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Für wen ist das gut?

 

Uri Avnery, 21.6. 08

 

 

UND PLÖTZLICH ist es ruhig. Keine Qassams. Keine Granaten. Die Panzer rollen nicht. Die Kampfflieger bombardieren nicht.

 

In Sderot atmen die Menschen erleichtert auf. Die Kinder wagen sich nach draußen. Bewohner, die sich in andere Städte flüchteten, kehren zurück. Die Vögel zwitschern wieder.

 

Und die Reaktion? Ein Ausbruch von Jubel? Tanz auf der Straße?  Applaus für den Ministerpräsidenten und den Verteidigungsminister, die endlich zur Vernunft gekommen sind?

 

Nichts von alledem. Der Ausdruck auf dem  nationalen Antlitz ist wie eine Grimasse des Ekels. Was ist los? Wo ist unsere siegreiche Armee?

 

Die Menschen von Sderot sind wirklich ärgerlich. Ok, es gibt keine Qassams – aber man wollte dies erst, wenn die Armee in den Gazastreifen eingedrungen wäre und ihn  ausradiert  hätte.

 

Haaretz veröffentlichte auf seiner ersten Seite  die verlogene Schlagzeile: „Israel zahlt mit Taten – und erhält Versprechungen“.

 

„Er ist zerbrechlich,“ beruhigt uns Ehud Olmert, „er kann jeden Augenblick zu Ende sein.“ Und der andere Ehud, Barak, der die Waffenpause vorantrieb, hat eine Entschuldigung: Wir müssen das so  machen, bevor wir die große Operation im Gazastreifen beginnen - um der  israelischen und internationalen öffentlichen Meinung willen.

 

Und keiner sagt: Gott sei Dank, das Töten hat ein Ende!

 

 

WARUM?  WAS ist die Ursache dieser beinahe einmütigen Reaktion der Enttäuschung? Warum gibt es ein allgemeines Gefühl der Demütigung,  das Gefühl  einer Beinahe-Niederlage?

 

Das nationale Ego wurde verletzt.  Wie großartig wäre es gewesen sein, wenn man  die israelische Armee gesehen hätte, wie sie den Gazastreifen erobert und die Hamas zusammen mit der ganzen Stadt zerstört hätte. Doch anstelle des vernichtenden Sieges, haben wir etwas, das nach einer Schlappe aussieht. Und dies trotz der Beteuerungen jener, die jetzt zu einer Wiederbesetzung des Gazastreifens drängen, dass jeden Augenblick  - mit noch etwas mehr Hungersnot und Absperrung – die Bevölkerung gebrochen und gegen die Hamas aufgebracht hätte.

 

Vom militärischen Gesichtspunkt aus hat ein Jahr Krieg im Gazastreifen zu einem unentschiedenen Ergebnis geführt. IDF-Hamas 1:1 unentschieden. Aber die IDF und die Hamas sind keine zwei gleichwertigen  Fußballteams. Hamas ist eine bewaffnete politisch- religiöse Bewegung, die man im heutigen westlichen Sprachgebrauch als „Terrororganisation“  bezeichnet. Wenn solch eine Organisation  ein unentschiedenes Ergebnis gegen eine der mächtigsten Armeen der Welt erreicht, dann kann sie mit Recht behaupten, gesiegt zu haben.

 

Das Ziel von Olmerts Krieg war, die Hamas im Gazastreifen zu stürzen und die Organisation als solche zu zerstören. Das hat sie nicht erreicht. Im Gegenteil: nach allen Berichten ist die Hamas stärker denn je und ihr Stand im Gazastreifen solide. Selbst in Israel wird dies nicht in Frage gesellt.

 

Seit einem Jahr hat die israelische Regierung über dem Gazastreifen eine totale Blockade verhängt – zu Land, zu Wasser und aus der Luft. Sie hatte die uneingeschränkte Unterstützung Europas, das so mithalf, eine Bevölkerung von 1,5 Millionen – Männern, Frauen, Kindern und alten Leuten auszuhungern. Die USA war bei diesem ruhmreichen Unternehmen ein voller Partner. Hosny Mubarraks Ägypten, abhängig von den USA, machte mit, wenn auch unfreiwillig.

 

Doch all dies genügte nicht, um den armen, übervölkerten Gazastreifen, 40km lang und 6-10km breit, zur Aufgabe zu bringen. Nicht nur, dass die Qassams nicht aufhörten Sderot zu bedrohen, ihre Reichweite wurde sogar größer. Ihre Opfer in Israel waren zwar wenige - ein Kind kann sie zählen - aber ihre Wirkung auf die Moral war immens.

 

Die israelische Armee war gegenüber diesen primitiven Waffen, die fast nichts kosten, hilflos.

Die Armee tötete en gros und gezielt einzeln vom Land und aus der Luft mit Raketen, Granaten und Gewehren. Vergeblich.

 

Die Hamas hat überlebt, aber auch sie hat ihr Ziel nicht erreicht. Sie hat keine Antwort auf die Blockade. Nur der Druck der internationalen öffentlichen Meinung (als auch der israelischen Friedenskräfte) verhindert die Hungersnot. Im Gazastreifen gab es fast nichts mehr. Die Arbeitslosigkeit nahm überhand, Brenn- und Kraftstoff verschwanden, viele Bewohner litten unter Mangelernährung und  standen an der Grenze einer Hungersnot.

 

Das liegt in der Natur eines unentschiedenen Ergebnisses:  keine der beiden Seiten ist in der Lage, eine Entscheidung  herbeizuführen und seinen Willen dem Gegner aufzuzwingen.

 

 

EINE WAFFENRUHE ist  nur möglich, wenn beide Seiten sie benötigen ( Karl von Clausewitz, der preußische Militärphilosoph sagte zwar über den Krieg, dass es im Krieg unmöglich sei, dass eine Situation  gleichzeitig  für beide Seiten günstig sei, denn was günstig für die eine Seite ist,  ist notwendigerweise für die andere Seite ungünstig. Aber in einem wirklichen Krieg kann es Ausnahmen geben.)

 

Tatsächlich benötigte die israelische Armee die Waffenruhe nicht weniger als die Hamas. Das wurde aus den Kommentaren der „militärischen Korrespondenten“ klar, von denen fast alle  kaum  kaschierte Militärsprecher sind. Natürlich würde nicht eines der Kabinettsmitglieder mit einer Waffenruhe einverstanden sein, wenn die Armeespitze dagegen wäre.

 

Gewöhnlich drängen die Armee-Bosse nach einer  weiteren  Aktion, nach einer weiteren Operation, nach noch einem Krieg. Haben wir uns plötzlich in Tauben verwandelt? Nicht wirklich. Aber sie wussten, dass sie zwischen zwei „bösen“ Optionen zu wählen hatten: einer Waffenpause und der „Großen Operation“  - die Rückeroberung des ganzen Gazastreifens.

 

Die Kommandeure mögen die erste Option nicht – und das ist eine Untertreibung. Es bedeutet, einen Misserfolg einzugestehen. Aber die zweite Option mögen sie noch weniger – viel, viel weniger.

 

Die große Operation , nach der sich der große Teil der Öffentlichkeit sehnte und die fast alle Medien mit lautester Stimme forderten, ist sehr problematisch. Hamas hatte eine Menge Zeit, sich darauf vorzubereiten. Keine Armee möchte in einem bebauten Gebiet kämpfen, zwischen einer großen Bevölkerung. Jede Gasse ist eine mögliche Falle, jeder Mann – und sogar jede Frau – eine potentielle Bombe auf Beinen. Selbst wenn es der Armee gelänge, in den Gazastreifen  einzudringen und ihn mit „erträglichen“ Opfern zu besetzen, dann wäre das nur der Anfang von großen Schwierigkeiten. Jeden Tag würden  Soldaten getötet werden. Das gegenseitige Blutvergießen wäre endlos . Siehe den Irakkrieg.

 

Die öffentliche Meinung ist wankelmütig. Jeder getötete Soldat, dessen Foto mit lächelndem Gesicht im Fernsehen gezeigt würde, würde den Druck erhöhen, hinauszugehen.  Früher oder später würde die Armee gezwungen sein, den Streifen zu verlassen – und die Situation würde wieder so sein, wie sie vorher war, nur viel schlimmer.

 

Die Armeechefs wissen das. Olmert und Barak wissen das. Die Lektion des Zweiten Libanonkrieges ist nicht vergessen worden. Deshalb hat keiner Lust auf einen Krieg.

 

 

DIE WAFFENRUHE hat weitreichende politische Auswirkungen. Sie verändert die palästinensische – und vielleicht auch die regionale – Landkarte.

 

Man kann von jetzt bis in alle Ewigkeit protestieren; man kann von allen Dächern schreien: „Wir verhandeln nicht mit der Hamas-Regierung“ und „Wir haben kein Abkommen mit der Hamas“  - jedes Kind hat verstanden, dass wir dies tatsächlich tun und tatsächlich haben.

 

Dies ist ein Abkommen zwischen der Regierung Israels und den Gaza-Behörden. Das bedeutet eine de facto Anerkennung der Hamas-Regierung dort. Auch  im Gazastreifen versteht jedes Kind, dass die israelische Regierung gezwungen war, zuzustimmen, weil es nicht gelungen ist, die Hamas mit Gewalt zu brechen.

 

In den Augen  der Palästinenser ist die Situation klar: Mahmoud Abbas in Ramallah hat  von den Israelis nichts bekommen –  die Hamas jedoch hat …

 

Abbas versucht es mit friedlichen Mitteln. Er ist der Liebling der Amerikaner und der Israelis. Aber bei dem  großen Auftritt in Annapolis hat er nicht nur  keine Konzession erhalten, und kein einziger Gefangener ist befreit worden - und jede Nacht werden zusätzliche Gefangene gemacht -  sondern die Siedlungen sind vergrößert worden, und die israelische Regierung kündet weiter grandiose neue Bauprojekte in Ost-Jerusalem und in der ganzen West-Bank an.  Und die israelische Regierung wäre   mit  einer Waffenpause in der Westbank nicht  einverstanden .

 

Unterdessen hat die Hamas, die von der ganzen Welt belagert  wird und jeden Tag Kämpfer verliert,  einen bedeutsamen militärischen und politischen Erfolg erreicht: Waren werden wieder in den Streifen geliefert, die Wagen werden wieder über die Straßen voller Schlaglöcher stolpern, der Rafah-Übergang, der den Streifen  von der Welt abschneidet, wird geöffnet werden. Beim kommenden Gefangenenaustausch werden Hunderte palästinensischer Gefangener für einen gefangenen Israeli, Gilad Shalit, entlassen werden.

 

Die Schlussfolgerung? Jeder kann sich selbst fragen: wenn ich ein Palästinenser wäre, welche Schlussfolgerung würde ich ziehen?

 

Die Waffenpause  beeinflusst die Machtbalance innerhalb des palästinensischen Volkes. Die Hamas hat bewiesen, dass sie eine ordentliche Regierung aufrecht  erhalten kann. Nun kann sie beweisen, dass sie auch die Kontrolle über radikale Organisationen ausüben kann.

 

Das Klügste, was Mahmoud Abbas jetzt tun könnte, wäre eine Einheitsregierung zu bilden, die sich auf beide gründet – auf Hamas und Fatah.

 

 

WIRD DIE Waffenruhe halten? Die Korrespondenten berichten, dass dies keiner erwartet.

Wenn Olmert sagt,  sie  sei zerbrechlich,  dann weiß er, wovon er spricht.

 

Es gibt kein schriftliches Abkommen. Kein geregelter Mechanismus für  klärende Dispute. Kein Vermittler, der im Notfall entscheidet, welche Seite für eine Verletzung der Waffenruhe verantwortlich ist.

 

Wenn  in Israel jemand die Waffenruhe brechen will, so wird dies sehr einfach sein: der Führer einer Streife  eröffnet das Feuer auf eine Gruppe Palästinenser nahe des Grenzzaunes, weil er sie verdächtigt, eine Sprengladung anzubringen. Der Pilot eines Erkundigungshubschraubers  glaubt, dass er beschossen wurde und  schießt eine Rakete ab. Der Armee-Nachrichtenchef  behauptet,  eine große Menge Waffen  würden in den Streifen geschmuggelt.

 

Es kann auch auf andere Weise geschehen. Die Armee wird ein Dutzend islamischer Jihad-Kämpfer auf der Westbank töten. Als Antwort darauf wird die Organisation eine Salve Qassams nach Sderot abfeuern. Die Armee wird melden, dies  sei eine Verletzung des Abkommens  und  wird mit einem Überfall auf den Gazastreifen reagieren. Dies wird dann sogar formell richtig  sein, da die Waffenruhe nicht für die Westbank gilt.

 

Jedes Abkommen hält nur so lange, wie beide Seiten glauben, dass es ihren Interessen dient. Wenn einer von ihnen anders denkt, wird er es brechen (und immer behaupten, dass die andere Seite es zuerst gebrochen hat) . In diesem Fall wird es wahrscheinlich Israel sein.

 

 

EINE WAFFENPAUSE ist kein Frieden (Salaam) und nicht einmal ein Waffenstillstand (Hudne). Es ist nicht mehr als ein Abkommen zwischen zwei Gegnern, mit dem Schießen für eine Weile aufzuhören.

 

In der Natur der Sache liegt es, dass jede Seite die Feuerpause benützen wird, um die nächste Runde vorzubereiten – tief durchzuatmen, auszuruhen, zu trainieren, zu planen, bessere Waffen zu bekommen.

 

Aber die Feuerpause kann auch zu mehr als diesem werden. Es kann zu palästinensischer Einheit führen, zu israelischer Selbstbesinnung, zu einem praktischen Schritt hin  zu einer friedlichen Lösung. Mindestens rettet jeder Tag der Feuerpause menschliches Leben.

 

Inzwischen hat das hebräische und  haben  internationale Wörterbücher ein neues arabisches Wort aufgenommen: Tahdiyeh – Beruhigung.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)