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„Mit weit geschlossenen Augen“ *
Uri Avnery, 22.11.08
VORGESTERN
erschienen in Haaretz zwei Dokumente neben einander:
ein sehr großes Inserat der palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und
die Ergebnisse einer Meinungsumfrage.
Die Nähe war rein
zufällig, besaß aber durchaus eine Pointe. Das PLO-Inserat ging im einzelnen auf das Saudi-Friedensangebot von 2002 ein,
dekoriert mit den bunten Flaggen der 22 arabischen und der 35 muslimischen
Länder, die das Angebot unterstützt haben.
Die allgemeine
Meinungsumfrage sagte einen überwältigenden Sieg des Likud voraus, der jedes einzelne Wort des Saudi-Vorschlages ablehnt.
DAS PLO-INSERAT ist
das erste seiner Art. Schließlich und endlich entschlossen sich die PLO-Führer,
sich direkt an die israelische Öffentlichkeit zu wenden.
Das Inserat gab der
israelischen Bevölkerung die genauen Bedingungen für das gesamt-arabische
Friedensangebot bekannt: volle Anerkennung des Staates Israel durch alle
arabischen und muslimischen Länder, völlige Normalisierung der Beziehungen
– im Gegenzug dafür: der israelische
Rückzug auf die Grenzen von vor 1967 und die Errichtung des palästinensischen
Staates in der Westbank und im Gazastreifen mit Ost-Jerusalem als seiner
Hauptstadt. Eine Lösung des Flüchtlingsproblems durch ein beiderseitiges
Abkommen – was bedeutet, dass Israel jede Lösung, die es für unannehmbar hält,
mit Veto einlegen kann.
Ich habe es schon
anderer Stelle einmal gesagt: wenn dieses Angebot am 4. Juni 1967 – einen Tag
vor dem Sechs-Tage-Krieg - gemacht
worden wäre, dann hätten die Israelis geglaubt, die Tage des Messias wären
gekommen. Aber als es 2002 veröffentlich wurde, sahen es viele Israelis als
einen listigen Trick an, um Israel der Früchte seines 1967er-Sieges zu berauben.
Die israelische
Regierung hat auf dieses historische Angebot nie offiziell reagiert. Die
öffentliche Meinung und die Medien ignorierten es fast vollständig,
verschanzten sich hinter dem nationalen Konsens, es gebe keine Chance für den
Frieden.
Vor kurzem erwachte
das Angebot zu neuem Leben. Shimon Peres und Ehud Barak entdeckten es so plötzlich, als ob sie einen
versteckten Schatz in einer entfernten Höhle gefunden hätten. Zipi Livni entdeckte, dass es
einige interessante Punkte darin gebe.
Das ist der Hintergrund der lobenswerten Initiative von Saeb
Erekats PLO-Verhandlungs-Abteilung, das Inserat zu
veröffentlichen.
Israels Reaktion war
gleich Null.
DIE ÖFFENTLICHE Meinungsumfrage
– andererseits – machte großen Eindruck.
Sie warf ihre Schatten über die ganze politische Arena.
Es sind zwar noch 80
Tage bis zum Wahltag – und in Israel sind 80 Tage eine sehr, sehr lange Zeit.
Außerdem sind die durch
Medien durchgeführten Umfragen in Israel – im Gegensatz zu US-Umfragen -
Geradezu notorisch
unzuverlässig. Trotzdem verursachte die Umfrage einen Schock.
Sie macht klar, dass der Likud, wenn die
Wahlen in dieser Woche gehalten worden
wären, dann 34 Sitze in der 120-Sitze-Knesset
gewonnen hätte – also dreimal mehr als in der auslaufenden Knessetperiode, und damit
zur stärkeren Fraktion avanciert wäre. Kadima würde
nur 28 Sitze gewinnen, einen weniger als in der gegenwärtigen Knesset.
(Erklärung: Kadima würde viele Stimmen verlieren,
die zum Likud zurückkehren wollen , aber beinahe dieselbe Anzahl der Stimmen von der
Labour-Partei gewinnen.) Die Labor-Partei würde auf 10 Sitze kommen, auf die
Hälfte der gegenwärtigen erbärmlichen Anzahl. Shas
würde dieselbe Anzahl haben wie auch die ultrarechte Liberman-Partei.
Meretz würde von 5 auf 7 kommen (In der
konkurrierenden Umfrage von Yedioth Aharanot erhält der Likud 32, Kadima
26 und Labor 8)
DER BLENDENDE
Aufstieg des Likud ist ein bedrohliches Phänomen an sich, aber noch wichtiger ist das allgemeine Bild:
der Block aller Parteien, die den Frieden unterstützen, ob nun nur als
Lippenbekenntnisse oder ernsthaft ( die sog.“Linke“) wird nach den Umfragen höchstens 56 Sitze haben gegenüber den 64
Sitzen der Anti-Friedensparteien zusammen
(die sog. „Rechte“).
Das heißt: wenn die
Wahlen in dieser Woche stattgefunden hätten, dann wäre das Ergebnis eine Knesset gewesen, die
die Politik mit der Besatzung, den
Siedlungen und der Annexion weiter
geführt hätte. Binyamin Netanyahu
wäre Ministerpräsident geworden und würde in der Lage sein, frei zwischen einem
Dutzend verschiedener Zusammensetzungen
der nächsten Regierungskoalition wählen
zu können.
Wie erreichte Netanyahu solch einen Status? Schließlich wurde er vor 10
Jahren schändlich aus dem Amt des Ministerpräsidenten verstoßen und die von
einer Öffentlichkeit, die sich entschlossen hatte, ihn nicht einen einzigen Tag
länger zu ertragen. Kein vorausgegangener Ministerpräsident hatte so viel Gegnerschaft , Verachtung und sogar Abscheu hervorgerufen.
Während mehrerer
Monate hat Netanyahu sich jetzt wie ein vorbildlicher Schüler benommen.
Er verhielt sich ruhig, wenn es angebracht war, nichts zu sagen. Er
handelte, wie es sich für einen Staatsmann gehört, um dann wie ein
Zauberer auf einem Kindergeburtstag und ein Kaninchen nach dem anderen aus dem
Zylinder zu ziehen. Alle paar Tage schloss sich eine andere Person mit
viel Tamtam dem Likud an, in einer wohl
kontrollierten Auswahl und Dosis: Binyamin Begin, ein
Mann der extremen Rechten und Dan Meridor von der
moderaten Rechten, Assaf Hefetz,
früherer Polizeichef, Moshe („Bogi“)Yaalon, früherer Armeechef
und so weiter. Große und kleine Sterne,
was den Eindruck erweckte, als ob der Likud jetzt von jedem als die kommende Regierungspartei betrachtet
werde. Eine vielfarbige Partei, eine Partei der Erneuerung, geführt von einem
erfahrenen und verantwortlichen Führer. Eine Partei, in der es viele
Schattierungen von Meinungen gibt, die aber vereinigt ist durch
unerschütterliche Grundsätze : nein zum
Rückzug, nein zu einem palästinensischen Staat, nein zu einem
Kompromiss bezüglich Jerusalem, nein zu jeder bedeutsamen
Friedensverhandlung. Und natürlich nein zum arabischen Friedensangebot.
Gibt es auch ein ja? Das hätte ich beinahe vergessen. Netanyahu schlägt einen „wirtschaftlichen Frieden“ vor – um
die Situation der Palästinenser auf der Westbank zu verbessern, damit eines
Tages in der Zukunft - bevor oder nachdem der Messias kommt - Israel vielleicht
ein Abkommen erreichen kann – oder auch nicht. Aber wirtschaftliche
Verbesserung unter einem Besatzungsregime ist natürlich ein Widerspruch in
sich. Denn Besatzung erzeugt Widerstand, Widerstand erzeugt Unterdrückung,
Unterdrückung bedeutet wirtschaftliche Bestrafung. Keiner wird Geld in einem
besetzten Gebiet investieren.
Falls Netanyahu gewählt werden wird, müssen wir mit vier Jahren
rechnen, in denen wir nicht nur keinen einzigen Zoll Fortschritt in Richtung
Frieden machen werden, sondern im Gegenteil, der anhaltende Schwung des
Siedlungsunternehmens wird den Frieden immer weiter hinausschieben.
DER FLUG Zipi Livnis, hingegen, hat nicht an Höhe gewonnen. Das ist eine andere klare
Schlussfolgerung aus den
Meinungsumfragen.
Sie hatte ein paar
Monate lang eine Gnadenfrist. Als das
ganze Land gebannt auf die Korruptionsaffären von Ehud
Olmert blickte, sah Livni
vergleichsweise wie eine blütenreine Taube aus. Ein idealer Kandidat, dazu eine
Frau, dazu auch ehrlich und eine, die in einer Sprache gewöhnlicher Menschen redete, dazu eine, die
an das glaubt, was sie sagt.
Aber nach Olmerts Abgang verschwand die Korruption als zentrales
Thema der Wahlen: Was hat Zipi also anzubieten?
Sie hat kein
überwältigendes Charisma. Sie ist keine Rednerin (und dies ist vielleicht gut
so) . Sie ist
nicht begeisternd. Sie spricht auch nicht die Gefühle an. Sie berührt
nicht das Herz der Leute. Sie ist gezwungen, sich mit logischen Argumenten
zufrieden zu geben.
Aber was ist ihr
politisches Glaubensbekenntnis? Sie ist sehr von „Friedensverhandlungen“
überzeugt. Aber „Friedensverhandlungen“ können wie der „politische Prozess“
leicht ein Ersatz für Frieden selbst werden.
Livni hat keine aufregende Friedensbotschaft. Sie
macht keinen eigenen Friedensvorschlag. Sie ist ‚diplomatisch’ und hält ihre
Karten verdeckt. Keine klare Lösung für Jerusalem (erwähne es möglichst gar nicht – das könnte
für Bibi Munition sein), keine Lösung für die Flüchtlinge (Gott bewahre!). Sie
hatte die zweite Stelle auf ihrer Liste Shaul Mofaz versprochen, der leicht seinen Platz zwischen Bibi, Begin und Bogi finden kann. Auf diese Weise könnte man die Herzen der
Hunderttausende nicht gewinnen, die noch
unentschieden und/ oder müde Bürger sind, die glauben, dass es „keinen Partner
für Frieden“ gibt. Es gibt auch keine Neuerwerbungen: keine neuen
Persönlichkeiten treten Kadima bei. Es gibt kein
Gefühl eines nahenden Sieges. Die Chancen stehen nicht gut.
DIE SITUATION der
Labourpartei sieht sogar noch schlimmer aus. Viel schlimmer. Die Umfragen geben
Labour höchstens 10 Sitze, oder
kaum 8. Die Partei, die in ihren
früheren Inkarnationen 44 Jahre absolute Kontrolle über den Yishuw
und den neuen Staat hatte, kann in der
nächsten Knesset nur auf die fünftgrößte Fraktion zusammenschrumpfen ( nach dem
Likud, Kadima, Shas und Liberman-Partei).
Kein Wunder. Wie
eine alternde Stripteaserin hat sie alle ihre
Gewänder fallen gelassen. Sie hat sich wie
andere Parteien den „saumäßigen
Kapitalismus“ (eine von Peres geprägte Formulierung) hingegeben. Was den
Frieden betrifft, hinkt sie hinter Kadima her, und
manchmal versucht sie sogar den Likud rechts zu überholen. Es hat den
Anschein, als bestünde ihr
Grundsatzprogramm nur mehr aus einem
einzigen Punkt: Ehud Barak
muss der Verteidigungsminister bleiben, egal, wer der nächste Ministerpräsident
sein wird, Netanyahu oder Livni.
Es ist kein
besonders attraktiver Anblick: nicht nur die Ratten verlassen das sinkende
Schiff, sondern auch der Admiral selbst: Ami Ayalon,
früherer Kommandeur der israelischen Flotte, verkündete in dieser Woche, dass
er die Partei verlassen werde.
Die amtierenden Knessetmitglieder
konkurrieren gerade miteinander und mit
der Handvoll Neuer (einschließlich des Vorsitzenden von ‚Peace
Now’ Yariv Oppenheimer und
des Journalisten Daniel Ben-Simon.) um die paar verbliebenen aussichtsreichen Sitze.
Ehud Barak ist eine
wandelnde Katastrophe. Aber er kann nicht vor den Wahlen aus der Laborparteiführung entfernt werden.
Die Partei kriecht ‚ ‚mit weit geschlossenen
Augen’ * auf ihre Niederlage zu.
MEHRERE GELEHRTE,
Professoren und politische Berater, einige, die
der Labourpartei den Rücken gekehrt haben, haben sich zusammen getan und
verkündigt, dass sie sich Meretz anschließen wollen,
um eine Art Super-Meretz zu schaffen.
Darauf gab es
eine gewisse Resonanz. Doch die kürzlichen Umfragen gaben der verstärkten Meretz nicht mehr als 7 Sitze (im Vergleich zu den
gegenwärtigen 5). Das ist nicht gerade eine Revolution.
Warum ? Die
Initiatoren sind alle wohl bekannt. Sie sind alle Mitglieder der ashkenazischen Elite wie alle von Meretz.
Die Öffentlichkeit bekommt den Eindruck, dass anstelle der früheren Führer, die
die Meretzführung einer nach dem anderen verlassen
haben (Shulamit Aloni, Yossi Sarid, Yossi
Beilin, Ran Cohen, alle mit positiven Reverenzen),
andere Leute dazu kommen, gute Leute, aber nicht wirklich von ihren Vorgängern
unterschiedliche, mit denselben guten aber fehlgeschlagenen Parolen. Sie haben
keine neuen Botschaften für die neue Generation, für die orientalischen Juden,
für die arabischen Bürger, für die russischen Immigranten, für die Säkularen,
die gegen das religiöse Vordringen ankämpfen wollen.
Die aktiven Friedensgruppen mit ihren jungen
begeisterten Mitgliedern wurden nicht eingeladen, um der Partei kein
„radikales“ Aussehen zu geben. Bestenfalls wird die erneuerte Partei von Labor
ein paar Sitze übernehmen. Soweit es das allgemeine Bild betrifft, so wird dies
ganz unwichtig sein, da nur Veränderungen im Gleichgewicht der beiden großen Blöcke irgend eine reale Wirkung haben. Viele neue Wähler müssten
mobilisiert werden.
Es gibt Platz für eine neue linke Partei, mit einem neuen Namen, einem neuem Geist und einer Botschaft der Hoffnung,
die im Stile Obamas die Massen der jungen Generation
anspricht, sie mit Begeisterung ansteckt
und einen wirklichen Wandel verspricht.
Solch ein Experiment
wurde gerade bei den Tel Aviver Gemeindewahlen mit
verblüffenden Resultaten durchgeführt. Eine neue Wahlliste erschien aus dem
Nirgendwo, die junge Generation von Tel Avivern hat
sich ihr mit Begeisterung angeschlossen. Sie zog die neuen Wähler an, die von den alten Politikern die Nase
voll hatten, Leute mit Grüner Agenda, Leute mit sozialem Gewissen, Schwule und
Lesben und viele andere. Hunderte
meldeten sich freiwillig, ihre Kandidaten gewannen ein Drittel der Stimmen
gegen einen beliebten amtierenden
Bürgermeister.
Das bedeutet: Ja, es
ist möglich. Aber es wird nicht dieses Mal passieren - noch nicht.
BARACK OBAMA
wird 20 Tage vor den israelischen Wahlen
sein Amt übernehmen. Er hat noch immer eine Chance, das hiesige Ergebnis
entscheidend zu beeinflussen. Keiner in Israel will sich mit den USA anlegen.
Wenn der neue
Präsident unmittelbar nach seiner Amtsübernahme verkündet, er sei entschlossen, schon vor Ende 2009 Frieden zwischen Israel und den
Arabern im Sinne der Saudi-Friedens-Initiative zu erreichen, dann wird das viele Wahlberechtigte beeinflussen.
Falls Netanyahu gewählt werden wird, wird Obama
mit einem Dilemma konfrontiert sein: entweder in einen ernsthaften Konflikt mit
der Regierung Israels geraten, mit allen daraus resultierenden inner-
amerikanischen Implikationen, oder den
Frieden in ein Gefrierfach stecken, wie es sein Vorgänger getan haben.
Die amerikanischen
Wahlen waren für Israel wichtig. Die israelischen Wahlen werden auch für
Amerika wichtig sein.
* Titel eines
ironischen Filmes
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert.)