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Der
Boss ist wahnsinnig geworden
Uri Avnery, 17.1.09
VOR
169 JAHREN schrieb Heinrich Heine
ein zwölfzeiliges warnendes Gedicht unter dem Titel „An Edom“. Der
deutsch-jüdische Dichter meinte damit Deutschland und vielleicht alle Nationen des christlichen
Europas.
„Ein
Jahrtausend schon und länger,/ Dulden wir uns brüderlich/ Du, du duldest, dass
ich atme, Dass du rasest, dulde ich.// Manchmal nur in dunklen Zeiten,/ Ward
dir wunderlich zu Mut,/ Und die liebefrommen Tätzchen/ Färbtest du mit meinem
Blut!// Jetzt wird unsre Freundschaft fester,/Und noch täglich nimmt sie
zu:/Denn ich selbst begann zu rasen,/ Und ich werde fast wie du“.
Der Zionismus, der etwa 50 Jahre, nachdem
das Gedicht geschrieben wurde, entstanden ist, hat diese Prophezeiung
voll erfüllt. Wir Israelis sind wie alle
anderen Nationen geworden, und die Erinnerung an den Holocaust bringt uns von
Zeit zu Zeit dazu, uns wie die Schlimmsten unter ihnen zu verhalten. Nur wenige
von uns kennen dieses Gedicht von Heine, aber Israel als Ganzes benimmt sich
entsprechend.
In diesem Krieg haben Politiker und Generäle wiederholt die
Worte zitiert: „Der Boss ist wahnsinnig geworden!“ Ursprünglich wurde dies vom Gemüsehändler
auf dem Markt gerufen, im Sinne von ‚Der Boss ist verrückt geworden, er verkauft
seine Tomaten mit Verlust’. Aber im Laufe der Zeit ist aus dem Scherz eine
tödliche Doktrin geworden, die oft bei öffentlichen Diskursen auftaucht; um
unsere Feinde abzuschrecken, müssen wir uns wie Wahnsinnige benehmen,
müssen gnadenlos töten und zerstören.
In diesem Krieg ist dies zu einem politischen und
militärischen Dogma geworden: nur wenn wir „sie“ ohne jegliche Verhältnismäßigkeit umbringen,
tausend von „ihnen“ für zehn von „uns“, dann werden sie verstehen, dass es sich
nicht lohnt, sich mit uns anzulegen. Es wird sich „ihnen ins Bewusstsein
brennen“ (ein beliebter israelischer
Satz in diesen Tagen). Danach
werden sie zweimal nachdenken, bevor sie wieder eine Qassam-Rakete
gegen uns abfeuern – auch als Antwort auf das, was wir tun, ganz gleich, was es
ist.
Man kann die Bösartigkeit dieses Krieges nicht verstehen,
wenn man den historischen Hintergrund nicht
berücksichtigt: die Opfermentalität nach all dem, was Juden Jahrhunderte
lang angetan wurde, und die Überzeugung, dass wir nach dem Holocaust das Recht
haben, alles - absolut alles - tun zu dürfen, um uns zu verteidigen - ohne
Hemmungen durch Gesetz und Moral.
ALS DAS Töten und Zerstören im Gazastreifen auf seinem
Höhepunkt war, geschah etwas weit weg in Amerika und hatte gar nichts mit dem Krieg hier zu tun –
war aber doch sehr mit ihm verknüpft. Der israelische Film „Waltz with Bashir“ wurde mit einem wichtigen Preis ausgezeichnet.
Die Medien berichteten mit großer Freude
und mit Stolz darüber, aber sie brachten es irgendwie fertig, das Thema des
Filmes nicht zu erwähnen. Das war an sich schon ein interessantes Phänomen: man
begrüßt den Erfolg eines Filmes, ohne auf seinen Inhalt einzugehen.
Das Thema dieses außergewöhnlichen Films ist eines der
dunkelsten Kapitel in unserer Geschichte: das Sabra-
und Shatila-Massaker. Im Laufe des ersten
Libanonkrieges führte eine christlich-libanesische Miliz unter der
Schirmherrschaft der israelischen Armee ein
abscheuliches Massaker an Hunderten von hilflosen palästinensischen
Flüchtlingen aus, die in ihrem Lager eingesperrt waren, an Männern, Frauen,
Kindern und alten Leuten. Der Film beschreibt diese Schreckenstaten peinlich
genau, einschließlich unseres Anteils.
All dies wurde bei den Nachrichten über den Preis nicht
erwähnt. Bei der Preisverleihungszeremonie ergriff der Regisseur nicht die
Gelegenheit, um gegen die aktuellen Ereignisse im Gazastreifen zu protestieren,
die dort eben geschahen. Wie viele Frauen und Kinder während dieser Feier
getötet wurden, kann man nicht sagen – aber es ist eindeutig, dass das Massaker
im Gazastreifen viel schlimmer ist als jenes Ereignis von 1982, das 400 000
Israelis dazu brachte, ihre Häuser zu verlassen und einen spontanen Protest in
Tel Aviv abzuhalten. Dieses Mal gingen nur zehntausend auf die Straße.
Der offizielle
israelische Untersuchungsausschuss, der sich mit dem Sabra-Massaker
befasste, stellte fest, dass die israelische Regierung „indirekte Verantwortung“
für die Gräueltat trug. Mehrere ranghohe Politiker und Offiziere wurden
suspendiert. Einer von ihnen war der Divisionskommandeur Amos Yaron. Keiner der
anderen Angeklagten, vom Verteidigungsminister Ariel Sharon bis zum Stabschef
Rafael Eitan, sagten ein Wort des Bedauerns, nur Yaron gestand in einer Rede
gegenüber seinen Offizieren Reue ein und
gab zu: „Unser Empfindungsfähigkeit (für andere) ist abgestumpft“
GEFÜHLLOSIGKEIT ist
der charakteristische Zug des Gazakrieges.
Der erste Libanonkrieg dauerte 18 Jahre und kostete mehr als
500 unserer Soldaten das Leben. Die Planer des zweiten Libanonkrieges
entschieden sich, solch einen langen Krieg und solch eine hohe Todesrate zu vermeiden. Sie
erfanden das Prinzip des „wahnsinnigen Bosses“: das Zerstören von ganzen
Stadtteilen, das Verwüsten ganzer Gebiete, das Zerstören der Infrastrukturen.
Während 33 Kriegstagen wurden 2006 etwa 1000 Libanesen getötet, die meisten von
ihnen Zivilisten – ein Rekord, der in diesem Krieg schon am 17.Tag gebrochen wurde.
Doch in jenem Krieg erlitten unsere Bodentruppen vor Ort große Verluste. Und die öffentliche
Meinung, die zu Beginn den Krieg mit demselben Enthusiasmus wie dieses Mal
unterstützte, änderte sich schnell.
Der Schatten
dieses zweiten Libanonkrieges
liegt schwer über dem Gazakrieg. Alle in Israel schworen,
seine Lektion gelernt zu haben. Und die
Hauptlektion war, das Leben keines einzigen Soldaten zu riskieren. Ein Krieg
ohne Verluste (auf unserer Seite). Die Methode: riesige Feuerkraft unserer
Armee anwenden, um alles und jedes, was in ihrem Wege steht, zu pulverisieren
und jeden zu töten, der sich im Gebiet bewegt. Nicht nur die Kämpfer auf der
anderen Seite, sondern jedes menschliche Wesen, das vielleicht feindliche
Absichten hegen könnte, selbst wenn es ein Sanitäter im Ambulanzwagen, der
Fahrer eines Lebensmittelkonvois ist oder ein Arzt, der Leben retten will.
Jedes Gebäude zerstören, von dem aus unsere Soldaten beschossen werden könnten, sogar eine Schule, die voller Flüchtlinge,
Kranker oder Verletzter ist. Ganze Stadtteile werden bombardiert und
beschossen, Gebäude, Moscheen, Schulen, UN-Lebensmittelkonvois, sogar Ruinen,
unter denen Verletzte begraben liegen.
Die Medien widmeten mehrere Stunden dem Fall einer Qassam-Rakete auf ein Haus in Ashkalon,
in dem drei Bewohner einen Schock erlitten;
sie verlieren aber kaum Worte über die vierzig Frauen und Kinder, die in
der UN-Schule getötet wurden, von der „wir beschossen worden sind“, was sehr schnell als glatte Lüge entlarvt wurde.
Die Feuerkraft wurde auch dazu verwendet, um Angst und
Schrecken zu verbreiten – es wurde alles beschossen: vom Krankenhaus bis zum
ausgedehnten UN Lebensmitteldepot, von einem Presseaussichtspunkt bis zu den Moscheen. Der übliche Vorwand: wir
wurden von dort beschossen.
Dies wäre unmöglich gewesen , wäre
nicht das ganze Land durch Gefühllosigkeit infiziert worden. Die Leute sind
nicht mehr geschockt, wenn sie ein verstümmeltes Baby sehen, noch von Kindern,
die tagelang neben der Leiche der Mutter lagen, weil die Armee sie nicht aus
dem zerstörten Haus ließ. Es scheint, als ob sich fast niemand mehr um
irgendetwas kümmere: weder die Soldaten noch die Piloten, weder die Medien noch
die Politiker und auch die Generäle nicht. Moralischer Wahnsinn, dessen
Hauptexponent Ehud Barak ist. Vielleicht wird er von Zipi
Livni übertroffen, die lächelte, während sie über das
grässliche Geschehen redete.
Selbst Heinrich Heine hätte sich dies nicht vorstellen
können.
DIE LETZTEN TAGE wurden vom „Obama
–Effekt“ beherrscht.
Wir sind an Bord eines Flugzeuges und plötzlich erscheint
vor uns aus den Wolken ein schwarzer Berg. Im Cockpit bricht Panik aus: wie
eine Kollision vermeiden?
Die Kriegsplaner wählten den Kriegszeitpunkt sorgfältig aus:
während der Ferien, während alle auf
Urlaub waren – und während Bush noch amtierte. Aber irgendwie vergaßen sie ein
schicksalhaftes Datum in Erwägung zu ziehen: am nächsten Dienstag wird Barack Obama ins Weiße Haus
einziehen.
Dieses Datum wirft nun seinen Schatten auf die Ereignisse.
Der israelische Barak versteht, dass eine Verärgerung des amerikanischen Barack eine Katastrophe bedeuten würde. Die
Schlussfolgerung: die Schrecken von Gaza müssen vor der Amtseinführung beendet sein. Alle politischen und
militärischen Entscheidungen werden davon bestimmt. Nicht „die Zahl der Qassams“, nicht „der Sieg“ und nicht „ die Hamas brechen.“
WENN ES eine Feuerpause
geben wird, wird die erste Frage sein: wer hat gewonnen?
In Israel geht alles Gerede um das „Bild des Sieges“ – nicht
um den Sieg selbst, sondern um das ‚Bild“. Das ist wesentlich, um die
israelische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sich das ganze Geschäft gelohnt hat. Im
Augenblick sind all die Tausende der
Medienleute bis zum letzen mobilisiert worden,
solch ein „Bild“ zu malen. Die andere Seite wird natürlich ein anderes
Bild malen.
Die israelischen Führer werden sich zweier Erfolge rühmen:
das Ende der Qassams
und das Verschließen der Gaza-Ägyptengrenze (die sog. „Philadelphi-Route“).
Das sind zweifelhafte Erfolge; denn das
Abfeuern der Qassams hätte auch ohne mörderischen
Krieg erreicht werden können, wenn unsere Regierung bereit gewesen wäre, mit
der Hamas zu verhandeln, nachdem sie die palästinensischen Wahlen gewonnen
hatte. Die Tunnels unter der ägyptischen Grenze wären gar nicht
gegraben worden, wenn unsere Regierung nicht eine so tödliche Blockade
über den Streifen verhängt hätte.
Aber der Haupterfolg
der Kriegsplaner liegt in der großen Grausamkeit ihres Planes: die Grausamkeiten
haben ihrer Meinung nach einen abschreckenden Effekt, der lange Zeit anhalten wird.
Hamas auf der anderen Seite wird behaupten, dass ihr
Überleben angesichts der mächtigen israelischen Kriegsmaschine – ein winziger
David gegen einen riesigen Goliath - an
sich schon ein Sieg darstellt. Nach der klassischen militärischen Definition
ist der Sieger einer Schlacht derjenige,
der nach der Schlacht auf dem Schlachtfeld bleibt. Trotz aller Bemühungen, das
Hamas-Regime zu eliminieren, bleibt es, wo es ist. Das ist ein großer Erfolg.
Hamas wird auch darauf hinweisen, dass die israelische Armee
nicht darauf aus war, die palästinensischen Städte zu betreten, in denen ihre
Kämpfer verschanzt waren. Und tatsächlich sagte die Armee der Regierung, dass
die Eroberung von Gazastadt das Leben von 200
Soldaten kosten könnte. Und kein Politiker wäre am Vorabend der Wahlen dazu
bereit.
Allein die Tatsache, dass eine Guerillagruppe von ein paar
Tausend leicht bewaffneter Kämpfer wochenlang gegen eine der mächtigsten Armeen
der Welt mit enormer Feuerkraft ausgehalten hat, sieht für Millionen von Palästinensern und
anderen Arabern und Muslimen – und nicht nur für sie – wie ein vollständiger
Sieg aus.
Am Ende wird ein
Abkommen geschlossen werden, das die offenkundigen Bedingungen einschließt.
Kein Land kann es dulden, dass seine Bewohner Raketenbeschuss von jenseits der
Grenze ausgesetzt sind – und keine Bevölkerung kann es ertragen, dass sie einer
lebensbedrohenden Blockade ausgesetzt ist. Deshalb muss 1. die Hamas mit dem
Abschießen der Qassams aufhören und 2. muss Israel die Grenzübergänge zwischen dem Gazastreifen und der Außenwelt
öffnen und 3. muss die Waffenlieferung in den Gazastreifen (so gut wie möglich)
gestoppt werden, wie es von Israel verlangt wird. All dies hätte auch ohne
Krieg geschehen können, wenn unsere Regierung die Hamas nicht boykottiert
hätte.
DOCH DIE schlimmsten
Folgen dieses Krieges sind noch nicht zu sehen und werden erst in
Jahren bemerkt werden. Israel hat im
Weltbewusstsein ein schreckliches Image von sich selbst zurückgelassen.
Milliarden von Menschen haben uns als blutrünstiges Monster wahrgenommen. Sie
werden Israel nie wieder als einen sympathischen Staat sehen, als einen Staat,
der Gerechtigkeit, Fortschritt und Frieden sucht. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung
spricht von einem anständigen Respekt vor
„den Ansichten der Menschheit“. Das ist ein weises Prinzip.
Noch schlimmer ist die Wirkung auf die Hunderte von Millionen
Araber rund um uns: sie werden nicht nur die Hamaskämpfer
als die Helden der arabischen Nation ansehen, sie sehen auch ihre eigenen
Regime in ihrer Nacktheit: kriecherisch, schmachvoll, korrupt und verräterisch.
Die arabische Niederlage im 1948er-Krieg brachte in seiner
Folge den Fall fast aller arabischen Regime und
den Aufstieg einer neuen Generation nationalistischer Führer wie z.B.
Gamal Abd al-Nasser. Der Krieg von 2009 könnte den
Fall der augenblicklichen arabischen Regime und den Aufstieg einer neuen
Generation von Führern mit sich bringen
– islamischen Fundamentalisten, die
Israel und den ganzen Westen hassen.
In den kommenden Jahren wird deutlich werden, dass dieser
Krieg reiner Wahnsinn war. Der Boss ist tatsächlich wahnsinnig geworden – in
des Wortes tiefster Bedeutung.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom
Verfasser autorisiert)