Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
Der einsame Reiter
Uri Avnery, 6.9.08
BEI DER Beerdigung von Abi
Nathan sagte ich zu mir: das Israel wie es ist, nimmt Abschied vom
Israel, wie es hätte sein können.
Abschied von dem Idealbild eines
Staates, von dem wir träumten, als er gegründet wurde; von einem Staat, in
dem moralische Überlegungen die Innen-
wie Außenpolitik beherrschen; von einem
Staat, dessen Bürger für ihre Taten und die Taten des Landes die Verantwortung
übernehmen.
Abi Nathan symbolisierte
diese Hoffnungen, nicht theoretisch, sondern praktisch – durch seine eigenen
Taten.
ICH WAR ein Augenzeuge der
Geburt dieses Abie.
Als ich Ende der 50er-Jahre
nach ein paar Tagen im Ausland zurückgekommen war, hörte ich, dass sich in der
Tel Aviver Szene etwas Neues getan hatte: einige
Mitglieder des Flugpersonals von El Al hatten
mitten im Zentrum der Stadt ein
neues Cafe eröffnet, an der Ecke Dizengoff- und Frishman-Straße.
Wir liebten „California“ von Anfang an, nicht zuletzt wegen des
Gastgebers, eines Piloten mit Namen Abie. Man sagte,
er sei im Iran geboren und in Indien aufgewachsen, habe sich der
Britisch-Königlichen Luftwaffe angeschlossen und habe freiwillig als einer
unserer ersten Piloten am 1948er Krieg teilgenommen.
Abie war damals 33, hatte einen dunklen Teint und ein
breites Lächeln. Er sprach meistens Englisch oder Hebräisch mit einem deutlich
englischen Akzent. Er war ein perfekter Gastgeber, und er wusste, wie er seinen
Gästen das Gefühl geben konnte, sie seien
etwas Besonderes, als seien sie seine persönlichen Freunde. Innerhalb
kurzer Zeit wurde der Ort zum Treffpunkt von Tel Avivs Bohème
– einer Gruppe von Künstlern,
Schriftstellern, Medienleuten, Berühmtheiten und Nachtschwärmern, die Tel Aviv
in ein Zentrum des gesellschaftlichen Lebens des Landes verwandelten. Auch die Politiker wurden durch die Lebendigkeit dieses Ortes angezogen.
Das Leben des Restaurants
drehte sich um ihn: wenn er für ein paar Wochen nicht da war, verschwanden auch
die Kunden. Er wusste , wie man die Leute verwöhnen
kann: er spendierte Getränke an und bereitete besondere Gerichte,
die die Leute mochten. Es gab auch
Stammtische. (Der Stammtisch, bei
dem ich jeden Freitagabend bin, kommt bis zum heutigen Tag zusammen).
Der junge Staat jener Tage
war optimistisch, aufregend, ein Paradies für junge Leute. Die neue hebräische
Kultur mit ihren Autoren, Dichtern, Theater- und satirischen Programmen blühte,
und die Bohèmes von Tel Aviv gaben den Ton an. Ihr
Organ war „Haolam Hazeh“,
eine radikale Wochenzeitung gegen das Establishment. Ich war ihr Chefredakteur.
Eines Tages im Sommer 1965
nahm mich Abie beiseite und fragte mich nach meiner
Meinung. Seine Freunde drängten ihn, er solle sich um einen Sitz in der Knesset
bemühen, sagte er.
Ehrlich gesagt, war meine
erste Reaktion, dies sei ein Witz. Aber nach ein paar Tagen wurde mir klar,
dass dies todernst gemeint war. Abie, der die
Politiker an seinen Tischen sitzen sah und ihren Gesprächen zuhörte, fragte
sich: Sind sie besser als ich?
Eine kleine Gruppe seiner Restaurantkunden sammelte sich um ihn.
Sie waren Leute, die sich auskannten und
sie stachelten ihn an. Was wie ein Spiel begonnen hatte, sollte weitreichende Konsequenzen haben.
ICH MUSS gestehen, es ärgerte
mich.
Kurz zuvor hatte die
Regierung ein neues Pressegesetz herausgegeben, das ganz offen darauf abzielte,
Haolam Hazeh mundtot zu
machen. Es drohte mit drakonischen Strafen für die Zeitungen, die Verleumdungen
(„böse Zunge“ auf Hebräisch) veröffentlichten, und es beabsichtigte
klar, unsere Enthüllungen über Regierungsangehörige zu stoppen. Als
Reaktion darauf gründete eine Gruppe von Friedens- und Menschenrechtsaktivisten
eine Bewegung, die die radikale Linie der Zeitschrift repräsentierte: Frieden
mit den Palästinensern, Kampf gegen Korruption, Trennung von Staat und
Religion, soziale Solidarität. Sie nannten sie „Haolam
Hazeh – Neue Kraft-Bewegung“. Es war ein gewagtes Unterfangen. Bis dahin war es keinem
gelungen, mit einer neuen politischen
Kraft in die Knesset einzudringen. Sie war in der damaligen Zeit ein exklusiver
Klub von alt etablierten Parteien und ihren Splittergruppen.
Unsere Bewegung appellierte
an die junge Generation, die im Lande aufgewachsen war. Abies
Liste hätte uns einen Teil dieses Publikums,
dessen Ausmaß unsicher war, wegnehmen können. Das hätte dazu führen können,
dass wir an der Sperrklausel gescheitert wären.
Abies Freunde – unter ihnen einige PR-Leute – schauten nach
einem Gag, um die Aufmerksamkeit auf seine Liste zu ziehen. Sie stießen auf
einen Trick von vor ein paar Jahren. Dwight Eisenhower war gewählt worden,
nachdem er versprochen hatte, „nach Korea zu fliegen“, um dort den Krieg zu
beenden. Nun, Abie war Pilot. Warum nicht
versprechen, dass er nach Ägypten fliegen würde, wenn er gewählt würde?
Ägypten war damals der
Hauptfeind Israels. Neun Jahre vorher hatte Israel es in Absprache mit zwei Kolonialmächten,
Frankreich und Großbritannien, angegriffen. Jeder verstand, dass ein Dort-hin-fliegen ein sehr gefährliches Unternehmen war.
Abie erwarb ein kleines Flugzeug, strich es weiß an und
nannte es „Frieden eins“ Es wurde auf
einem leeren Platz in der Nähe des Restaurants abgestellt. Einer der Freunde
komponierte ein eingängiges Liedchen dafür.
Doch der Gag funktionierte nicht.
Abies Liste bekam nur 2135 Stimmen, weit unter dem
erforderlichen Minimum. Die Haolam Hazeh-Liste erhielt 1,5% der Stimmen aus dem ganzen Land –
und ich wurde gewählt. Wenn wir die Unterstützung von Abies
Stimmen gehabt hätten, hätten wir einen
zweiten Sitz in der Knesset gewonnen.
Das hätte das Ende der
Geschichte sein können – aber mit Abie geschah etwas. Die Idee, die mit einem Wahlgag begann,
hielt ihn fest. Der extrovertierte, unbekümmerte Restaurantbesitzer, der
Liebling der Bohèmians, begann die Sache mit dem
Frieden sehr ernst zu nehmen.
Ein paar Monate nach den
Wahlen, mitten während einer
Knessetsitzung, brachte mir jemand eine alarmierende Nachricht: Abie war auf seinem Weg nach Ägypten. Er war am Morgen in
sein Flugzeug geklettert und abgeflogen. Das ganze Land hielt den Atem an. Und
dann kam der Schock: das Radio verkündete, dass sein Flugzeug abgeschossen
worden sei und dass es unklar sei, ob Abie dabei
überlebt habe.
Die Öffentlichkeit war
wie zerstört. Aufgeregte Leute, von
denen einige offen weinten, hingen am Radio. Und dann kam eine andere
aufregende Nachricht. Abie war nicht abgeschossen
worden, sondern war sicher in Port Said gelandet und herzlich vom ägyptischen
Gouverneur empfangen worden.
Ein brillanter
Dramatiker hätte die Herzen der Menschen
nicht wirksamer kneten können. Die
Ägypter hatten Abi zwar nicht mit Gamal Abd-al-Nasser, den damals schon legendären ägyptischen
Führer, zusammentreffen lassen. Aber sie
tankten sein Flugzeug wieder auf und sandten ihn mit allem Respekt nach Hause.
Keiner, der damals in Israel
lebte, wird diesen Tag jemals vergessen
können. Was mich selbst betraf, hörte ich auf, an Abies
Ehrlichkeit zu zweifeln. Ich begann, seine Aktionen in einem neuen Licht zu
sehen.
WIR WURDEN keine Partner. Abie hatte keine Partner. Er achtete nicht auf die Meinung
anderer. Er tat alles nach eigenem Gutdünken. Wie der erste Flug waren all
seine Aktionen ganz und gar persönlich: er ergriff die Initiative, er traf die
Entscheidung, er führte sie aus. Er übernahm persönlich für alles die
Verantwortung und nahm die Konsequenzen auf sich. Aber er hatte ein besonderes
Talent, andere mit seiner Begeisterung anzustecken, sogar für Aufgaben , die unmöglich
und zu phantastisch schienen. Einige von denen, die ihn damals
begleiteten, blieben ihm bis zu seinem letzten Tag treu.
Seine Stärke und seine
Schwäche war der Stil des „einsamen
Reiters“. Er gründete nie eine Bewegung und schloss sich nie einer an. Nie nahm
er ein politisches Programm an. Dies interessierte ihn nicht. Er erkannte die
Notwendigkeit, eine politische Kraft zu schaffen, die Einfluss auf die
Regierungspolitik gehabt hätte, nicht an. Diese Aufgabe überließ er anderen. Er
war eine Person der Gefühle, und all seine Aktionen sprachen die Gefühle an.
Das war etwas Neues. Das
israelische Friedenslager mit all seinen Fraktionen appelliert an die Logik. Es
versucht, die israelische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass für die Existenz, die Zukunft, die Sicherheit
und das Wohlbefinden des Staates Israel der Frieden notwendig sei. Aber Politik
ist eben nicht nur eine Sache der Logik. Emotionen spielen eine bedeutende
Rolle.
Wie ich immer wieder
insistiere: in der Politik ist es nicht rational, das Irrationale zu
ignorieren. Abie handelte aus dem Herzen, und so berührte er das Herz der
Leute.
Er hatte noch einen anderen
Vorteil: er war ein orientalischer Jude. Das israelische Friedenslager besteht
fast ausschließlich aus Ashkenasim (Juden
europäischen Ursprungs). Bei der jährlichen Gedenkdemonstration mit 100
000 Leuten auf Tel Avivs Rabin-Platz sieht man kaum orientalische Gesichter.
Viele Orientalen glauben, dass die ganze Sache
mit dem Frieden wirklich nur eine Angelegenheit der „ashkenasischen
Elite“ sei. Und da kommt nun ein Mann aus Abadan im
Iran mit sehr orientalischem Aussehen
und spricht auf „Augenhöhe“ .
Abie wurde auch ein authentischer orientalischer Held. Man
kann darüber streiten, ob die
Bewunderung für den Mann Abie wirklich viele Leute
für den Kampf für Frieden angezogen hat. Aber einige Jahre lang war für diese
Öffentlichkeit das Wort Frieden nicht
mehr verpönt.
VIEL IST über seine Abenteuer
geschrieben worden, und ich muss sie hier nicht noch einmal aufzählen. Sein
Engagement für Frieden wurde weiter und tiefer. Er verkaufte sein Restaurant
und kaufte ein Schiff. Es stand
unbenutzt im Hafen von New York herum, wurde von einer Pier zur anderen
geschoben und rostete dahin, bis er genügend Geld gesammelt hatte, um es auszurüsten,
damit nach Israel zu segeln und darin „Die Stimme des Friedens“ zu etablieren.
Es ankerte vor der Küste von Tel Aviv (und an jedem Morgen fiel jahrelang mein erster Blick von meinem Fenster auf das
Schiff). Es wurde ein Teil des israelischen Lebens.
Auch dies war wieder ein
typisches Unternehmen von Abie. Es gab keine
Redaktionsmannschaft, kein klares
politisches oder Bildungsprogramm. „Die Stimme des Friedens“ war Abie, und Abie war „die Stimme
des Friedens“. Eine große, junge Zuhörerschaft hörte regelmäßig die exzellente Musik dieser Station, und nebenbei nahm sie Abies
Predigten auf Englisch oder in elementarem
Hebräisch mit englischem Akzent auf. Er äußerte seine Gedanken jederzeit und auf jede Weise, wie ihm gerade
zumute war, und fügte Interviews mit Friedensaktivisten dazwischen. Seine
Stimme war jedem Israeli vertraut. Als
das Großkapital die Werbebranche übernahm und aufhörte, ihm Werbespots
zu geben, ging er fast bankrott. Aus Protest versenkte
er das Schiff in einer feierlichen Zeremonie.
Die ganze Zeit über blieb Abie ein einsamer Mensch. Erst nach seinem Tod hörte ich,
dass er Eltern und Geschwister in Israel
hatte und den Kontakt zu ihnen abgebrochen hatte. Er hatte auch zwei Töchter
von zwei verschiedenen Frauen; aber auch
mit ihnen hatte er nur losen Kontakt. Vielleicht machte
ihm sein Charakter und seine stürmische Lebensweise ein Familienleben
unmöglich, und vielleicht lag der Grund auch darin, dass man ihn als Kind in
eine Internatsschule geschickt hatte -
und dies bis zu seinem Lebensende seinen Eltern nicht vergeben konnte, wie er
einem Interviewer einmal sagte.
Er kompensierte seine
Einsamkeit, indem er eine Menge Freunde zu großen Partys einlud, die er bei
sich zu Hause gab, und seine Gäste mit exotisch indischem Essen verwöhnte, das
er selbst mit seinem indischen Helfer Rada stundenlang vorher vorbereitete. Es war 1977 bei einer dieser Partys auf dem Dach seiner Wohnung, als wir die
bittere Nachricht hörten, der Likud sei
an die Macht gekommen.
NACH DEM Yom
Kippur-Krieg flog er noch einmal nach Ägypten.
Diesmal mit einem normalen Flug. Er
hoffte, den ägyptischen Präsidenten zu treffen. Irgend etwas
war bei den Vorbereitungen schief gelaufen. Als er am Flughafen in Kairo ankam,
war niemand da, der ihn empfing. Er ging von sich aus zu einem Hotel im Zentrum
der Stadt. Und als er allein in seinem Zimmer war, wurde er immer unruhiger,
weil er meinte, er könne
irrtümlicherweise als Spion angesehen
werden. Verzweifelt rief er Eric Rouleau, einen französischen Journalisten in
Paris mit vielen guten Beziehungen an. Der kontaktierte seine Freunde in der ägyptischen Regierung. Bald kamen ein
paar Offiziere vom ägyptischen Nachrichtendienst, nahmen Abie zu einer
Stadtrundfahrt mit und setzten ihn wieder in ein Flugzeug nach Hause.
Seine einsamen Aktionen wurden
vielfältiger und häufiger. Er begann einen Hungerstreik gegen die Errichtung
der Siedlungen in den besetzten Gebieten und stellte ein Zelt im Zentrum von
Tel Aviv auf. Er wurde zum Ziel für bekannte Persönlichkeiten, die kamen, um
ihm gegenüber ihre Bewunderung
auszudrücken. Nur mit großer Schwierigkeit gelang es, ihn davon zu
überzeugen, damit aufzuhören, bevor ihm nicht wieder gut zu machender Schaden
widerfahren würde.
Er traf sich mit Yassir Arafat, als es absolut verboten war, und – im
Gegensatz zu mir- wurde er zweimal ins
Gefängnis gesteckt. Das Gesetz, nach dem er verurteilt wurde, war unter der
Regierung von Shimon Peres erlassen worden – eine Tatsache, die Peres letzte
Woche nicht daran hinderte, eine bewegende Trauerrede zu halten.
Als während des
nigerianischen Bürgerkrieges bekannt
wurde, dass die Menschen in Biafra Hungers stürben, ging Abie
hin und organisierte eine Rettungsaktion. Als eine Hungersnot in Äthiopien
ausbrach, stellte er dort eine Zeltstadt auf und brachte Hilfe. Bei seiner
Rückkehr beklagte er sich bitter über die großen bürokratischen internationalen
Hilfsorganisationen, die so viel Geld
verschwendeten und wegen ihrer arroganten Haltung gegenüber den Einheimischen so wenig Hilfe brachten.
Ein andermal organisierte er
ein Kindertreffen, bat die Kinder, ihre Kriegsspielzeuge abzugeben und gab
ihnen im Gegenzug dafür andere. Die
Panzer und Kriegsflugzeuge wurden an Ort und Stelle zerstört. Sein
theatralischer Zug stand bei all diesen Gelegenheiten im Vordergrund.
Zu einer Zeit, als die
israelische Regierung mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime
zusammenarbeitete, war Abie einer der wenigen Leute
im Lande, die laut gegen diese abscheuliche Politik protestierten.
All diese Aktionen, die
seiner phantasiereichen Gesinnung entsprangen, hatten eines gemeinsam: sie
forderten persönlichen Mut,
Selbstvertrauen, Phantasie und die Gabe der Improvisation und vor allem
Empathie mit dem Leiden anderer und dem unbändigen Wunsch zu helfen.
EINMAL SAGTE jemand zu mir:
„Aber Abie ist doch
verrückt!“
„Besser verrückt nach
Frieden, als verrückt nach Krieg!“ war meine Antwort.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)