte zu erweitern.
Interview: Tsafrir Cohen
Projektstichwort:
Die
Frauenorganisation „The Culture and
Free Thought Association“ (CFTA) betreibt im südlichen Gazastreifen sechs
Zentren für Frauen, Kinder und Jugendliche. Das Frauengesundheitszentrum
befindet sich in Flüchtlingslager Al Bureij, etwa fünf Kilometer südlich von
Gaza-Stadt, in dem ca. 30.000 Menschen leben. Das Lager ist gilt als besonders
gewalttätiger Ort für Frauen mit einer hohen Rate an schwerer häuslicher Gewalt.
medico unterstützt die aktuelle CTA-Kampagne zur Brustkrebsfrüherkennung. Unser
Spendenstichwort für Gaza lautet: "Palästina". Spendenkonto: 1800, Frankfurter
Sparkasse, BLZ 500 502 01.
KOMMENTAR VON TSAFRIR COHEN
Als
FDP-Minister Dirk Niebel die Lage für Israel kürzlich als "fünf vor zwölf"
beschrieb, warf man ihm vor, die Solidarität aufgekündigt zu haben. Diese
reflexhafte Kritik an dem ausgewiesenen Israelfreund verweist auf einen
grundsätzlichen Widerspruch im deutschen Verhältnis zu Israel. Die deutsche
Politik folgt dem Prinzip der "Solidarität mit Israel", was nichts anderes als
bedingungslose Unterstützung bedeutet. Dem gegenüber steht eine außenpolitische
Haltung, die sich die Verteidigung des Völkerrechts sowie die weltweite
Förderung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auf die Fahnen
geschrieben hat.
Beide Ansätze, der partikulare und der universelle, sind aus der Erfahrung des
Naziterrors geboren. In Bezug auf den Nahen Osten geraten sie in Widerspruch,
wenn Israel unseren außenpolitischen Grundsätzen zuwider handelt, was in den
letzten Jahrzehnten immer häufiger geschehen ist.
Bislang versuchten diverse Bundesregierungen diesen Widerspruch dadurch
aufzulösen, indem sie den Palästinensern viel Geld gaben und Israel - meist im
Rahmen gesamteuropäischer Beschlüsse - für allzu offensichtlichen Verstöße gegen
das Völkerrecht kritisierte. Diese Kritik hatte allerdings keinerlei
Auswirkungen auf die Tagespolitik. Unserer Bereitschaft, Israel in allen Fragen
internationaler Zusammenarbeit entgegenzukommen - von der Visabefreiung bis zur
Wirtschaftsintegration, ganz zu Schweigen von Waffengeschenken in dreistelliger
Millionenhöhe - tut unserem Bekenntnis zu Menschenwürde und Völkerrecht keinen
Abbruch.
Diese widersprüchliche Haltung könnte man als interne deutsche Angelegenheit
abtun. Nur: Der deutsche Diskurs hat handfeste Auswirkungen auf die Situation
vor Ort. Denn ohne Deutschland kann es keine kohärente europäische Nahostpolitik
geben.
Dass die Situation vor Ort unhaltbar ist, hat nicht erst der israelische Angriff
auf den Schiffskonvoi gezeigt. Den Kern des Konflikts bilden die seit über 40
Jahren anhaltende israelische Besatzung, die Siedlungspolitik und die damit
einhergehende Entrechtung der Palästinenser. Die derzeitige Entwicklung schließt
die Palästinenser in dichtgedrängten Enklaven ein, die ohne Almosen aus Europa
gar nicht lebensfähig wären. Die Arbeits- und Perspektivlosigkeit in diesen
abgeriegelten Enklaven trägt dazu bei, dass die palästinensische Gesellschaft
immer geschlossener, konservativer wird und von reaktionären Elementen
beherrscht wird. Aber auch auf Israels demokratische und rechtsstaatliche
Strukturen hat die Besatzung fatale Rückwirkungen. So wird in der Knesset gerade
geplant, die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen im Land per Gesetz
einzuschränken. Der mangelnde Protest dagegen zeigt, wie weit Israels
demokratische Grundfesten durch die Besatzung bereits aufgeweicht worden sind.
Blinde Unterstützung rächt sich
Solidarität mit Israel darf kein "Vertrag zu Lasten Dritter" sein. Darum ist es
an der Zeit, unsere Nahostpolitik neu auszurichten. Es steht außer Frage, dass
Deutschland aufgrund der Schoah gegenüber dem jüdischen Volk eine historische
Verantwortung trägt. Dies sollte vor allem bedeuten, dem Antisemitismus in
Europa entschieden entgegenzutreten und die Sicherheit jüdischen Lebens dort zu
gewährleisten.
Es ist jedoch keinesfalls zwingend, diese Verantwortung auf den Staat Israel zu
übertragen. Tun wir dies, müssen wir uns der Tatsache bewusst sein, welche
Auswirkungen unsere Unterstützung für Israel hat. Denn seine Vormachtstellung im
Nahen Osten verdankt das Land nicht zuletzt seinen engen Beziehungen zum Westen.
Ohne sie wäre das Besatzung kaum aufrechtzuerhalten.
Die blinde Unterstützung durch den Westen erlaubt es den israelischen Eliten in
Wirtschaft und Politik, ihrer Friedensrhetorik keine Taten folgen zu lassen: Der
Preis des innenpolitischen Konflikts mit der extremen Rechten und der
Siedlerlobby erscheint vielen zu hoch. Diese sind derzeit maßgeblich an der
Regierung beteiligt und nicht einmal bemüht, auch nur den Anschein zu wahren, an
einer Friedenslösung interessiert zu sein.
Betrachtet man die Demografie zwischen Mittelmeer und Jordan, kann man jedoch
nur zu dem Schluss kommen, dass die Gründung eines lebensfähigen
palästinensischen Staates in Israels ureigenem Interesse liegt. Die Alternativen
sind rar. Denn entweder gewährt Israel den Palästinensern gleiche Rechte,
wodurch es seinen jüdischen Charakter verlieren würde - was derzeit völlig
undenkbar ist. Oder aber es setzt die derzeitige Entwicklung fort, die
unweigerlich zu einer Art von Apartheidssystem führen muss, wie selbst Israels
Expremier Ehud Olmert einräumte.
Notwendiger Druck von außen
Viele Israelis fühlen sich im Belagerungszustand. Wir tun ihnen aber keinen
Gefallen, wenn wir ihnen nicht helfen, aus diesem Teufelskreis auszubrechen und
einen ernsthaften Ausgleich mit den Palästinensern zu suchen. Das geht nur mit
freundlichem, aber bestimmtem Druck.
Israel steht in seiner Region derzeit weitgehend isoliert da und kann sich nur
auf die Unterstützung seiner Freunde im Westen stützen. Würde diese
Unterstützung von der Umsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen abhängig
gemacht, wäre Israel zweifellos bereit, diesen "Preis" zu zahlen. Er würde
obendrein eine ordentliche Dividende bringen - einen historischen Ausgleich mit
allen Nachbarstaaten, die Israel mit ihrer "Arabischen Friedensinitiative" seit
2002 eine komplette Normalisierung zu angemessenen Konditionen anbieten. Welche
Vorteile ein Frieden in der Nachbarschaft mit sich bringt, weiß niemand so gut
wie die Europäer.
Und was kann die deutsche Linke tun? In unseren Zeiten gilt der globale Kampf
einer emanzipatorischen und solidarischen Gesellschaft, die den "Anderen" nicht
bloß als Sicherheitsrisiko wahrnimmt. Dieser Kampf tobt auch in Israel und den
palästinensischen Gebieten. Gerade jetzt, wo der israelischen Linken,
Menschenrechtsgruppen und palästinensischen NGOs immer kleinere Spielräume zur
Verfügung stehen, brauchen sie unser Engagement und unsere Unterstützung.
Tsafrir Cohen ist Repräsentant von medico international im Nahen Osten. Er wuchs
in Israel und Kanada auf, lebte von 1986 bis 2007 in Berlin und pendelt nun
zwischen Jerusalem und Ramallah. Mehr unter
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