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Vergewaltigung in Washington
Uri Avnery,
14.3.09
ALS ICH von
einem kurzen Besuch in London nach Hause zurückkehrte, fand ich das Land im
Griff unkontrollierbarer Emotionen.
Nein
, es ging nicht
um die drohende Gefahr einer rechtsradikalen „Machtergreifung“. Es ist jetzt
fast sicher, dass die nächste Regierung aus einer gemischten Bande von Siedlern, ausgesprochenen Rassisten und
vielleicht sogar kompletten Faschisten bestehen wird. Aber das verursacht keine
Aufregung.
Es gab auch
keine große Aufregung über noch ein Verhör
des immer noch amtierenden Ministerpräsidenten Ehud Olmert wegen seiner verschiedenen
Korruptionsaffären. Das wird kaum mehr erwähnt.
Die große
Aufregung galt einer „Pressekonferenz“,
die vom früheren Präsidenten Israels, Moshe Kazav,
abgehalten wurde, nachdem der Staatsanwalt verkündet hatte, dass er vielleicht
wegen Vergewaltigung angeklagt werde.
Vielleicht
erinnert sich noch jemand daran: Kazav wurde von
mehreren seiner Mitarbeiterinnen systematischer sexueller Belästigungen und in
einem Fall wegen Vergewaltigung beschuldigt. Er musste von seinem Amt
zurücktreten.
Kazav, ein im Iran geborener Immigrant
und Protégé von Menachem Begin, hatte seine Karriere
gewissermaßen einer Quotenregelung zu verdanken. Begin glaubte, um einer
besseren Integration willen sollte
vielversprechenden jungen Immigranten aus orientalischen Ländern
verantwortungsvolle Positionen gegeben werden. Kazav,
ein ziemlich unauffälliger
rechts-orientierter Politiker mit den üblichen Meinungen des rechten Flügels
wurde Tourismus-Minister und dann von
der Knesset zum Präsidenten gewählt, vor allem um den Gegenkandidaten Shimon
Peres zu ärgern. Witzbolde sagten, die
Knesset zögerte, den - damals noch –
ungebrochenen Rekord von Peres verlorenen Wahlen nicht zu verderben.
Seit seiner
Abdankung vor zwei Jahren hat sich die Kazav-Affäre immer weiter hinausgezogen und war fast zu
einer Farce geworden. Über die Polizei kamen Enthüllungen ans Tageslicht,
einige Frauen verrieten reißerische
Details, der Ex-Präsident machte mit dem
Staatsanwalt
ein Abkommen, in dem er kleinere Vergehen eingestand, um diese kurz darauf
wieder zu widerrufen . Der Staatsanwalt zögerte, und jetzt scheint er endlich, seine
Entscheidung über die Anklageerhebung getroffen zu haben.
Kazav hat daraufhin in seinem abgelegenen
Wohnort Kiryat Malakhi ( früher der arabische Ort Qastina,
nun in Reichweite der Qassams) eine Pressekonferenz
einberufen. Es war eine Veranstaltung, wie
es sie vorher noch nie gegeben hat. Der Ex-Präsident hielt fast drei
Stunden lang einen Monolog und beschwerte sich offen über die Polizei, den
Staatsanwalt, die Medien, die Politiker und fast über die ganze Welt. Unglaublicherweise wurde dies live auf allen drei
israelischen TV-Kanälen gesendet, als ob es
ein Bericht zur Lage der
Nation gewesen wäre.
Kazav schwafelte weiter, wiederholte sich
immer wieder. Fragen waren nicht erlaubt, respektierte Journalisten, die auf
Knüller warteten und die zu unterbrechen wagten, wurden rausgeschmissen.
Als ich
also gestern morgen zurückkam, musste ich feststellen,
dass dies die Titelseite aller unsrer Zeitungen beherrschte. Alles andere wurde
auf die hinteren Seiten verbannt.
DESHALB
wurde Charles Freeman kaum erwähnt. Doch wäre diese Angelegenheit tausendmal
wichtiger gewesen als all die sexuellen Aktivitäten unseres Ex-Präsidenten.
Freeman war
von Barak Obamas neu ernanntem Geheimdienstchef
Admiral Dennis Blair berufen worden, den Posten des Vorsitzenden des Nationalen Geheimdienstrates zu erhalten. In
dieser Position würde er die Verantwortung für die Auswertung aller Informationen der sechzehn
amerikanischen Geheimdienst-Agenturen
bekommen, die etwa hunderttausend Leute
beschäftigen und die jährlich $ 50 Milliarden
kosten und den Bericht zusammenstellen, der dem Präsidenten vorgelegt
wird.
In Israel
ist dies der Job des Direktors des Militär-Nachrichtendienstes, und der
verantwortliche Offizier übt großen Einfluss auf die Regierungspolitik aus. Im
Oktober 1973 ignorierte der damalige Chef des
militärischen Nachrichtendienstes alle gegenteiligen Berichte, ja,
informierte die Regierung, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass die Ägypter
angreifen würden. Ein paar Tage später überquerte die ägyptische Armee den
Suez-Kanal.
Während der
Neunzigerjahre führte der für die Auswertung verantwortliche Offizier
Amos Gilad die Regierung bewusst in die Irre und
überzeugte sie, Yassir Arafat betrüge sie und plane tatsächlich
die Zerstörung Israels. Gilad wurde später offen von
seinen Mitarbeitern angeklagt, ihre Expertenberichte zu unterschlagen und der
Regierung seine eigenen Einschätzungen vorzulegen, die nicht auf Unterlagen des
Nachrichtendienstes beruhten. Später als Guru des Ministerpräsidenten Ehud
Barak prägte Gilad
die Phrase: „Wir haben keinen palästinensischen Partner für Frieden.“
In den USA
versorgten die Chefs der Nachrichtendienste bekanntermaßen Präsident Bush mit
den (falschen) Nachrichten, die er benötigte, um die Invasion in den Irak zu
rechtfertigen.
All dies
zeigt, wie ungeheuer wichtig es ist, in dieser verantwortlichen Position, die die Entscheidungen der
Politiker maßgeblich beeinflussen, eine
Person von intellektueller Integrität, großer Erfahrung und breitem Wissen zu
haben. Admiral Blair hätte keinen besseren Mann als Charles Freeman wählen
können, eine Person von lauterem Charakter und unangefochtener Sachkenntnisse,
besonders über China und die arabische Welt.
Und dies
war sein Ruin.
ALS FRÜHERER Botschafter in Saudi Arabien
ist Freeman ein Experte der arabischen
Welt und des israelisch-arabischen Konfliktes. Er hat klare Meinungen über die
amerikanische Politik im Nahen Osten und machte daraus auch keinen Hehl.
In einer
2005 gehaltenen Rede kritisierte er Israels „arrogante und sinnlose Politik“,
die ihren Ursprung in der „Besatzung und Besiedlung von arabischen Land“ hat.
Er beschrieb sie als „inherent gewalttätig“.
In
einer 2007 gehaltenen Rede sagte er,
dass die USA „Israels Feinde zu ihren
eigenen gemacht habe“ und dass die Araber „darauf mit der Gleichsetzung der
Amerikaner mit den Israelis als ihren Feinden reagiert hätten“. Er beschuldigte
die USA, jetzt Israels „Bemühungen zu unterstützen,
seine gefangene und zunehmend gettoisierte arabische Bevölkerung zu unterdrücken und sich immer mehr arabisches Land für seine
Siedler anzueignen“ und fügte hinzu, dass Israel nicht einmal länger auch nur vortäusche, den Frieden mit
den Palästinensern zu suchen.
Eine
weitere Schlussfolgerung ist seine Überzeugung, dass der Terrorismus, gegen den
die USA ankämpfen, größtenteils „mit der brutalen Unterdrückung der
Palästinenser durch die israelische Besatzung zusammenhängt, die über 40 Jahre dauert und keine Anzeichen
eines Endes zeigen.“
Natürlich
wurde die Ernennung solch einer Person
von der Pro-Israel-Lobby in Washington mit großer Sorge betrachtet.
Diese entschied sich zu einem uneingeschränkten Angriff. Keine subtile
Intervention hinter der Bühne, keine
diskreten Protestaktionen, sondern eine umfassende Demonstration ihrer Macht
gleich zu Beginn der Obama-Ära.
Öffentliche
Denunziationen wurden zusammengestellt, Senatoren und Kongressabgeordnete zu
Aktionen gedrängt, Medienleute
mobilisiert. Freemans Integrität wurde in Frage
gezogen, angeblich zwielichtige
Verbindungen zu arabischen und chinesischen finanziellen Interessen von der
widerstandslosen Presse wurden „enthüllt“. Admiral Blair eilte zur Verteidigung
seines Kandidaten – aber vergeblich. Freeman blieb keine andere Wahl, als
abzudanken.
DIE VOLLE
Bedeutung dieser Episode sollte
niemandem entgehen.
Es war das
erste Kräftemessen der Lobby in der neuen Obama-Ära.
Und aus diesem Test kam die Lobby mit fliegenden (blau-weißen) Fahnen heraus. Die Regierung
wurde öffentlich gedemütigt.
Das Weiße
Haus versuchte nicht einmal, seine erbärmliche Niederlage zu verbergen. Es
erklärte, die Ernennung sei nicht mit dem Präsidenten abgesprochen worden, Obama habe sich nicht damit befasst, ja habe davon nicht einmal etwas gewusst. Das
heißt: natürlich wäre er gegen diese
Ernennung eines Offiziellen gewesen, der der Lobby nicht genehm gewesen wäre.
Die Darstellung der Macht der Lobby, wie
sie von den Professoren John Mearsheimer und Stephen Walt beschrieben worden war, ist
vollauf bestätigt worden.
DAS
HAT ein Maß an Bedeutung, die weit über
die unmittelbare Auswirkung dieser
Affäre – so schlimm sie auch ist -
hinausgehen.
Viele Menschen in Israel, die der Aufstellung einer
neuen rechten Regierung mit Besorgnis entgegensehen, nennen als ihre
Hauptangst die Gefahr eines Clash mit der neuen Obama-Regierung.
Solch ein Zusammenstoß könnte für Israels Sicherheit fatale Folgen haben,
fürchten sie. Aber die Rechten machen sich über solche Argumente lustig. Sie
behaupten, kein amerikanischer Präsident
würde es wagen, gegen die Israel-Lobby anzutreten. Die von der Lobby „gefangenen“
Kongressabgeordneten und Senatoren, als auch die „Unterstützer Israels“ in den
Medien und sogar im Weißen Haus selbst würden jede amerikanische Politik
verhindern, die sich gegen - eine wie
rechtsradikal auch immer -
orientierte rechte Regierung in Israel
stellen würde.
Nun hat
also der erste Zusammenprall stattgefunden, und der Präsident der USA hat
zunächst kapituliert. Vielleicht sollte man nicht vorschnell Schlüsse ziehen,
vielleicht muss Obama mehr Zeit gegeben werden, um
seine Orientierung zu finden, aber die
Anzeichen verkünden jedem Israeli, der
an Frieden interessiert ist, Unheil.
Es mag zu
früh sein, diese Episode
„Vergewaltigung von Washington“
zu nennen, aber sie ist sicher viel wichtiger als Kazavs
sexuelle Eskapaden.
ÜBRIGENS ein paar Worte über meinen kurzen Aufenthalt
in London.
Ich flog
dorthin, um eine Gruppe jüdischer Persönlichkeiten, die in akademischen und anderen Kreisen wohl bekannt sind, zu unterstützen. Sie haben
eine Organisation gegründet, die sich „Unabhängige jüdische Stimmen“ nennt.
Vor kurzem
hatte sie ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „ Eine Zeit, die Stimme zu erheben“. In ihm hatten mehrere Gruppenmitglieder mit
Artikeln über Israel, die Menschenrechte und über jüdische Ethik beigetragen.
Die dort zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind denen im israelischen
Friedenslager sehr ähnlich. Aber als sie
das Angebot machten, ihr Buch auf der Jüdischen Buchmesse zu präsentieren, wurden sie in grobem Ton zurückgewiesen. Aus
Protest riefen sie eine eigene
Veranstaltung zusammen. Bei dieser habe ich gesprochen.
ICH BIN
davon überzeugt, dass es sehr wichtig ist, dass solche jüdische Stimmen gehört
werden. In verschiedenen Ländern, einschließlich den
USA, versuchen jetzt jüdische Gruppen
gegen das jüdische Establishment aufzustehen, das bedingungslos die
israelische Rechte unterstützt. In den USA sind mehrere solcher
Gruppen entstanden, einige von ihnen erst vor kurzer Zeit. Eine von ihnen, die
sich „J-Street“ nennt, versucht, mit der gewaltigen und berüchtigten AIPAC zu konkurrieren.
Für die Regierungen und die öffentliche Meinung ist es wichtig,
zu wissen, dass die bedingungslose Unterstützung der israelischen Rechten nicht
die Mehrheit der Juden in den USA, in England und anderen Ländern repräsentiert.
Die jüdische Öffentlichkeit ist weit davon entfernt, monolithisch zu sein. Die
Mehrheit ist liberal und setzt sich für
Frieden und die Menschenrechte ein. Bis jetzt war es eine stille
Mehrheit – aus Angst vor einem unterdrückerischen Establishment. Es ist
tatsächlich an der „Zeit, die Stimme zu
erheben.“
Ich glaube,
dass es im Interesse Israels ist, diese Gruppen zu unterstützen – und dass ihre
Aktivitäten sogar bei weitem wichtiger
sind als Herr Kazavs Abenteuer.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)