„Ich kam, ich sah, ich zerstörte“
Uri Avnery, 15.3.08
WAS IN DIESER Woche geschah, ist so über alle Maßen empörend und unverschämt, dass es sogar für eine so unverantwortliche Regierung wie die unsere außergewöhnlich war.
Am Horizont nahm eine de
facto Einstellung der Feindseligkeiten
schon Gestalt an. Die Ägypter bemühten sich sehr, dies in eine
offizielle Waffenruhe umzuwandeln. Die Flammen waren schon sichtbar kleiner
geworden. Der Abschuss von Qassam- und Gradraketen aus dem Gazastreifen nach
Israel war von Dutzenden pro Tag auf
zwei oder drei gesunken.
Und dann geschah etwas, das
die Flammen wieder höher schlagen ließ:
Als Araber verkleidete Soldaten der israelischen Armee töteten vier
palästinensische Militante in Bethlehem. Ein Fünfter wurde in einem Dorf bei
Tulkarem getötet.
DER MODUS OPERANDI lässt keinen Zweifel über die Absicht.
Wie üblich war die offizielle
Version verlogen. (Wenn der Armeesprecher die Wahrheit spricht, schämt er sich
und schickt sofort die nächste Lüge hinterher). Es wurde gesagt, die vier
hätten ihre Waffen gezogen und das Leben der Soldaten gefährdet, die sie
eigentlich nur verhaften wollten. Also waren sie gezwungen, das Feuer zu
eröffnen.
Jeder, der halbwegs bei Verstand
ist, weiß, dass dies eine Lüge ist. Die vier saßen in einem kleinen
Wagen auf der Hauptstraße Bethlehems, die seit britischen (oder türkischen) Zeiten von Jerusalem nach
Hebron führt. Sie waren tatsächlich bewaffnet, aber sie hatten gar keine
Möglichkeit, ihre Waffen zu ziehen. Der Wagen wurde einfach von Dutzenden von
Kugeln durchlöchert.
So findet keine Verhaftung
statt. Das war – schlicht und einfach -
eine Exekution, eine der
Hinrichtungen im Schnellverfahren, mit denen der Shin Bet seine Rolle als
Ankläger, Richter und Vollstrecker gleichzeitig spielt.
Dieses Mal machte man sich
nicht einmal die Mühe, zu behaupten, dass die
vier auf dem Weg gewesen seien, einen mörderischen Angriff auszuführen.
Es wurde zum Beispiel nicht behauptet,
dass sie etwas mit dem Angriff der letzten Woche auf das Mercas-Harav-Seminar,
das Flaggschiff der Siedlerflotte, zu tun
gehabt hätten. Tatsächlich konnte keiner dieser Vorwände geltend gemacht werden, weil der Wichtigste
der vier erst kürzlich in den
israelischen Medien Interviews gegeben
und angekündigt hatte, dass er Gebrauch vom israelischen „Begnadigungs-Programm“ (des Shin-Bet) machen wolle, wonach
„gesuchten“ Militanten unter der Voraussetzung, dass sie ihren Widerstand gegen die Besatzung aufgeben und ihre Waffen abgeben, Pardon
gewährt wird. Er war auch ein Kandidat bei den letzten palästinensischen Wahlen
gewesen.
Wenn dem so ist, warum wurden
sie getötet? Der Shin Bet verheimlichte den Grund nicht: zwei der vier hatten
2001 an Angriffen teilgenommen, bei denen Israelis ums Leben gekommen waren.
„Unser langer Arm wird sie
auch noch nach Jahren finden,“ rühmte sich Ehud Barak im Fernsehen, „wir werden
jeden finden, der jüdisches Blut an seinen Händen hat.“
ZUSAMMENGEFASST: Der
Verteidigungsminister und seine Männer gefährdeten die heutige Waffenpause, um
etwas zu rächen, was sich vor sieben Jahren ereignet hat.
Es war für jeden
offensichtlich, dass das Töten von Militanten des Islamischen Jihad in
Bethlehem die Wiederaufnahme des Qassam-Beschusses auf Sderot verursachen
würde. Und so war es denn auch.
Die Auswirkungen einer
Qassam-Rakete sind überhaupt nicht
voraussehbar. Für die Bewohner von Sderot ist es eine Art israelisches Roulette
– die Rakete kann in einem leeren Feld landen oder auf ein Haus fallen,
manchmal tötet sie Menschen.
Mit andern Worten und nach
Barak selbst, war er heute bereit, jüdisches Leben in Gefahr zu bringen, um an
Leuten Rache zu nehmen, die vor Jahren
vielleicht Blut vergossen und seitdem den bewaffneten Kampf aufgegeben
hatten.
Die Betonung liegt auf dem
Wort „jüdisch“ . In seinem Statement drückte sich Barak klar aus: er sprach
nicht von Personen „mit Blut an ihren Händen“, sondern von denen „mit jüdischem Blut an ihren
Händen“. Jüdisches Blut ist
natürlich ganz anders als das Blut anderer Leute. Und tatsächlich gibt
es in der israelischen Führung keine
andere Person mit so viel Blut an ihren Händen wie er. Nicht abstrakt,
kein metaphorisches Blut, sondern wirkliches Blut. Im Laufe seines Militärdienstes hat Barak
persönlich eine Anzahl von Arabern getötet. Wer immer auch seine Hand schüttelt
– von Condolezza Rice bis zum geehrten Gast dieser Woche, Angela Merkel –
schüttelt eine von Blut besudelte Hand.
DER MORD IN Bethlehem lässt
einige sehr ernste Fragen aufkommen, doch abgesehen von ein paar Ausnahmen,
wurden sie in den Medien nicht gestellt. Diese drückten sich wie
gewöhnlich vor ihrer Aufgabe, wenn es
sich um „Sicherheits“-Belange handelte.
Wirkliche Journalisten in
einem wirklich demokratischen Staat würden folgende Fragen stellen:
(a)
Wer war es, der
die Entscheidung über die Exekutionen in
Bethlehem getroffen hat – Ehud Olmert? Ehud Barak? Der Shin Bet? Oder alle? Oder keiner von ihnen?
(b)
Hatten die
Entscheidungsträger begriffen, dass mit der Verurteilung der Militanten in
Bethlehem zur Todesstrafe, sie
gleichzeitig auch Bewohner von Sderot und Ashkalon zum Tode verurteilen, die von Raketen getötet werden könnten, die aus
Rache abgefeuert werden?
(c)
Hatten sie
begriffen, dass sie damit auch Mahmoud Abbas
eine Ohrfeige verpassten, dessen Sicherheitskräfte theoretisch für
Bethlehem verantwortlich sind, der infolgedessen dann mit Sicherheit angeklagt werden würde, mit
den israelischen Todesschwadronen zusammen zu arbeiten?
(d)
War es das Ziel
der Aktion, die Waffenruhe zu untergraben, die gerade im Gazastreifen vorsichtig begonnen hatte (und deren Bestehen
von Olmert und Barak offiziell geleugnet wurde, obwohl die Anzahl der Raketen
von täglich Dutzenden auf nur zwei oder drei herunter gegangen war ?)
(e)
Ist die
israelische Regierung überhaupt gegen eine Feuerpause, die Sderot und Ashkalon
von der Bedrohung der Raketen befreien könnte?
(f)
Wenn ja, warum?
Die
Medien verlangten nicht, dass Olmert und
Barak der Öffentlichkeit die Erwägungen darlegen, die sie dahin brachten, diese
Entscheidung zu treffen, die jeden in Israel betrifft. Und kein Wunder. Es sind
schließlich dieselben Medien, die vor Freude tanzten, als dieselbe Regierung
einen unbedachten und überflüssigen Krieg im Libanon begann. Es sind auch
dieselben Medien, die diese Woche schwiegen, als die Regierung entschied, der
Pressefreiheit einen Schlag zu versetzen
und das Aljazeera-TV-Netzwerk zu boykottieren als Strafe dafür, dass es die
Babys zeigte, die während des letzten Überfalls der israelischen Armee in den
Gazastreifen ums Leben kamen.
Abgesehen von zwei oder drei mutigen Journalisten mit unabhängiger Gesinnung, marschieren alle unsere Medien, Zeitungen, Radio und Fernsehen im Stechschritt wie ein preußisches Regiment zur Parade, wenn das Wort „Sicherheit“ erwähnt wird.
(Dieses
Phänomen wurde diese Woche auf der
US-Internetseite CounterPunch durch den Journalisten Yonatan Mendel, einen
früheren Angestellten der beliebten israelischen Web-site Walla, aufgezeigt. Er
wies darauf hin, dass alle (
israelischen) Medien vom Nachrichtenprogramm im Kanal 1 bis zu den
Haaretz-Nachrichtenseiten wie auf Befehl, doch freiwillig, genau dieselbe verzerrende
Terminologie verwenden: die israelische
Armee bestätigt und die Palästinenser behaupten,
Juden werden ermordet, während
Palästinenser getötet werden oder den Tod finden; Juden werden entführt,
während Araber verhaftet werden; die
israelische Armee reagiert, während die Palästinenser immer angreifen;
die Juden sind Soldaten, während die Araber Terroristen oder einfach Mörder
sind; die israelische Armee trifft immer hochrangige Terroristen und
niemals Terroristen der unteren Ränge; die Männer und Frauen, die unter
Schock leiden, sind immer Juden, niemals Araber. Und wie ich schon sagte:
Leute mit Blut an den Händen sind immer Araber, absolut niemals Juden.
Dies gilt übrigens zum größten Teil auch für die ausländische Presse, die über
das Geschehen hier berichtet.)
WENN DIE REGIERUNG ihre Absichten nicht offen darlegt, dann haben wir keine andere Wahl, als aus ihren Aktionen Schlüsse zu ziehen. Das ist eine juristische Regel: wenn eine Person etwas mit einem voraussehbaren Ergebnis tut, dann muss man vermuten, dass sie es um dieses Ergebnisses willen tat.
Die
Regierung, die das Töten in Bethlehem entschied, beabsichtigte zweifellos, die
Waffenpause zu torpedieren.
Warum
wollte sie dies?
Es
gibt mehrere mögliche Arten einer Feuerpause.
Die einfachste ist das Ende der Feindseligkeiten an der Grenze des
Gazastreifens. Kein Qassam-und Gradraketenbeschuss auf der einen Seite, kein
gezieltes Töten, Bombardieren, keinen Artilleriebeschuss und keine Einfälle auf
der anderen Seite.
Es
ist bekannt, dass die Armee dagegen ist. Sie will frei sein, um aus der
Luft liquidieren zu können und am Boden
Überfälle zu machen. Sie will nur eine einseitige Feuerpause.
Solch
eine begrenzte Feuerpause ist unmöglich. Damit kann die Hamas solange nicht
einverstanden sein, solange der Gazastreifen von allen Seiten abgeschnitten ist
und das Leben dort zur Hölle gemacht hat: nicht genügend Medikamente, nicht
genügend Lebensmittel, die Schwerkranken können nicht das richtige Krankenhaus
erreichen, Autos können kaum mehr fahren, keine Importe und keine Exporte,
keine Produktion und kein Handel. Die Öffnung aller Grenzübergänge für Waren
ist deshalb wesentlicher Teil einer
Feuerpause.
Unsere
Regierung ist nicht dazu bereit, weil
das die Konsolidierung der Hamasregierung im Gazastreifen bedeuten würde. Aus
Regierungsquellen erfährt man, dass auch Abbas und seine Leute in Ramallah
gegen die Aufhebung der Blockade seien – ein boshaftes Gerücht, weil dies
bedeuten würde, dass Abbas einen Krieg
gegen das eigene Volk führe. Präsident Bush weist ebenfalls eine Feuerpause
zurück, obwohl sein Volk das Gegenteil behauptet. Europa trottet – wie
gewöhnlich – hinter den USA her.
Kann
Hamas mit einer Feuerpause einverstanden sein, die nur für den Gazastreifen
gilt und nicht für die Westbank? Das ist zweifelhaft. Diese Woche hat bewiesen,
dass die islamische Jihad-Organisation im Gazastreifen sich nicht ruhig
verhalten kann, wenn ihre Mitglieder in Bethlehem getötet werden. Die Hamas
kann im Gazastreifen nicht untätig bleiben und sich über die Früchte des
Regierens freuen, wenn die israelische Armee in Nablus oder Jenin
Hamasmilitante tötet. Und natürlich wird kein Palästinenser sich damit einverstanden erklären, dass die
Westbank und der Gazastreifen zwei
getrennte Entitäten seien.
Eine
Feuerpause nur für den Gazastreifen würde Barak erlauben, diese jeden Augenblick mit einer Provokation wie
eben in Bethlehem in Stücke zu schießen. Dies könnte so aussehen: Hamas
wird einer ausschließlichen für den Gazastreifen geltenden Feuerpause
zustimmen, die israelische Armee tötet ein Dutzend Hamasmitglieder in Hebron,
Hamas antwortet mit dem Abschuss von
Gradraketen nach Ashkalon. Olmert sagt der Welt: Seht, wie die Hamasterroristen
die Feuerpause verletzen. Das beweist, dass wir keine Partner haben !
Dies
heißt, dass eine wirkliche und anhaltende Feuerpause, die die notwendige
Atmosphäre für wirkliche Friedensverhandlungen schafft, die Westbank
einschließen muss. Olmert-Barak denken gar nicht daran, dem zuzustimmen. Und
solange George Bush da ist, wird es keinen
wirksamen Druck auf unsere Regierung geben.
A
PROPOS: wer trifft zur Zeit die wirklichen Entscheidungen für Israel?
Die
Ereignisse dieser Woche geben die Antwort: der Mann, der die Entscheidungen
trifft, ist Ehud Barak, die gefährlichste Person in Israel, genau derselbe, der die Camp-David-Konferenz
platzen ließ und die ganze israelische Öffentlichkeit davon überzeugte, dass wir „keinen Partner für den Frieden
haben“.
Heute
vor 2052 Jahren, an den Iden des März, wurde Julius Caesar ermordet. Ehud Barak
sieht sich selbst als moderne lokale
Kopie des römischen Generals. Auch er würde gerne berichten: „Veni, vidi,
vici!“„Ich kam, ich sah, ich siegte!“
Doch
die Realität sieht ziemlich anders aus:
er kam, er sah und er zerstörte.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert)
Ich
bin schockiert über das Schweigen der israelischen Medien
nach
der Regierungsentscheidung, das Aljazeera-TV-Netzwerk dafür zu boykottieren,
dass
es die blutigen Ereignisse des Gazastreifens zeigte.
Als
Journalist und Bürger der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“
ist
es unsere Pflicht, als erste unsere Stimmen gegen die Verletzung
der
Pressefreiheit in unserem Lande zu protestieren.
Der
Boykott wird Aljazeera nicht schaden – er wird dem Staat Israel schaden,
weil
er uns in eine Reihe mit den schlimmsten
Unterdrücker-Regimen in der Region
und
der Welt stellen wird.
Uri
Avnery, in Haaretz am 14. März 2008