„…. Nämlich den Staat Israel“
Uri Avnery, 3.5.08
JEDES MAL, wenn ich wieder einmal die berühmten Worte David Ben-Gurions höre:
„Deshalb sind wir hier versammelt …“, muss ich
an Issar Barsky
denken, einen charmanten jungen Mann, den jüngeren Bruder meiner
Freundin.
Das letzte Mal trafen wir uns
vor dem Speiseraum des Kibbuz Hulda am Freitag den 14. Mai 1948.
In der kommenden Nacht sollte
meine Kompanie al-Kubab, ein arabisches Dorf an der
Straße nach Jerusalem, östlich von Ramleh, angreifen.
Wir waren sehr mit den Vorbereitungen beschäftigt. Ich reinigte mein in der
Tschechoslowakei für die deutsche
Wehrmacht fabriziertes Gewehr, als jemand kam und uns erzählte, Ben Gurion halte gerade
eine Rede über die Gründung des Staates.
Ehrlich gesagt, war keiner
von uns an Reden von Politikern in Tel
Aviv interessiert. Die Stadt schien uns
weit weg zu sein. Der Staat, das wussten wir, war hier bei uns. Wenn die Araber
gewinnen sollten, dann würde es keinen Staat geben und uns auch nicht. Wenn wir
gewännen, dann würde es einen Staat geben. Wir waren jung und selbstbewusst und
zweifelten keinen Augenblick daran, dass wir gewinnen würden.
Aber da gab es etwas, was
mich wirklich neugierig machte: wie würde der neue Staat heißen?
Judäa? Zion? Jüdischer Staat?
Also eilte ich zum Speisesaal.
Ben Gurions unverkennbare Stimme schallte aus dem
Radio. Als er zu den Worten kam „…nämlich den Staat Israel …“ war ich zufrieden und ging.
Draußen begegnete ich Issar. Er
gehörte zu einer anderen Kompanie, die in jener Nacht ein anderes Dorf angreifen
sollte. Ich teilte ihm den Namen des
Staates mit und sagte noch „Pass auf dich auf!“
Einige Tage später fiel er.
Deshalb erinnere mich an ihn so, wie er
damals war: ein Junge von 19 Jahren, freundlich lächelnd, ein groß
gewachsener Sabre
(ein im Lande Geborener), voller Lebensfreude und Unschuld.
JE MEHR WIR uns jetzt den grandiosen 60-Jahr-Feiern nähern, um so mehr werde ich von der Frage umgetrieben: wenn Issar seine
Augen öffnen und uns sehen würde - noch immer ein Junge von 19 Jahren - was
würde er über den Staat denken, der offiziell an jenem Tag gegründet worden
war?
Er würde einen Staat sehen, der sich weit über seine wildesten Träume hinaus
entwickelt hat. Aus einer kleinen Gemeinschaft von 635 000 Seelen (mehr als
6000 von ihnen waren mit ihm in jenem
Krieg gefallen) sind wir nun zu einer Gemeinschaft von mehr als sieben Millionen angewachsen. Die beiden großen Wunder, die wir erreicht
haben – die Wiederbelebung der hebräischen Sprache und die Errichtung
der israelischen Demokratie – sind weiterhin Realität. Unsere Wirtschaft ist
stark, in manchen Gebieten – wie z.B. High-tech – sind wir Weltspitze. Issar wäre
begeistert und stolz.
Aber er würde auch spüren,
dass mit unsrer Gesellschaft etwas nicht in Ordnung ist. Der Kibbuz, wo wir
damals unsere kleinen Biwakzelte aufgestellt hatten, ist ein wirtschaftliches
Unternehmen geworden – wie jedes andere. Die soziale Solidarität, auf die wir
so stolz waren, ist zusammengebrochen. Viele Erwachsene und Kinder leben
unterhalb der Armutslinie, alte Leute,
Kranke und Arbeitslose werden hilflos sich selbst überlassen. Die Kluft zwischen reich und arm
klafft in unserem Lande auseinander wie nirgendwo sonst in der wirtschaftlich entwickelten Welt. Und unsere Gesellschaft,
die einst das Banner der Gleichheit und Gerechtigkeit hochhielt, schnalzt nur
noch mit der kollektiven Zunge und geht
zur Tagesordnung über.
Am meisten wäre er bei der
Entdeckung erschrocken, dass der brutale Krieg, der ihn tötete und mich verwundete, wie Tausende andere, immer noch in vollem Gange ist. Er bestimmt
das ganze Leben der Nation. Er füllt die ersten Seiten der Zeitungen und steht zu Beginn aller Nachrichtenprogramme.
Dass unsere Armee, die Armee,
die einmal wirklich „wir“ war, etwas
völlig anderes geworden ist, eine Armee, deren Hauptbeschäftigung es ist, ein
anderes Volk zu unterdrücken.
IN JENER NACHT griffen wir
tatsächlich al-Kutab an. Als wir in das Dorf kamen,
war es schon verlassen. Ich brach in eines der Häuser ein. Der Topf war noch
warm, das Essen stand auf dem Tisch. In einem der Regale fand ich einige
Photos: ein Mann, der sich offensichtlich gerade die Haare gekämmt hatte, eine
Frau vom Dorf, zwei kleine Kinder. Ich habe diese Photos noch immer bei mir.
Ich vermute, dass das Dorf,
das in jener Nacht von Issar angegriffen
wurde, sich ähnlich darstellte. Die Dorfbewohner – Männer, Frauen und Kinder –
flohen im letzten Augenblick und ließen alles, was zu ihrem Leben gehörte,
zurück.
Vor dieser historischen Tatsache
gibt es kein Entrinnen: Israels Unabhängigkeitstag und der palästinensische Nakba- ( Katastrophen-) Tag sind
die beiden Seiten ein und derselben Münze. In 60 Jahren ist es uns nicht
gelungen – tatsächlich haben wir es nicht einmal versucht - den Knoten aufzulösen, um eine andere
Realität zu schaffen.
Und so geht der Krieg weiter.
FÜR DEN 60. Unabhängigkeitstag bildete sich ein
Komitee, das für dieses Ereignis ein Emblem wählte. Das, was schließlich
ausgewählt wurde, könnte ebenso gut auch für Coca Cola oder einem Eurovision
Liederwettbewerb passen.
Das wirkliche Emblem dieses
Staates ist ganz anders, und kein Bürokratenkomitee musste es erfinden. Es ist
fest mit dem Boden verbunden und man sieht es schon von weitem: die Mauer. Die
Trennungsmauer.
Trennung zwischen wem?
Zwischen was?
Anscheinend zwischen dem israelischen Kfar Sava und dem
benachbarten palästinensischen Kalkilia, zwischen Modiin Illit und Bilin. Zwischen dem Staat Israel (und einigem gestohlenen Land) und den besetzten
Gebieten. In Wirklichkeit aber zwischen zwei Welten.
In der fiebrigen
Phantasie derjenigen, die an den
„Zusammenprall der Kulturen“ glauben, ob
nun George Bush oder Osama Bin-Laden
– die Mauer ist die Grenze zwischen zwei Titanen der Geschichte: der westlichen
Kultur und dieser islamischen Kultur, zwei Todfeinden, die den Krieg zwischen Gog
und Magog kämpfen.
Unsere Mauer ist die
Frontlinie zwischen diesen beiden Welten geworden.
Die Mauer ist nicht nur ein
Bau aus Beton und Stacheldraht. Mehr als alles andere, ist solch eine Mauer,
wie jede Mauer ein ideologisches Statement, eine Absichtserklärung, eine
psychische Realität. Die Erbauer erklären damit, dass sie mit Leib und Seele zu
einem Lager gehören – zum westlichen; und dass
auf der anderen Seite der Mauer die andere, die entgegengesetzte,
die feindliche Welt beginnt, die Massen der Araber und Muslime.
Wann wurde das entschieden?
Wer traf diese Entscheidung? Und wie?
Vor 102 Jahren schrieb
Theodor Herzl in seinem grundlegenden
Werk „der Judenstaat“, das die zionistische Bewegung ins Leben rief, einen bedeutungsschweren Satz: „Für Europa würden
wir dort ( in Palästina) ein Stück des Walles gegen
Asien bilden; wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei
besorgen.“
So wurde in 22 deutschen
Wörtern das Weltbild des Zionismus – und unser Platz darin – dargelegt. Und
jetzt nach einer Verzögerung von vier Generationen folgt die materialisierte
Mauer der geistigen.
Das Bild ist klar und
deutlich: wir sind ein Teil Europas (wie Nordamerikas), ein Teil der Kultur,
die ganz europäisch ist. Auf der andern Seite:
Asien, ein ( angeblich) barbarischer Kontinent, ohne Kultur, der
auch die muslimische und arabische Welt
umfasst.
Man kann Herzls Weltbild
verstehen. Er war ein Mensch des 19.Jahrhunderts, und er schrieb diese
Abhandlung, als der Imperialismus der
Weißen seinen Höhepunkt erreicht hatte. Er bewunderte ihn mit ganzer Seele. Er
bemühte sich (vergeblich), ein Treffen mit Cecil Rhodes zu arrangieren, den
Mann, der damals den britischen Kolonialismus symbolisierte. Er ging auf Joseph
Chamberlain zu, den Britischen Kolonialminister, der
ihm Uganda anbot, zur damaligen Zeit
eine britische Kolonie. Zur selben Zeit bewunderte er auch den deutschen Kaiser
und sein so wohl geordnetes Reich, das -
in Herzls Todesjahr - einen schrecklichen Völkermord an den Hereros
in Südwest-Afrika beging.
Herzls Maxime blieb kein
abstrakter Gedanke. Die zionistische Bewegung folgte ihr vom ersten Augenblick
an, und der Staat Israel führt diese bis zum heutigen Tage fort.
HÄTTE ES anders werden
können? Hätten wir ein Teil der Region werden können?
Hätten wir eine Art
kulturelle Schweiz werden können, eine unabhängige Insel zwischen Ost und
West, eine Brücke bilden und ein
Vermittler zwischen beiden Teilen werden
können ?
Ein Monat vor dem Ausbruch
des Krieges von 1948 und sieben Monate bevor der Staat Israel offiziell
gegründet worden war ( also bald nach dem 29.November
1947), veröffentlichte ich eine Broschüre unter dem Titel: „Krieg oder Frieden
in der semitischen Region“. Ich begann mit den Worten:
„Als
unsere zionistischen Vorväter entschieden, eine sichere Zufluchtsstätte
in Palästina
zu errichten, hatten sie die Wahl
zwischen zwei Möglichkeiten:
„Sie hätten in Westasien als
europäischer Eroberer erscheinen können,
der sich selbst
als Brückenkopf der weißen Rasse und
als Herr über die „Eingeborenen“ empfindet,
wie die spanischen Eroberer und die
angel-sächsischen Kolonialisten in Amerika.
So wie es die Kreuzfahrer zu ihrer
Zeit taten.
„Die andere Möglichkeit wäre die
gewesen: sich selbst als ein asiatisches Volk zu sehen,
das in seine Heimat zurückkehrt – sich
selbst als ein Erbe der politischen und kulturellen
Tradition der semitischen Region zu
sehen.“
Die Geschichte dieses Landes
hat Dutzende Invasionen erlebt. Sie können in zwei Kategorien eingeteilt
werden.
Da waren die Invasoren aus dem Westen, wie die
der Philister, Griechen, Römer, Kreuzfahrer, Napoleon und
die Briten. Solch eine Invasion errichtete einen Brückenkopf, und seine
psychische Einstellung ist auch die eines Brückenkopfes.
Die Region ist ein feindseliges Territorium, seine Bewohner Feinde, die
unterdrückt oder umgebracht werden müssen. Am Ende wurden alle diese Invasoren
wieder vertrieben – außer den
Philistern.
Und es gab die Invasoren, die aus dem Osten
kamen, wie die Amoriter, die Assyrer, die Babylonier,
die Perser und die Araber. Sie eroberten das Land und wurden ein Teil davon,
beeinflussten seine Kultur und wurden beeinflusst von dieser Kultur und
schließlich schlugen sie Wurzeln.
Die alten Israeliten gehörten
zur zweiten Kategorie. Selbst wenn es Zweifel über einen Exodus aus Ägypten
gab, wie es in den Büchern Moses beschrieben wurde und keine Eroberung von
Kanaan, wie es im Buch Joshua beschrieben wurde, ist es vernünftig zu vermuten,
dass es sich um Stämme handelte, die aus der Wüste kamen und sich langsam zwischen den befestigten kanaanitischen Städten niederließen, die sie nicht erobern
konnten, wie es tatsächlich im 1.Buch der Richter beschrieben wird.
Die Zionisten andrerseits
gehörten zur ersten Kategorie. Sie brachten das Weltbild eines Brückenkopfes,
eine „Vorhut Europas“ zu sein, mit sich. Dieses Weltbild ließ die Mauer zum
nationalen Symbol werden. Es müsste grundlegend
geändert werden.
EINE UNSERER nationalen
Eigentümlichkeiten ist es, dass in einer
bestimmten Diskussionsweise, bei der alle Teilnehmer - ob von der Linken
oder der Rechten - das Argument benutzen: „Wenn wie nicht dies oder
jenes tun, dann wird dieser Staat zu existieren aufhören!“ Könnten wir uns solch ein Argument in Frankreich, England
oder in den USA vorstellen?
Dies ist ein Symptom von „Kreuzfahrer“-Ängsten.
Auch wenn die Kreuzfahrer in diesem Land fast 200 Jahre blieben und acht
Generationen als „Einheimische“ dort aufwuchsen, waren sie sich ihrer andauernden Existenz dort nie sicher.
Ich mache mir keine Sorgen
über die Existenz des Staates Israel. Er
wird so lange existieren, wie Staaten existieren. Die Frage ist nur: Welche Art
von Staat wird es sein?
Ein Staat mit permanentem
Krieg, der Schrecken seiner Nachbarn,
ein Staat, in dem Gewalt alle
Lebensbereiche durchdringt, wo die Reichen gedeihen und die Armen im Elend
leben; ein Staat, der von seinen besten Kindern verlassen wird …
Oder ein Staat, der im
Frieden mit seinen Nachbarn lebt – zum gegenseitigen Nutzen aller; eine moderne
Gesellschaft mit gleichen Rechten für alle seine Bürger und ohne Armut; ein Staat, der seine
Ressourcen in Wissenschaft und Kultur,
Industrie und Umwelt investiert; ein Staat, in dem künftige Generationen gerne leben wollen; eine Quelle des Stolzes
für alle seine Bürger.
Das sollte das Ziel der nächsten
60 Jahre sein. Ich denke, das ist es , was sich auch Issar
gewünscht hätte.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)
Israel ist 60 Jahre alt –
darüber dürfen wir uns freuen.
Die Nakba
– die Katastrophe für die Palästinenser -
ist auch 60 Jahre alt – das müssen wir beklagen.
Es liegt auch im Interesse
Israels, dass dieser Tragödie ein Ende gesetzt wird
Auf eine Art, die gerecht,
moralisch und praktisch ist und die alle Seiten befriedigt.
Als ein Israeli, der als
Soldat 1948 den Beginn dieser Tragödie miterlebt hat,
fühle ich mich besonders verpflichtet.
Man braucht nicht gegen Palästina zu sein,
wenn man Israel liebt,
man braucht nicht gegen Israel zu sein, wenn
man Palästina liebt.
Lasst uns für Israel, für
Palästina, für den Frieden, für Gerechtigkeit,
und für eine gemeinsame
Zukunft sein.