Uri Avnery, 14.6.08
DIESE
WOCHE verkündete der kanadische
Premierminister im Parlament eine dramatische Stellungnahme: Er entschuldigte
sich bei der indigenen Bevölkerung seines Landes für die ihnen seit Generationen von aufeinander folgenden
kanadischen Regierungen zugefügten Ungerechtigkeiten.
So
versucht das weiße Kanada mit den eingeborenen Nationen Frieden zu schließen,
deren Land seine Vorväter eroberten und deren Kultur seine Herrscher versucht
hatten, auszulöschen.
SICH FÜR
begangenes Unrecht zu entschuldigen, ist zu einem Teil moderner politischer
Kultur geworden.
Es ist
nicht leicht, so etwas zu tun. Zyniker mögen sagen: Das ist ein
Lippenbekenntnis. Und Worte sind billig zu haben. Tatsächlich sind solche Akte
aber von tiefgreifender Bedeutung. Einem Menschen – und mehr noch einer ganzen
Nation – fällt es immer schwer, begangene Ungerechtigkeiten und Gräueltaten
einzugestehen. Es bedeutet ein Korrigieren des historischen Narrativs, das die
Basis des nationalen Zusammenhalts bildet. Es bedingt eine drastische Änderung
von Schulbüchern und nationaler Einstellung. Im Allgemeinen zeigen sich Regierungen wegen nationalistischer Demagogen
und Hass-Schürer, an denen es in keinem Land fehlt, solchen Dingen
ausgesprochen abgeneigt.
Der
französische Präsident hat sich im Namen seines Volke für die Missetaten des
Vichy-Regimes entschuldigt, das Juden den Nazi-Vernichtern auslieferte. Die
tschechische Regierung hat sich bei den Deutschen für die Massenvertreibung
deutscher Bevölkerung bei Ende des Zweiten Weltkriegs entschuldigt. Deutschland
hat natürlich die Juden für die
unbeschreiblichen Verbrechen des Holocaust um Verzeihung gebeten. Neulich hat
sich die australische Regierung bei den Aborigines entschuldigt. Sogar in
Israel wurde ein schwacher Versucht gemacht, eine schmerzliche Wunde in diesem
Land zu heilen, als Ehud Barak sich bei den orientalischen Juden für die Jahre
lang erlittene Diskriminierung entschuldigte.
Aber wir
stehen vor einem sehr viel schwierigeren und komplexeren Problem. Es betrifft
die Wurzeln unserer nationalen Existenz in diesem Land.
ICH GLAUBE,
ein Friede zwischen uns und dem palästinensischen Volk – ein wirklicher Friede,
basierend auf wirklicher Versöhnung – beginnt mit einer Entschuldigung.
Ich stelle mir
den Staatspräsidenten oder den Premierminister vor, wie er in einer
außerordentlichen Sitzung der Knesset folgende historische Rede hält:
SEHR
VEREHRTE Frau Vorsitzende, sehr
geehrte Mitglieder der Knesset,
Im
Namen des Staates Israel und all seiner Bürger wende ich mich heute an die
Söhne und Töchter des palästinensischen Volke, wo immer sie sich befinden.
Wir
erkennen die Tatsache an, dass wir gegen Sie eine historische Ungerechtigkeit
begangen haben und wir bitten Sie in aller Demut um Vergebung.
Als
die zionistische Bewegung beschloss, in diesem Land, das wir Erez Israel – Land Israel nennen, und Sie
Filastin, eine jüdische nationale
Heimstätte zu errichten, hat sie nicht beabsichtigt, unseren Staat auf den
Ruinen eines anderen Volkes zu errichten. Tatsächlich hatte fast keiner aus der
zionistischen Bewegung vor dem ersten zionistischen Kongress 1897 dieses Land
besucht oder sich konkrete Vorstellungen über die aktuelle Situation dort
gemacht.
Der
brennende Wunsch dieser Gründer-Väter der Bewegung war es, die Juden Europas zu
retten, wo sich schon die Gewitterwolken des Hasses gegen die Juden sammelten.
In Osteuropa tobten Pogrome, und überall in Europa waren Zeichen eines
Prozesses zu erkennen, der schließlich zum schrecklichen Holocaust führte, in
dem sechs Millionen Juden umgebracht wurden.
Zu
diesem grundlegenden Ziel kam die tiefe
Verbundenheit der Juden über alle Generationen mit dem Land, in dem die Bibel,
der identitätsstiftende Text unseres Volkes, geschrieben worden war, und mit
Jerusalem, dem sich die Juden seit Tausenden von Jahren in ihren Gebeten
zuwandten.
Die
zionistischen Gründer kamen in dieses Land als Pioniere, die Herzen voll hehrer Ideale. Sie glaubten an nationale
Befreiung, Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Wir sind stolz auf
sie. Sie dachten sicher nicht im Traum daran, eine Ungerechtigkeit von
historischen Dimensionen zu begehen.
ALL
DAS rechtfertigt nicht, was danach geschah. Das Schaffen der jüdischen
Heimstätte in diesem Land ging einher mit größerem Unrecht Ihnen gegenüber, dem Volk, das hier
seit Generationen lebte.
Wir
können die Tatsache nicht mehr ignorieren, dass im Krieg im Jahre 1948 – der
für uns der Unabhängigkeitskrieg, für Sie aber die Nakba ist – etwa
siebenhundertfünfzig Tausend Palästinenser gezwungen wurden, ihre Häuser und
Ländereien zu verlassen. Zur Klärung der Umstände dieser Tragödie schlage ich
die Einrichtung eines "Komitees für Wahrheit und Versöhnung" vor, das
sich aus Experten von Ihrer und von unsere Seite zusammensetzt, und dessen
Schlussfolgerungen in die Schulbücher eingebracht werden sollen, in Ihre und in
unsere.
Wir
können die Tatsache, dass Ihnen in 60 Jahren Konflikt und Krieg die
Realisierung Ihres natürlichen Rechts zur Unabhängigkeit in Ihrem eigenen
freien Nationalstaat vorenthalten wurde, nicht mehr ignorieren, ein Recht, das
die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 29.November 1947 bestätigte, das
auch die legale Basis für die Einrichtung des Staates Israel bildet.
Für
all das schulden wir Ihnen die Bitte um Verzeihung, die ich hiermit aus ganzem
Herzen an Sie richte.
Die
Bibel sagt uns: "Wer seine Sünde leugnet, dem wird's nicht gelingen; wer
sie aber bekennt und lässt, der wird Barmherzigkeit erlangen." (Sprüche
Salomos, 28:13) Natürlich genügt ein Bekennen nicht. Wir müssen auch das in der
Vergangenheit begangene Unrecht aufgeben.
Es
ist nicht möglich, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die Situation
dieses Landes im Jahr 1947 wieder herzustellen, genau so wie Kanada oder die
Vereinigten Staaten nicht 200 Jahre ungeschehen machen können. Wir müssen
unsere gemeinsame Zukunft im gemeinsamen Streben, voranzuschreiten, gestalten,
heilen, was geheilt werden kann, reparieren, was repariert werden kann, ohne
neue Wunden zu schlagen, neue Ungerechtigkeit zu begehen oder mehr menschliche
Tragödien zu verursachen.
Ich
bitte Sie eindringlich, unsere Bitte um Vergebung in dem Sinne anzunehmen,
wie sie gemeint ist. Lassen Sie uns
zusammen arbeiten für eine gerechte, lebensfähige und praktisch durchführbare
Lösung unseres ein Jahrhundert alten
Konflikts – eine Lösung, die vielleicht nicht alle gerechtfertigten Wünsche
erfüllen und nicht alle Ungerechtigkeiten begleichen kann, die aber unseren
beiden Völkern erlaubt, ihr Leben in Freiheit, Frieden und Wohlstand zu leben.
Diese
Lösung ist für alle klar zu sehen. Wir alle kennen sie. Sie entstand aus
unseren schmerzlichen Erfahrungen, wurde aus den Lektionen unserer Leiden
geschmiedet, hat sich durch die Mühen unserer
besten Geister herauskristallisiert
– Ihrer wie unserer.
Diese
Lösung heißt einfach: Sie haben dieselben Rechte wie wir. Wir haben dieselben
Rechte wie Sie: In einem eigenen Staat zu leben, mit eigener Flagge, unter
selbst bestimmten Gesetzen, mit einer frei gewählten Regierung – hoffentlich
einer guten.
Eine
der grundlegendsten Gebote unserer Religion – und der Ihren und jeder anderen –
wurde vor 2000 Jahren von Rabbi Hillel formuliert: „Füge Deinem Nächsten nicht
zu, was Dir verhasst ist.“ ( Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“
Das
heißt in der Praxis: Ihr Recht, unverzüglich den freien souveränen Staat
Palästina auf allen von Israel 1967 besetzten Gebieten zu gründen, der von den
Vereinten Nationen als volles Mitglied anerkannt werden wird.
Die Grenzen
vom 4. .Juni 1947 werden wieder hergestellt. Ich hoffe, wir können uns in
freien Verhandlungen auf minimale Territorial-Tausche zum Wohle beider Seiten
einigen.
Jerusalem,
das uns allen am Herzen liegt, muss zur Hauptstadt unserer beider Staaten
werden – West-Jerusalem mit der Klagemauer als Hauptstadt Israels,
Ost-Jerusalem mit dem Haram Al Sharif
[Tempelberg] als Hauptstadt Palästinas. Das arabische Jerusalem soll das
Ihrige sein, das jüdische Jerusalem das unsrige. Lassen Sie uns zusammen
arbeiten, um diese Stadt, eine lebendige Wirklichkeit, offen und vereint zu
erhalten.
Wir
werden die israelischen Siedlungen evakuieren, die Ihnen so viel Leid und
Unruhe bereitet haben, und die Siedler nach Hause holen, ausgenommen die kleinen Areale, die Israel im
Rahmen der freiwillig getroffenen Vereinbarungen von Territorialtausch
zugesprochen werden. Wir werden ebenso alle Konstruktionen der Besatzung
abbauen, die materiellen wie die institutionellen.
Wir
müssen mit offenem Herzen und gesundem Menschenverstand eine gerechte Lösung
für die schreckliche Tragödie der Flüchtlinge und ihrer Nachkommen suchen und
finden. Jede Familie muss frei zwischen
den verschiedenen Möglichkeiten wählen können: Rückkehr und Wiedereingliederung
in den Staat Palästina mit großzügiger Unterstützung, am jetzigen Wohnort
bleiben oder Emigration in ein Land ihrer Wahl, ebenso mit großzügiger
Unterstützung, oder, ja, für eine von uns akzeptierte Anzahl von Menschen,
Rückkehr in israelisches Territorium. Es
ist wichtig, dass die Flüchtlinge an all unseren Bemühungen als volle Partner
teilhaben.
Ich
bin sicher, dass unsere beiden Staaten – Israel und Palästina, Seite an Seite
in diesem geliebten aber kleinen Land, sich in absehbarer Zeit auf menschlicher, sozialer, ökonomischer,
technologischer und kultureller Ebene näher kommen werden, und damit eine
Beziehung knüpfen, die nicht nur unser aller Sicherheit, sondern auch
Entwicklung und Wohlstand für uns alle ermöglicht.
Wir
werden gemeinsam für Frieden und Wohlergehen in dieser Region arbeiten,
basierend auf engen Beziehungen mit allen Ländern dieser Region.
Dem
Frieden verpflichtet und im Gelöbnis, unseren Kindern und Enkeln eine bessere
Zukunft zu schaffen, wollen wir uns erheben und uns verneigen im Andenken an
die zahllosen Opfer unseres Konflikts. Juden und Araber, Israelis und
Palästinenser – ein Konflikt, der schon zu lange währt.
SOLCH
EINE REDE ist meiner Meinung nach unbedingt notwendig, um in der
Geschichte dieses Landes ein neues Kapitel zu öffnen.
Jahrzehnte
lange Treffen mit Palästinensern aus allen Lebensbereichen haben mich gelehrt,
dass die emotionellen Aspekte des Konflikts nicht weniger wichtig – vielleicht
sogar wichtiger – sind, als die
politischen. Ein tiefes Gefühl von Ungerechtigkeit brennt in jedem
Palästinenser. Unbewusste oder halb-bewusste Schuldgefühle rumoren im Inneren
jedes Israelis, und tragen so zur Überzeugung bei, die Araber würden niemals
mit uns Frieden schließen.
Ich weiß
nicht, wann so eine Rede möglich sein
wird. Viele unvorhersehbare Faktoren spielen dabei eine Rolle. Aber ich weiß,
dass ohne sie, von feilschenden Diplomaten ausgehandelte formelle
Friedensverträge nicht die erhofften Früchte tragen. Wie die
Oslo-Vereinbarungen gezeigt haben, genügt es nicht, eine künstliche Insel
inmitten einer stürmischen See von Emotionen zu schaffen.
DIE
ÖFFENTLICHE Entschuldigung des
kanadischen Premierministers ist nicht das einzige, was wir von diesem Land in
Nordamerika lernen können.
Vor
43 Jahren entschloss sich die kanadische
Regierung zu einem außergewöhnlichen
Schritt, um zwischen der englisch sprechenden Mehrheit und der
französisch sprechenden Minderheit der Bevölkerung Frieden zu schließen. Ihre
Beziehungen waren seit der Zeit, als die Briten das französische Kanada vor 250
Jahren erobert hatten, wie eine offene
Wunde geblieben. Man beschloss, die kanadische Nationalflagge, die sich an den
britischen "Union Jack" anlehnte, durch eine vollkommen neue mit
einem Ahornblatt zu ersetzen.
Bei
dieser Gelegenheit sagte der Senatspräsident: "Die Flagge ist das Symbol
der Einheit der Nation, denn es repräsentiert zweifellos alle Bürger Kanadas
ohne Unterschied von Rasse, Sprache, Glaube oder Einstellung."
Auch
davon können wir lernen.
(Aus dem
Hebräischen: Gudrun Weichenhan, vom Verfasser autorisiert)