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„Geschmolzenes Blei“
Uri Avnery, 3.1.09
KURZ NACH
MITTERNACHT berichtete der arabisch sprechende Aljazeera-Sender über das, was
gerade im Gazastreifen geschieht. Plötzlich wurde die Kamera
zum dunklen Himmel gedreht. Er war pechschwarz. Man konnte
nichts sehen, doch ein Geräusch
hören: das Geräusch von Flugzeugen, ein erschreckendes, entsetzliches Dröhnen.
Es war
unmöglich, nicht an die Zehntausende
Kinder im Gazastreifen zu denken, die dieses Geräusch in diesem
Augenblick auch hören und die vor Angst schaudern, vor Furcht gelähmt sind und
auf das Fallen der Bomben warten.
„ISRAEL MUSS
sich gegen die Raketen verteidigen, die
unsere südlichen Städte terrorisieren,“
erklärten israelische Sprecher.
„Die Palästinenser müssen auf das Töten
unserer Kämpfer innerhalb des Gazastreifens reagieren,“ gaben
Hamassprecher bekannt.
Was den
Zusammenbruch der Feuerpause betrifft, so gab es nie eine wirkliche Feuerpause.
Das Wichtigste
an der Feuerpause im Gazastreifen hätte
die Öffnung der Grenzübergänge sein müssen. Ohne den ständigen Versorgungsfluss
kann es im Gazastreifen kein Leben geben. Aber die Grenzübergänge waren -
abgesehen von wenigen Stunden hin und
wieder – nicht geöffnet. Die Blockade des Landes, vom Meer her und des Luftraumes gegenüber
einer anderthalb Millionenbevölkerung ist ein Kriegsakt, genau so wie wenn
Bomben fallen und Raketen abgefeuert werden. Sie lähmt das Leben im
Gazastreifen: sie zerstört die Verdienstmöglichkeiten und bringt
Hunderttausende an den Rand des Hungers; Krankenhäuser hören auf zu funktionieren;
Strom und Wasserzufuhr sind unterbrochen.
Diejenigen,
die die Schließung - egal unter welchem
Vorwand – entschieden haben, wussten, dass es unter diesen Umständen keine wirkliche Feuerpause geben kann.
Das ist die
Hauptsache. Dann kamen die kleinen Provokationen, die dafür bestimmt waren, die
Hamas solle darauf reagieren. Nach mehreren Monaten,
während derer kaum Qassamraketen abgefeuert worden waren, wurde eine
(israelische) Armeeeinheit in den Gazastreifen gesandt, um „einen Tunnel zu
zerstören, der nah an den Grenzzaun“ herankam. Vom rein militärischen
Standpunkt aus gesehen,, wäre es viel sinnvoller gewesen, auf der israelischen Seite des Zaunes einen
Hinterhalt zu legen. Aber das Ziel war, einen Vorwand für die Beendigung der
Feuerpause zu finden, und zwar in einer Weise, die es ermöglichte, den
Palästinensern die Schuld dafür zu geben. Und tatsächlich, nach mehreren
solcher kleinen Aktionen, bei denen Hamaskämpfer getötet wurden, rächte sich
die Hamas mit einem massiven Granatenbeschuss und - siehe da – die Feuerpause war beendet. Alle
gaben der Hamas die Schuld.
UND WAS WAR
das Ziel? Zipi Livni verkündete es
offen: die Hamasherrschaft im Gazastreifen
zu vernichten. Die Qassams dienten nur als Vorwand.
Die
Hamasherrschaft liquidieren? Dies klingt fast wie ein Kapitel aus dem berühmten
Buch von Barbara Tuchman „Der Marsch der
Dummen“. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass es die israelische Regierung
war, die die Hamas anfangs mit aufbaute. Als ich einmal einen früheren
Shin-Bet-Chef, Yacob Peri, darüber
fragte, gab er eine seltsame Antwort: „Wir haben sie nicht geschaffen, aber wir
behinderten auch ihre Entstehung nicht.“
Jahrelang wurde die islamische Bewegung in den
besetzten Gebieten von den israelischen
Behörden begünstigt. Alle anderen politischen Aktivitäten wurden rigoros
unterdrückt, aber die Tätigkeiten in den Moscheen wurden erlaubt. Man
kalkulierte einfach und naiv: zu jener Zeit wurde die PLO als der Hauptfeind angesehen und Yassir Arafat als der gegenwärtige Satan. Die Islamische
Bewegung predigte gegen die PLO und
gegen Arafat und deshalb wurde die islamische Bewegung als Verbündeter
betrachtet.
Mit dem
Ausbruch der 1.Intifada 1987 nahm die islamische Bewegung offiziell den Namen
Hamas an (die arabischen
Anfangsbuchstaben der „islamischen Widerstandbewegung“) und schloss sich dem
Kampf an. Selbst dann unternahm der Shin Bet fast ein Jahr lang nichts gegen sie, während Fatahmitglieder massenhaft
exekutiert oder verhaftet wurden. Erst nach einem Jahr wurden auch Sheik Ahmed Yassin und seine Kollegen verhaftet.
Seitdem hat
sich das Rad gedreht. Nun ist die Hamas der gegenwärtige Satan, und die PLO
wird von vielen in Israel fast wie ein Ableger der zionistischen Organisation
angesehen. Die logische Schlussfolgerung
einer israelischen Regierung, die an Frieden interessiert ist, hätte weitreichende Konzessionen an die
Fatah-Führung sein müssen: Ende der Besatzung, Unterzeichnung eines
Friedensvertrages, die Gründung eines palästinensischen Staates, Rückzug zu den
Grenzen von 1967, eine vernünftige Lösung des Flüchtlingsproblems, Entlassung
der Gefangenen. Das hätte der Hamas sicher Einhalt geboten.
Aber
Logik und Politik haben wenig mit
einander zu tun; denn nichts davon geschah. Im Gegenteil. Nach dem Mord an
Arafat erklärte Ariel Sharon Mahmoud Abbas, der Arafats Platz einnahm, zum
„gerupften Huhn“. Abbas wurde nicht die geringste politische Errungenschaft
zugestanden. Die Verhandlungen wurden –
unter amerikanischer Schirmherrschaft – zum Witz. Der authentischste
Fatahführer Marwan Barghouti wurde auf
Lebenszeit ins Gefängnis geschickt. Und anstelle einer großzügigen
Gefangenenentlassung gab es belanglose und beleidigende „Gesten“.
Abbas wurde
systematisch gedemütigt. Fatah sah einer leeren Hülse gleich, und Hamas gewann
einen überwältigenden Sieg bei den palästinensischen Wahlen – den
demokratischsten Wahlen, die je in der arabischen Welt abgehalten worden waren.
Israel boykottierte die gewählte
Regierung. Beim folgenden internen Kampf gewann die Hamas die Macht im
Gazastreifen.
Nach alledem
entschied sich jetzt die Regierung Israels, die
„Hamasherrschaft im Gazastreifen zu liquidieren“ – mit Blut, Feuer und
Rauchsäulen.
DER OFFIZIELLE
Name des Krieges ist „Gegossenes Blei“,
zwei Wörter aus einem Kinderlied
über den Trendel, ein
Chanukka-Spielzeug.
Ihn „Wahlkampfkrieg“ zu nennen, wäre genauer.
Auch in der
Vergangenheit wurden während der Wahlkampagne militärische Aktionen
durchgeführt. Menachem Begin bombardierte während der 1981er Wahlkampagne den
irakischen Atomreaktor. Als Shimon Peres behauptete, dies sei eine Wahltrick, schrie Begin bei
einer Wahl-Ralley: „Juden, glaubt ihr wirklich, dass ich unsere tapferen Jungs
in den Tod schicken würde oder schlimmer
noch, sie von menschlichen Tieren zu Gefangenen nehmen ließe, nur um die Wahlen
zu gewinnen?“ Begin gewann.
Peres ist kein
Begin. Während der 1996er-Kampagne befahl er die Invasion in den Libanon. (Die
Operation „Trauben des Zorns“). Jeder war davon überzeugt, dass er dies getan hatte, um die Wahl zu gewinnen. Der
Krieg war ein Fehlschlag, und Peres verlor die Wahlen und Binyamin Netayahu kam
ans Ruder.
Barak und Zipi
Livni nehmen nun ihre Zuflucht zu
demselben alten Trick. Nach den Umfragen wuchsen Baraks vorausgesagte Wahlergebnisse innerhalb von 48
Stunden um fünf Knessetsitze. Also etwa 80 tote Palästinenser pro Sitz. Aber es
ist schwierig, über einen Stapel von Leichen zu gehen. Der Erfolg mag sich
innerhalb einer Minute in Luft auflösen, wenn der Krieg von der israelischen
Öffentlichkeit als Fehlschlag angesehen werden wird. Zum Beispiel wenn die Raketen weiterhin Be’er
Sheba treffen werden oder wenn die
Bodenattacke zu vielen israelischen Gefallenen führt.
Der Zeitpunkt
war auch aus einem anderen Blickwinkel sorgfältig ausgewählt worden. Der Krieg
begann zwei Tage nach Weihnachten, wenn die
amerikanisch und europäisch politischen Verantwortlichen bis über
Neujahr in Ferien sind. Die Kalkulation: selbst wenn jemand gewollt und
versucht hätte, den Krieg zu stoppen, keiner würde seine Ferien aufgeben. Dies
sicherte dem Krieg noch ein paar Tage ohne Druck von außen.
Ein weiterer
Grund für diesen Zeitpunkt: es sind die letzten Tage von George Bush im Weißen
Haus. Von diesem von Blut befleckten
Schwachkopf könnte sogar eine begeisterte Unterstützung des Krieges erwartet
werden – und so war es denn auch. Barack Obama hat noch sein Amt noch nicht angetreten und hatte
einen guten Vorwand, sich still zu verhalten: „Es gibt nur einen
Präsidenten“. Das Schweigen ist kein
gutes Zeichen für die Amtszeit des Präsidenten Obama.
DIE HAUPTSACHE
war, nicht dieselben Fehler zu machen wie im 2. Libanonkrieg. Dies wurde endlos
in allen Nachrichtenprogrammen und
Talkshows wiederholt.
Dies verändert
die Fakten nicht: der Gazakrieg ist fast genau die Wiederholung des 2.
Libanonkrieges.
Das
strategische Konzept ist dasselbe: die
zivile Bevölkerung durch unablässige Luftangriffe zu terrorisieren, und Tod und Zerstörung zu säen. Dies stellt für die Piloten keine Gefahr dar, da die
Palästinenser keinerlei Flugabwehr besitzen. Man rechnete damit: wenn die ganze
lebenserhaltende Infrastruktur des Gazastreifens zum größten Teil zerstört ist
und Anarchie herrscht, wird sich die Bevölkerung erheben und das Hamasregime
stürzen. Mahmoud Abbas wird dann auf dem Rücken eines israelischen Panzers nach Gaza zurückkommen.
Im Libanon hat
diese Rechnung auch nicht funktioniert. Die bombardierte Bevölkerung,
einschließlich der Christen, hat sich hinter der Hisbollah zusammengeschlossen,
und Hassan Nasrallah wurde der Held der arabischen Welt. Etwas Ähnliches wird
auch hier geschehen. Generäle sind zwar Experten bei der Anwendung von Waffen
und dem Einsatz von Streitkräften, aber keine Experten von Massenpsychologie.
Vor einiger
Zeit schrieb ich, die Gazablockade sei eine Art
wissenschaftliches Experiment, um herauszufinden, wie weit man eine
Bevölkerung aushungern lassen und ihr
Leben zur Hölle machen könne, bevor sie dem Druck nachgibt. Dieses Experiment wurde mit der großzügigen
Hilfe Europas und der USA durchgeführt. Bis jetzt ist das Experiment nicht
gelungen. Die Hamas wurde stärker und die Reichweite der Qassams länger. Der
gegenwärtige Krieg ist eine Fortsetzung des Experiments mit andern Mitteln.
Es könnte
sein, dass die Armee „keine andere Alternative“ haben wird, als den
Gazastreifen zurückzuerobern, weil es keinen anderen Weg gibt, die Qassams zu
stoppen – außer dass man mit der Hamas ein Abkommen abschließt, das im Gegensatz zur Regierungspolitik steht.
Wenn die Bodeninvasion beginnt, wird alles von der Motivation und den
Fähigkeiten der Hamaskämpfer gegenüber den israelischen Soldaten abhängen.
Keiner weiß, was dann geschehen wird.
TAG FÜR TAG
und Nacht für Nacht sendet der arabische Aljazeera-Kanal die grauenhaftesten
Bilder: Berge von verstümmelten Leichen, weinende Verwandte, die unter den
Dutzenden von Leichen, die neben
einander liegen, nach ihren Lieben suchen. Eine Frau zieht unter den Trümmern
ihre junge Tochter hervor, Ärzte
versuchen, ohne Medikamente das Leben der Verletzten zu retten. (der
englisch-sprachige Aljazeera-Sender hat
im Gegensatz zu seiner arabisch sprechenden Schwesterstation eine
erstaunliche Wendung durchgemacht; er sendet
nur „gereinigte“ Bilder und trägt frei zur israelischen
Regierungspropaganda bei. Es wäre interessant zu erfahren, was da geschehen
ist).
Millionen
sehen diese schrecklichen Bilder, ein
Foto nach dem anderen, Tag um Tag. Diese Bilder werden sich ihnen auf immer ins Gedächtnis einprägen:
schreckliches Israel, abscheuliches Israel, unmenschliches Israel. Eine ganze
Generation von Hassenden wird
heranwachsen. Das ist der schreckliche Preis, den wir werden zahlen müssen, wenn längst alle anderen Folgen des
Krieges in Israel vergessen worden sind.
Aber da gibt
es noch etwas, das sich in das Gedächtnis dieser Millionen einprägen wird, das
Bild der erbärmlich korrupten, passiven arabischen Regime.
Aus arabischer
Sicht wird eine Tatsache oben anstehen: die Mauer der Schande.
Für die
anderthalb Millionen Araber im Gazastreifen, die so schrecklich leiden, ist die
einzige Öffnung zur Welt, die nicht von Israelis beherrscht wird, die Grenze mit Ägypten. Nur von hier können
lebensnotwendige Nahrungsmittel und Medikamente kommen, die das Leben der
Verletzten retten können. Die Grenze blieb auch auf dem Höhepunkt des
Schreckens geschlossen. Die ägyptische Armee hat den einzigen Weg für
Nahrungsmittel und Medikamente geschlossen, während Chirurgen die Verwundeten
ohne Betäubungsmittel operieren.
Durch die
ganze arabische Welt schallen vom einen zum anderen Ende die Worte von Hassan
Nasralleh: die Herrscher Ägyptens sind Komplizen des Verbrechens. Sie arbeiten
mit dem „zionistischen Feind“ zusammen, um
den Widerstand des palästinensischen Volkes zu brechen. Ich möchte
vermuten, dass sie nicht nur Mubarak meinen, sondern auch die anderen Führer,
vom saudiarabischen König bis zum
palästinensischen Präsidenten. Wenn man die Demonstrationen in der ganzen
arabischen Welt sieht und den Slogans zuhört, dann erhält man den Eindruck, als
ob für viele Araber ihre Führer bestenfalls als solche
erscheinen, die Mitleid hätten oder schlimmstenfalls
als erbärmliche Kollaborateure agierten.
Dies wird
historische Konsequenzen haben. Eine ganze Generation arabischer Führer, eine
Generation, die von der Ideologie des säkularen arabischen Nationalismus
erfüllt war, die Nachfolger von Gamal Abd-al-Nasser, Hafez al-Assad und Yasser
Arafat, mögen von der historischen Bühne weggefegt worden sein. Im arabischen
Raum besteht aber nur eine einzige Alternative: die des islamischen
Fundamentalismus.
Dieser Krieg
ist wie die Schrift an der Wand: Israel versäumt die historische Chance, mit
dem säkularen arabischen Nationalismus Frieden zu machen. Morgen wird es mit
einer einförmigen fundamentalistischen
arabischen Welt konfrontiert sein,
mit Hamas hoch zehn.
EIN TAXIFAHRER
in Tel Aviv, in dessen Taxi ich fuhr, dachte laut: Warum sollten nicht die
Söhne der Minister und der Knessetmitglieder
in eine Kampfeinheit einberufen
und fortgesendet werden, damit
sie bei der kommenden Bodeninvasion in Gaza den andern vorausgehen?
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)