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Zipis Nationalstaat
Uri Avnery, 13.12.08
ES
KLINGT wie eine phantastische Geschichte. Und das ist sie tatsächlich auch.
In
dieser Geschichte steht ein amerikanischer Politiker auf und erklärt, die
Vereinigten Staaten seien von britischen Protestanten gegründet worden, die in
Europa wegen ihres puritanischen
Glaubens verfolgt worden seien. Deshalb seien die Vereinigten Staaten ein
angel-sächsischer protestantischer Staat.
Und
er fährt fort: die Vereinigten Staaten
sind auch ein demokratischer Staat. Deshalb erfreuen sich Leute mit anderem
Hintergrund, wie z.B. die amerikanischen Ureinwohner, Afrikaner, Südamerikaner,
Asiaten und Juden der vollen Gleichheit. Aber sie müssen wissen, dass die Vereinigten
Staaten ein angelsächsischer Nationalstaat ist, während sie zu anderen
Nationalstaaten gehören.
Klingt
das weit hergeholt? Ja, tatsächlich. Kein amerikanischer Politiker würde nur
daran denken, solch ein Statement zu machen – selbst wenn er in seinem tiefsten
Inneren so empfinden würde.
Hier
in Israel kann man so etwas sagen – und keiner regt sich darüber auf.
IN
DER VERGANGENEN Woche sagte Zipi Livni genau dies. Sie sprach vor Gymnasiasten – ein Auditorium, das unsere Politiker
mögen, die wissen, dass der größte Teil von ihnen Konformisten sind, die jedem
ohne Protest zuhören. Als Zipi vor diesen Schülern
stand, vor Jungen und Mädchen, die in ein, zwei Jahren zur Armee einberufen
werden, enthüllte sie ihre inneren Überzeugungen.
Sie
sagte, Israel ist ein jüdischer und demokratischer Staat. Die arabischen Bürger
erfreuen sich aller bürgerlichen Rechte. Aber sie müssen wissen, dass dies ein
jüdischer Nationalstaat ist, während sie zu einer anderen Nation gehören. Ihr
Nationalstaat wird der zukünftige palästinensische Staat sein.
Dieses
Statement hat keinen Sturm verursacht, weder an Ort und Stelle noch in den
Medien. Es steht nicht im Widerspruch zu
den Überzeugungen der meisten Israelis. Die Allgemeinheit akzeptiert die
Ansicht, dass Israel ein jüdischer Staat ist und dass seine arabischen Bürger
höchstens eine tolerierte Minderheit ist.
Das
Besondere an Zipi Livnis
Statement ist ihre Betonung auf dem Wort
„Nationalstaat“ („nation state“). Sie hat dieses Wort zu ihrem Markenzeichen gemacht
und wiederholt es bei jeder Gelegenheit.
Es gibt ihren Statements eine gewisse Seriosität, eine Art
Heiligenschein durchdachter
Weltanschauung, die sie von Ehud Olmert, Binyamin
Netanyahu und Ehud Barak ,
die alle genau dasselbe denken, unterscheidet.
KEINER
leugnet, dass die Welt unter Nationalstaaten aufgeteilt ist. Das, was einem
Welt-
Parlament
am nächsten kommt, wird „Vereinte Nationen“ (Unites Nations, UN) genannt und
meint die „Vereinten Nationalstaaten“. Die Frage bleibt nur: was ist ein
Nationalstaat?
Was
den historischen Begriff betrifft, so ist ein Nationalstaat ein relativ neues
Phänomen. Vor erst hundert Jahren gehörten große Teile Europas zu
multi-nationalen Reichen. Es war die Dynastie, die das Reich vereinigte, nicht
die nationale Identität seiner Untertanen. Das Österreichisch-Habsburgische
Reich schloss mehr als ein Dutzend Nationen ein; genau so war es im russischen
Zarenreich.
Tatsächlich
kristallisierte sich die nationale Idee erst Anfang des 19. Jahrhunderts
heraus. Immer mehr Denker übernahmen die Ansicht, dass eine Gesellschaft mit
denselben Wurzeln, derselben kulturellen Identität, meistens derselben Sprache, auf demselben
gemeinsamen Gebiet und meistens derselben Religion in ein und demselben Staat
vereinigt sein sollte, der nur ihr
gehört und nationale Unabhängigkeit
haben sollte.
Dass
dies genau in dieser Zeit geschah, war nicht zufällig. In ganz Europa
entwickelte sich ein Massenbildungssystem und alle Völker entwickelten ein
nationales Bewusstsein. Slowaken und Slowenen fragten sich, warum sie
Untertanen der österreichischen Krone sein sollten; Litauer und Letten fanden
es nicht mehr normal, dass sie vom
russischen Zaren unterdrückt werden sollten. In derselben Zeit erforderten
wirtschaftliche und technische Fortschritte Staaten, die groß genug waren, um
eine moderne Wirtschaft aufrecht zu erhalten, und Armeen , die groß genug
waren, ihre Bürger zu verteidigen ( und
vielleicht benachbarte Staaten anzugreifen).
Der
klassische Nationalstaat war Frankreich. Es entwickelte sich eine französische
Nation mit nationalistischer Weltsicht und Nationalstolz und die ihre Sprache
und Kultur auch Völkern auferlegte, die
entweder mit einem Abkommen oder unter Zwang ein Teil Frankreichs wurden: die
Elsässer im Osten, die Korsen im Süden, die Basken im Südwesten, die Bretonen
im Norden. Der britische Nationalismus
absorbierte die Schotten, die Waliser und einige Iren .
Die Völker, die von großen Nationen verschlungen wurden, akzeptierten dies
gewöhnlich und waren stolz auf ihre neue Nationalität. Der Korse Napoleon
Bonaparte war ein Franzose, par Excellence und der Jude Benjamin Disraeli
schuf das britische Empire.
Das
war die Blütezeit des klassischen Nationalstaates: ein nationaler Staat, so homogen wie möglich, der
seine Minderheiten höchstens tolerierte oder
auch direkt verfolgte, was nationalen Konformismus im Lande verlangte
und jede Moral in seinen Beziehungen zu
andern Nationalstaaten verachtete, wenn man es mit anderen Nationalstaaten zu
tun hatte.
Es
scheint so, als ob Zipi Livni
an einen solchen Nationalstaat als ihr Ideal denkt. Aber die Entwicklungen
haben längst ein anderes Stadium erreicht.
Der
Nationalstaat ist nicht gestorben, aber er
ist kaum wieder zu erkennen.
AUCH
DIE Vereinigten Staaten sind ein Nationalstaat. Aber diese Nation unterscheidet sich doch sehr von
dem, die sich Zipi Livni
erträumt.
Die
amerikanische Nation setzt sich aus allen Bürgern der USA zusammen. Litauer, Argentinier und Vietnamesen werden
in dem Augenblick Mitglieder der amerikanischen Nation, wenn sie ihre
Staatsbürgerschaft erhalten. Das Erbe Washingtons und Lincolns bekommen sie
zusammen mit ihrem Pass. Man verlangt von ihnen nicht, dass sie ihre Religion
oder Hautfarbe verändern.
Die
letzte Bestätigung für den Erfolg dieses Systems wurde durch die Wahl Barack Obamas gegeben, des Enkels
eines Muslims aus Kenia. Während der stürmischen Wahlkampagne behauptete keiner ernsthaft, dass er kein
echter Amerikaner sei.
Die
amerikanische Flagge und die amerikanische Verfassung einigt diese moderne
Nation. Der Präsident schwört nicht dem Vaterland die Treue, sondern der
Verfassung. Nicht die Hautfarbe ist wichtig, auch nicht die ethnische Herkunft
oder die Religion oder Sprache. Nur die Staatsbürgerschaft. Selbst die
Forderung, dass der Bürger wenigstens englische Grundkenntnisse haben müsste,
wird nicht mehr so streng wie früher gehandhabt.
Der Terminus WASP
– die Anfangsbuchstaben von „weiße anglo-sächsische
Protestanten“ – wurde schon vor langer Zeit zu einem fast witzigen Begriff. Demographische
Experten sagen voraus, dass in nicht all zu weiter Zukunft die Weißen
europäischen Ursprungs im amerikanischen Nationalstaat zur Minderheit werden.
Aber es scheint, dass diese Nachricht keinen Alarm auslöst.
Jeder
begreift, dass die Zukunft und Stärke der amerikanischen Nation nicht von der
Religion und der Rasse der Amerikaner abhängt. Deshalb gibt es kein
„demographisches Problem“ in Amerika. Neurotische Demographen wie unser Arnon Sofer würden dort als Spinner angesehen.
WIE
IN einigen andern Aspekten sind die USA ein Modell für den Rest der Welt – auch
in dieser Hinsicht.
In
Europa bestehen die alten Nationalstaaten weiter. Selbst nach dem 2.Weltkrieg,
nachdem die Europäer aus ihrem tödlichen
nationalistischen Rausch aufgewacht waren und zu der Schlussfolgerung kamen,
dass sie ein vereinigtes Europa schaffen müssten, widerstanden sie der Idee,
eine vereinigte europäische Nation nach
amerikanischem Modell zu schaffen. Sie errichteten nicht die „Vereinigten
Staaten Europas“, sondern eine
„Europäische Union“, die aus einer großen Anzahl von Nationalstaaten
zusammengesetzt ist. Aber ein Deutscher oder ein Franzose, der vor 200 Jahren lebte, würde jedenfalls kaum
seinen Augen trauen, wenn er heute die Menschen „Unter den Linden“ in Berlin
oder auf den „Champs-Eliseé“ in Paris sehen würde.
Die
europäischen Nationen verändern sich. Sie haben sich der Welt gegenüber geöffnet.
Die Idee von einer homogenen Nation, die sich auf einen gemeinsamen Ursprung
gründet, schwindet dahin. Langsam, vielleicht zu langsam, wächst die Toleranz gegenüber „dem Fremden in
unserer Mitte“, und die
Staatsbürgerschaft wird Einwohnern aus verschiedenen Ethnien
und Religionen gewährt, wie den Türken in Deutschland und den Afrikanern in
Frankreich. Es ist ein schwieriger Prozess, der sehr langsam vorangeht – aber dies ist die Richtung.
Es
ist auch nötig allein für das Überleben der europäischen Nationen. Die
Geburtsrate nimmt ab. Es gibt immer weniger lokale Arbeiter, die die Wirtschaft
aufrecht erhalten und die nötigen Steuern für die
Pensionen der alternden Bevölkerung zahlen. Europa braucht einen ständigen
Strom neuer Immigranten, und diese werden den europäischen Nationen beitreten.
Angela
Merkel wird den türkischen Bürgern nicht sagen: „ Ihr habt hier zwar die
gleichen Rechte, doch ihr gehört zum türkischen Nationalstaat.“ Man kann sich kaum vorstellen, dass Gordon Brown den
britischen Bürgern pakistanischer Herkunft sagen würde: „Euer
Nationalstaat ist Pakistan.“
Die arabischen
Bürger Israels könnten mit den schwedischen Bürgern Finnlands verglichen
werden. Diese stellen etwa 6% der Bevölkerung dar, aber sie spielen eine
bedeutende Rolle in der Wirtschaft des Landes und in anderen Lebensgebieten.
Alle Schilder in Finnland sind zweisprachig. Finnland gehört allen seinen
Bürgern. Ariel Sharons Berater Dov Weisglas sagte
einmal: „Frieden wird es nur dann geben, wenn die Palästinenser Finnen werden“ . Vielleicht wäre
es akkurater, wenn man sagen würde: „Frieden wird es nur dann geben, wenn wir –
die jüdischen Israelis selbst ‚Finnen
werden’“ .
Die
israelisch-arabischen Bürger in Kafr Kassem und in Umm-el-Fahm – nahe
der Grünen Linie – kann man mit den Elsässern Frankreichs vergleichen, die dort
seit unzähligen Generationen lebten. Zu verschiedenen Zeiten der Geschichte
gehörten sie zu Deutschland. Das letzte Mal schloss Adolf Hitler sie dem 3.
Reich an. Heute sind die Elsässer so französisch wie alle Franzosen mit den
gleichen Rechten und Verpflichtungen - und andere Aspekte interessiert
keinen. Würde der französische Präsident
Nicolas Sarkozy, Sohn eines ungarischen Adligen, erklären, dass der Nationalstaat der Elsässer
Deutschland sei?
ICH
WEISS, ich weiß, all diese Beispiele sind nicht auf uns anzuwenden. Wir Juden
sind etwas Besonderes
. Tatsache ist: Gott hat uns
auserwählt.
Aber
mit allem nötigen Respekt gegenüber Gott und
Zipi Livni, muss ich
der Kadima-Kandidatin sagen: „Madame, was Sie da
sagen, ist längst überholt.“ Seit Vladimir Jabotinsky
vor 128 Jahren in die jüdische
Minderheit in Odessa geboren wurde, ist viel Wasser den Dnjestr
hinuntergeflossen. Und ich bin mir nicht sicher, ob er Zipis
Statement unterschreiben würde. Als er schrieb, dass in unserem zukünftigen
Staat „der Sohn des Arabers, der Sohn aus Nazareth, und mein Sohn“ glücklich
zusammen leben würden, meinte er damit nicht, dass der jüdische Staat, von dem
er träumte, auch der Staat seiner
arabischen Bürger sei?
Ich
bin davon überzeugt, dass es noch lange Nationalstaaten geben wird. Es scheint,
dass dies die soziale Struktur ist, die die Menschen heute für unsere Zeit
bevorzugen. Jeder braucht anscheinend
die nationale Identität.
Aber
es wird kein enger, abgeschlossener Nationalstaat sein, zwanghaft homogen, der
sich auf eine nationalistisch-religiös-sprachliche
Konformität gründet und seinen Nachbarn gegenüber feindlich gesinnt ist. Der neue Nationalstaat wird offen und
kosmopolitisch sein, die Minoritäten respektieren, ein Staat all seiner Bürger,
integriert in eine regionale Partnerschaft, ein Teil der globalen Wirtschaft,
ein Partner im gemeinsamen Kampf um die Erhaltung dieses kleinen Planeten.
Dies
sollte die Zukunft sein. Und wann beginnt die Zukunft, wenn nicht heute?
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Zipi Livni schlägt die
Kriegstrommel
Und ruft zur
Invasion in den Gazastreifen auf.
Kriegstreiber lehnen
jede Friedenschance ab.
Und wir haben eine
Menge von ihnen
Von Netanyahu bis Feiglin
Und alle dazwischen
und rund um sie.
Damit Kadima das Vertrauen der Wähler gewinnt
Muss es eine
vernünftige Alternative geben:
Erneuerung der
Feuerpause an der Grenze zum Gazastreifen
Und ein echter
Schritt in Richtung Frieden mit den Führern
Die die
Palästinenser gewählt haben.
Inserat in Haaretz, am 12.Dezember 2008