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Wie viele Divisionen?
Uri Avnery, 10.1.09
VOR FAST 70
Jahren wurde während des zweiten Weltkriegs in Leningrad ein abscheuliches
Verbrechen begangen. Länger als tausend Tage hielten eine Gang von Extremisten,
die „Rote Armee“ genannt wurde,
Millionen von Einwohnern der
Stadt als Geiseln und provozierte die
deutsche Wehrmacht aus den Bevölkerungszentren heraus. Die Deutschen hatten
keine andere Möglichkeit als die
Bevölkerung zu bombardieren und sie einer totalen Blockade auszusetzen, die den
Tod von Hunderttausenden verursachte.
Nicht lange zuvor wurde in England ein ähnliches
Verbrechen begangen. Die Churchillbande versteckte
sich inmitten in die Londoner Bevölkerung
und missbrauchte Millionen von Bürgern als menschliche Schutzschilde.
Die Deutschen waren so gezwungen, ihre Luftwaffe zu schicken und die Stadt
widerwillig in Schutt und Asche zu
legen.
Dies ist die Beschreibung, die jetzt in den Geschichtsbüchern
stünde – wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten.
Absurd?
Nicht absurder als die täglichen Nachrichten unserer Medien, die so oft
wiederholt werden, dass einem speiübel wird: die Hamas-Terroristen halten die
Bewohner des Gazastreifen als „Geiseln“ und
benützen die Frauen und Kinder als „menschliche Schutzschilde“, sie
lassen uns keine Alternative, als massive Bombardements durchzuführen, in denen
zu unserm großen Bedauern Tausende von
Frauen, Kinder und unbewaffneten Männer verletzt oder gar getötet werden.
IN DIESEM KRIEG – wie in allen modernen Kriegen
- spielt die Propaganda eine große
Rolle. Das reale Kräfteverhältnis zwischen der israelischen Armee mit ihren
Kampfflugzeugen, Dronen
(unbemannte Flugmaschinen), Kriegsschiffen,
Panzern, ihrer Artillerie einerseits und den paar Tausend leicht
bewaffneten Hamaskämpfer ist 1.000:1, wenn nicht
sogar 1.000.000:1. Auf der politischen Ebene ist der Unterschied vielleicht
sogar noch größer. Aber im Propagandakrieg ist der Unterschied grenzenlos.
Fast alle westlichen Medien wiederholten anfangs
die offizielle israelische Propagandalinie. Sie ignorierten fast völlig die
palästinensische Seite der Geschichte, ebenso wie die täglichen
Demonstrationen des israelischen
Friedenslagers. Die Gründe der israelischen Regierung („Der Staat muss seine
Bürger gegen die Qassam-Raketen schützen“) wurde wie
die reine Wahrheit akzeptiert. Der
Blickwinkel von der anderen Seite, dass die Qassams
nämlich nur eine Antwort auf die Belagerung seien, die anderthalb Millionen
Menschen im Gazastreifen an die Grenze
des Verhungerns bringt, wurde überhaupt nicht erwähnt.
Erst als die schrecklichen Szenen aus dem
Gazastreifen auf den westlichen
Bildschirmen zu erscheinen begannen, fing die öffentliche Meinung der Welt
langsam an sich zu verändern.
Die westlichen und israelischen Fernsehkanäle
zeigten zwar nur einen winzigen Teil des entsetzlichen Geschehens, das jeden
Tag 24 Stunden lang auf dem arabischen Aljazeera-Kanal
zu sehen ist, aber ein Bild eines toten Babys in den Armen seines in Angst und
Schrecken versetzten Vaters ist mächtiger als ein Tausend elegant formulierter
Sätze des israelischen Armeesprechers. Und das ist letztendlich entscheidend.
Der Krieg – jeder Krieg – ist ein Lügenreich. Ob
dies nun Propaganda oder psychologische Kriegsführung genannt wird, jeder
akzeptiert, dass es richtig ist, für sein Land zu lügen. Jeder, der die
Wahrheit sagt, riskiert, als Verräter gebrandmarkt zu werden.
Das Problem ist, dass Propaganda zuerst und vor
allem den Propagandisten selbst überzeugt. Und nachdem man sich selbst davon
überzeugt hat, dass die Lüge die Wahrheit
und die Verfälschung die Realität ist,
kann man keine vernünftigen Entscheidungen mehr treffen.
Ein Beispiel für diesen Prozess lieferte die bis jetzt erschreckendste Gräueltat dieses
Krieges: das Beschießen der UN-Fakhura-Schule im Jabaliya-Flüchtlingslager.
Kurz nachdem dieser Vorfall weltweit bekannt wurde,
„enthüllte“ die Armee, dass Hamaskämpfer von einem Vorplatz der Schule aus Mörsergranaten abgeschossen hätten. Als Beweis
veröffentlichte man eine Luftaufnahme,
auf der tatsächlich die Schule und der Mörser zu sehen waren. Aber innerhalb kurzer Zeit musste der
offizielle Armeelügner zugeben, dass das Photo älter als ein Jahr sei. Also eine
Fälschung.
Später behauptete der offizielle Lügner, dass
„unsere Soldaten aus dem Inneren der Schule“ beschossen worden seien. Aber kaum
einen Tag danach musste die Armee dem
UN-Personal gegenüber zugeben, dass auch
dies eine Lüge gewesen war. Keiner hatte aus der Schule geschossen, keine Hamaskämpfer waren in der Schule, die voll verängstigter
Flüchtlinge war.
Aber das Eingeständnis wurde kaum mehr
wahrgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war die israelische Öffentlichkeit vollkommen
davon überzeugt, dass „aus der Schule geschossen worden war“ und
Fernsehsprecher zitierten dies als einfache Tatsache.
Genau so ging es mit den anderen Gräueltaten.
Jedes Baby wurde im Augenblick seines Todes zu einem
Hamas-Terrorist. Jede zerbombte Moschee
wurde sofort zu einer Hamasbasis; jedes Wohngebäude ein Waffenversteck; jede Schule ein Terrorkommandoposten; jedes
zivile Regierungsgebäude ein „Herrschaftssymbol der Hamas“. Auf diese Weise
blieb die israelische Armee die „moralischste Armee der Welt“.
DIE WAHRHEIT ist, dass die Gräueltaten eine direkte
Folge des Kriegsplanes waren. Dies wirft ein Licht auf die Persönlichkeit Ehud
Baraks – eines Mannes, dessen Denk- und Handlungsweisen ein klarer Beweis für
das ist, was „moralischer Irrsinn“ genannt
wird.
Das wirkliche Ziel ( abgesehen
davon, mehr Sitze bei den kommenden
Wahlen zu gewinnen) ist die Beendigung der Hamasherrschaft
im Gazastreifen. In der Vorstellung der Kriegsplaner, sieht die Hamas wie ein
Eindringling aus, der fremdes Land kontrolliert.
Die Wirklichkeit sieht natürlich ganz anders aus.
Die Hamasbewegung hat bei
den ausgesprochen demokratischen Wahlen, die 2006 in der Westbank, in
Ostjerusalem und im Gazastreifen stattgefunden
haben, die Mehrheit der Stimmen gewonnen. Sie gewann, weil die
Palästinenser zur Schlussfolgerung gekommen waren, dass die Fatah durch ihre
friedliche, also gewaltfreie Herangehensweise nichts von Israel erreicht hat –
weder den Stopp des Siedlungsbaus noch irgendeinen bedeutsamen Schritt in
Richtung eines Endes der Besatzung oder der Schaffung des palästinensischen
Staates. Die Hamas ist tief in der Bevölkerung verwurzelt – nicht nur als
Widerstandsbewegung, die den fremden Besatzer bekämpft so wie einst die
(jüdische) Irgun und die Sterngruppe – sondern auch
als eine politische und religiöse Körperschaft, die im sozialen, schulischen
und medizinischen Bereich aktiv ist.
Vom Standpunkt
der Bevölkerung sind die Hamaskämpfer keine
Fremdkörper, sondern die Söhne einer jeden Familie im Gazastreifen wie auch in
den anderen palästinensischen Gebieten. Sie verstecken sich nicht „inmitten der
Bevölkerung“, die Bevölkerung sieht sie als ihre einzigen Verteidiger an.
Deshalb gründet sich die ganze Operation auf irrigen Vermutungen. Das Leben der
Bevölkerung in eine Hölle zu verwandeln, wird die Bevölkerung nicht dahin
bringen, sich gegen die Hamas zu erheben, sondern das Gegenteil erreichen, sie
vereinigt sich hinter der Hamas und verstärkt ihre Entscheidung, sich nicht zu
ergeben. Die Bewohner von Leningrad haben sich nicht gegen Stalin erhoben, so
wenig wie die von London gegen Churchill.
Derjenige, der den Befehl für solch einen Krieg mit
solchen Methoden in einem dicht bevölkerten Gebiet gegeben hat, weiß, dass
dieser ein entsetzliches Gemetzel unter der Zivilbevölkerung anrichten wird.
Anscheinend hat ihm dies nichts ausgemacht. Oder er glaubt, „dies wird ihr
Verhalten verändern“ und „ es wird ihr Bewusstsein verändern“, so dass sie zukünftig Israel
nicht mehr zu widerstehen wagen würden.
Die Hauptsache für die Kriegsplaner war, die
Todesrate unter den eigenen Soldaten so gering wie möglich zu halten, da sie
wussten, dass die Stimmung eines großen Teils der Pro-Krieg-Öffentlichkeit sich
ändern würde, sobald Berichte über eigene Todesopfern kommen würden. So war es
beim ersten und zweiten Libanonkrieg.
Diese Einstellung spielte eine besonders wichtige
Rolle, weil der ganze Krieg ein Teil der Wahlkampagne ist. Ehud Barak, der in
den ersten Tagen des Krieges in den Umfragen gewonnen hatte, wusste, dass seine
Werte fallen würden, sobald Bilder mit toten Soldaten die Fernsehschirme füllen
würden.
Deshalb wurde eine neue Doktrin formuliert: um
Verluste unter unseren Soldaten zu vermeiden, solle alles, was in ihrem Weg
steht, total zerstört werden. Die Planer
waren also nicht nur bereit, 80 Palästinenser zu töten, um einen israelischen
Soldaten zu retten, wie es schon geschehen ist, sondern auch 800. Die
Vermeidung von Todesfällen auf unserer Seite ist der vordringlichste Befehl, der Rekordzahlen von zivilen Toten auf der
andern Seite verursachte.
Dies bedeutete die bewusste Entscheidung für eine
besonders grausame Kriegsführung – und das war ihre Achillesferse.
Eine Person ohne Phantasie wie Barak (sein
Wahlslogan heißt: „Nicht ein netter Kerl, sondern ein Führer“) kann sich nicht
vorstellen, wie anständige Leute rund um den Globus auf solche Aktionen wie die
Tötung ganzer Großfamilien, die
Zerstörung der Häuser über den Köpfen
ihrer Bewohner, auf die Reihen von Jungen und Mädchen in Leichensäcken,
auf die Berichte über Leute, die tagelang zu Tode bluten, weil die
Krankenwagen nicht zu ihnen
durchgelassen werden, auf das Töten von Ärzten und Sanitätern, die auf dem Weg
sind, Leben zu retten, auf Berichte über das Erschießen von UN-Fahrern, die
Lebensmittel bringen, reagieren. Die Fotos aus den Krankenhäusern mit den
Toten, Sterbenden und Verletzten, die aus Platzmangel alle zusammen
auf dem Fußboden liegen, haben die Welt erschüttert. Kein Argument hat die
Kraft eines Bildes von einem verwundeten kleinen Mädchen, das dort auf dem
Boden liegt, sich vor Schmerzen krümmt und „Mama! Mama“! schreit.
Die Kriegsplaner dachten, sie könnten die Welt
daran hindern, solche Bilder zu sehen, wenn sie
die Presse gewaltsam davon
abhalten, zum Schauplatz der Kämpfe zu gelangen. Die israelischen Journalisten
waren zu ihrer Schande damit
einverstanden, die Berichte und Photos zu bringen, die sie vom Armeesprecher
erhalten, als ob dies authentische Nachrichten seien, während sie selbst
meilenweit von den Ereignissen entfernt blieben. Ausländische Journalisten
wurden gar nicht erst zugelassen, bis sie protestierten und dann zu kurzen ausgewählten und überwachten Trips
mitgenommen wurden. Aber in einem modernen Krieg kann eine
solch sterile und fabrizierte Sicht
alle anderen Perspektiven nicht vollständig ausschließen. Die Kameras
sind im Gazastreifen mitten in der Hölle und können nicht kontrolliert werden.
Der arabische Sender Aljazeera bringt die Bilder rund um die Uhr und
erreicht jedes Haus.
DIE SCHLACHT um den Fernsehschirm ist eine der
entscheidenden Schlachten des Krieges.
Hunderte Millionen Araber von Mauretanien bis zum
Irak, mehr als eine Milliarde Muslime von Nigeria bis Indonesien sehen diese
Bilder und sind geschockt. Dies hat eine große Auswirkung auf den Krieg. Viele
der Fernsehzuschauer sehen die Herrscher Ägyptens, Jordanien und der
Palästinensischen Behörde als Kollaborateure Israels, das diese Gräueltaten
gegen ihre palästinensischen Brüder ausführt.
Die Sicherheitsdienste der arabischen Regime
registrieren eine gefährliche Unruhe in der Bevölkerung. Hosni Mubarak, der
aufgrund der von ihm zu verantwortenden Schließung des Rafah-Grenzüberganges
angesichts panischer Flüchtlinge verantwortlich ist, der exponierteste alle
arabischen Führer, begann Druck auf die
Entscheidungsträger in Washington auszuüben, die bis jetzt alle Aufrufe für
eine Feuerpause blockiert hatten. Diese verstanden langsam die Gefahr für die amerikanischen Interessen in der
arabischen Welt und veränderten auf einmal ihre Haltung, was unter den
selbstzufriedenen israelischen Diplomaten Bestürzung hervorrief.
Leute mit
„moralischem Irrsinn“ können die Motive normaler Menschen nicht
verstehen und müssen ihre Reaktionen erraten. „Wie viele Divisionen hat der
Papst?“, spottete Stalin. „Wie viele Divisionen
haben die Menschen mit Gewissen?“ könnte
Ehud Barak nun fragen.
Wie sich herausstellt, haben sie einige. Nicht sehr
viele. Und sie reagieren auch nicht sehr
schnell. Sie sind auch nicht stark und gut organisiert. Aber in einem
bestimmten Moment, wenn die Gräueltaten überhand nehmen und die Massen der
protestierenden Demonstranten zusammenkommen, kann dies einen Krieg
entscheiden.
DAS VERSAGEN, das Wesen der Hamas zu begreifen, hat
auch ein weiteres Versagen verursacht, nämlich die voraussagbaren Folgen zu
verstehen: nicht nur dass Israel den Krieg nicht gewinnen kann - die Hamas kann
ihn auch gar nicht verlieren.
Selbst wenn
es der israelischen Armee gelingen sollte, jeden Hamaskämpfer
bis zum letzten Mann zu töten, selbst
dann würde die Hamas siegen. Die Hamaskämpfer
würden für die arabische Nation als Vorbilder dastehen, als die Helden des
palästinensischen Volkes, als Vorbilder,
denen jeder junge Mann in der arabischen
Welt nacheifern sollte. Die Westbank
würde wie eine reife Frucht in die Hände der Hamas fallen. Die Fatah
würde in einem Meer der Verachtung untergehen, die arabischen Regime wären in
Gefahr zusammenzubrechen.
Falls der Krieg mit
einer noch aufrecht stehenden,
wenn auch blutenden aber unbezwungenen Hamas endet –
angesichts einer so mächtigen Militärmaschine wie der israelischen - dann würde
dies wie ein phantastischer Sieg aussehen, wie ein Sieg des Geistes über das
Material.
Was sich in das Bewusstsein der Welt einprägen
wird, wird das Image von Israel als blutrünstigem Monster sein, das bereit ist,
jeden Augenblick Kriegsverbrechen zu begehen, und nicht bereit ist, sich an
moralische Einschränkungen zu halten.
Dies wird langfristig gesehen schwerwiegende Konsequenzen für unsere
Zukunft, für unsere Position in der Welt
haben und für unsere Chancen, Frieden
und Ruhe zu erlangen.
Am Ende ist dieser Krieg auch ein Verbrechen gegen
uns selbst, ein Verbrechen gegen den Staat Israel.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph
Glanz, vom Verfasser autorisiert)