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Zorn, Sehnsucht und Hoffnung

 

Uri Avnery, 16.8.08

 

EINEN DER  weisesten Aussprüche, die ich je in meinem Leben hörte, sagte ein ägyptischer General ein paar Tage, nachdem Anwar Sadat Jerusalem besucht hatte.

 

Wir waren die ersten Israelis, die nach Kairo gekommen waren. Vor allem wollten wir von dem General wissen, wie es möglich war, dass man uns beim Oktoberkrieg 1973 derart überraschen konnte.

 

Der General antwortete: „Statt die Berichte des Nachrichtendienstes zu lesen, hättet ihr unsere  Dichter  lesen sollen.“

 

Über diese Worte dachte ich am Mittwoch beim Begräbnis von Mahmoud Darwish nach.

 

 

WÄHREND DER Begräbnisfeierlichkeiten wurde  immer wieder an  „den palästinensischen Nationaldichter“ erinnert.

 

Aber er war viel mehr als dies. Er war die Verkörperung des palästinensischen Schicksals. Sein persönliches Schicksal stimmte mit dem Schicksal seines Volkes überein.

 

Er war in Al-Birwa, einem Dorf an der Acco-Safed-Straße, geboren worden. Schon vor 900 Jahren berichtete ein persischer Reisender, dass er  diesen Ort besucht hatte und sich am Grab von „Esau und Simeon - mögen sie in Frieden ruhen“ niedergeworfen hätte . 1931, also 10 Jahre vor der Geburt Mahmouds, bestand die Bevölkerung des Dorfes aus 998 Einwohnern, von denen 92 Christen waren und der Rest sunnitische Muslime.

 

Am 11. Juni 1948 wurde das Dorf vom jüdischen Militär erobert. Seine 224 Häuser wurden bald nach dem Krieg - zusammen  mit denen von 650 anderen Dörfern - dem Erdboden gleich gemacht. Nur ein paar Ruinen und Kakteen, die einmal natürliche Zäune waren, zeugen noch von deren vergangener Existenz. Die Darwish-Familie floh mit dem siebenjährigen Mahmoud kurz vor der Ankunft der Soldaten in den Libanon.

 

Irgendwie gelang es der Familie, auf „illegale“ Weise wieder zurückzukommen in das, was dann israelisches Gebiet war. Ihr wurde  der Status „anwesend Abwesende“ gewährt – eine schlaue israelische Erfindung. Es bedeutete, dass sie legale Bewohner Israels waren, aber ihr Land war ihnen nach einem Gesetz genommen worden, das die Ländereien jedes Arabers enteignete, der nicht physisch in seinem Dorf war, als es besetzt wurde.  Auf ihrem Land wurde der Kibbuz Yas’ur (das zur linken Hashomeer Hatzair-Bewegung gehört) und  der Moschav Ahihud aufgebaut.

 

Mahmouds Vater siedelte sich mit seiner Familie im nächsten Dorf, in Jadaidi, wieder an, von wo er sein Land von weitem sehen konnte. Dort wuchs Mahmoud auf, und dort lebt seine Familie bis heute.

 

Während der ersten 15 Jahre des Staates Israel waren die arabischen Bürger einer Militärverwaltung unterworfen – einem System massiver Unterdrückung, das jeden Aspekt ihres Lebens einschließlich all ihrer Bewegungen kontrollierte: einem Araber war es z.B. verboten,  seinen Ort ohne Passierschein zu verlassen. Der junge Mahmoud verletzte diese Regel mehrere Male, und jedes Mal, wenn er erwischt wurde, kam er ins Gefängnis. Als er anfing, Gedichte zu schreiben, wurde er der Hetze beschuldigt und in „Verwaltungshaft“ ohne Gerichtsurteil genommen.

 

In jener Zeit schrieb er eines seiner bekanntesten Gedichte: „Identitätskarte“, ein Gedicht, das den  Zorn  eines jungen Mannes ausdrückte, der unter diesen demütigenden Umständen aufwuchs. Es fängt mit den explosiven Worten an: „Schreib auf: ich bin Araber!“

 

Es war in jener Zeit, als ich  ihn zum ersten Mal traf. Er kam mit einem anderen jungen, politisch engagierten Mann aus einem Dorf zu mir, mit dem Dichter Rashid Hussein. Ich erinnere mich an einen Satz von ihm: „Die Deutschen mordeten sechs Millionen Juden, und kaum sechs Jahre später, schließt ihr Frieden mit ihnen. Aber mit uns weigern  sich die Juden, Frieden zu schließen.“

 

Er schloss sich der kommunistischen Partei an, der einzigen Partei, in der ein nationalistisch gesinnter Araber aktiv sein konnte. Er redigierte ihre Zeitungen. Die Partei sandte ihn zum Studium nach Moskau, schlossen ihn aber aus der Partei  aus, als er sich entschieden hatte, nicht mehr nach Israel zurückzukommen. Stattdessen schloss er sich der PLO an und ging zum Hauptquartier von Arafat nach Beirut.

 

 

ES WAR dort, als ich  bei einer der aufregendsten Episoden meines Lebens ihm wieder begegnete, als ich nämlich im Juli 1982 die Fronten überquerte und  mich mitten während der Belagerung Beiruts mit Arafat traf. Der palästinensische Führer bestand darauf,  Mahmoud Darwisch solle bei diesem symbolträchtigen Ereignis – bei seinem ersten Treffen mit einem Israeli – anwesend sein. Er schickte jemanden, um ihn zu holen.

 

Die Beschreibung der Belagerung Beiruts gehört zum Eindrucksvollsten, was Darwish geschrieben hatte. Während dieser Tage wurde er der Nationaldichter. Er begleitete den palästinensischen Kampf, und bei den Sitzungen des Palästinensischen Nationalrates, die Institution, die alle Teile des palästinensischen Volkes vereinigte, fesselte er die Mitglieder mit dem Lesen seiner bewegenden Gedichte.

 

Während jener Jahre stand er Arafat sehr nahe. Während Arafat der politische Führer der palästinensischen Nationalbewegung war, war Darwish ihr spiritueller Führer. Er war es, der die Palästinensische Unabhängigkeitserklärung schrieb, die 1988 bei der Sitzung im Nationalrat auf Arafats Initiative angenommen wurde. Sie ist der israelischen Unabhängigkeitserklärung sehr ähnlich, die Darwish in der Schule gelernt hatte.

 

Klar erkannte er seine Bedeutung: indem das „Palästinensische Parlament im Exil“ dieses Dokument annahm, akzeptierte es praktisch die Errichtung eines palästinensischen Staates Seite an Seite mit Israel  – in nur einem Teil des Heimatlandes – wie es Arafat vorgeschlagen hat.

 

Die Verbindung zwischen beiden wurde gebrochen, als das Oslo-Abkommen unterzeichnet wurde. Arafat sah es als „das beste Abkommen in der schlechtesten Situation“.  Darwish war davon überzeugt, Arafat habe den Israelis zu viel zugestanden. Das nationale Herz  stand der nationalen Vernunft gegenüber.( Dies ist eine historische Debatte, die bis heute nicht abgeschlossen wurde – nachdem beide gestorben sind).

 

Seitdem lebte Darwish in Paris, Amman und Ramallah – der „wandernde Palästinenser“, der den „wandernden Juden“ ersetzte.

 

 

ER WOLLTE nicht der  Nationaldichter sein. Er wollte auch kein politischer Dichter sein, sondern ein Lyriker, ein Dichter der Liebe. Aber jedes Mal, wenn er sich in diese Richtung  begab, holte ihn der lange Arm des palästinensischen Schicksals ein und zog ihn zurück.

 

Ich bin nicht qualifiziert, seine Gedichte zu beurteilen oder seine Bedeutung als Poet zu ermessen. Prominente Experten der arabischen Sprache streiten sich noch unter einander über die Bedeutung seiner Gedichte, über ihre Feinheiten und Schichten, Bilder und Anspielungen. Er war ein Meister des klassischen Arabisch, kannte sich aber genau so gut in der westlichen und israelischen Dichtung aus. Viele sind davon überzeugt,  er  sei der größte arabische Dichter und einer der größten Dichter unserer Zeit.

 

Mit seiner Dichtung gelang ihm etwas, was keinem mit anderen Mitteln gelang: alle Teile des aus einander gerissenen palästinensischen Volkes zu einigen – die in der Westbank, im Gazastreifen, in Israel, in den Flüchtlingslagern und in der ganzen Diaspora. Er gehörte ihnen allen. Die Flüchtlinge konnten sich mit ihm identifizieren, weil auch er ein Flüchtling war, Israels palästinensische Bürger konnten sich mit ihm identifizieren, weil er einer von ihnen war – und so auch die Bewohner der besetzten palästinensischen Gebiete, weil er ein Kämpfer gegen die Besatzung war.

 

Einige Leute der Palästinensischen Behörde versuchten in dieser Woche, ihn für ihren Kampf gegen die Hamas auszunützen. Ich denke nicht, dass er damit einverstanden war. Trotz der Tatsache, dass er ein völlig säkularer Palästinenser war und sehr weit entfernt von der  religiösen Welt der Hamas, drückt er die Gefühle aller Palästinenser aus. Seine Gedichte  klingen auch in der Seele eines Hamasmitgliedes im Gazastreifen wieder.

 

 

ER WAR ein Dichter des Zornes, der Sehnsucht und der Hoffnung. Das waren die Saiten seiner Geige.

 

Zorn über die Ungerechtigkeit, die man dem palästinensischen Volk und jedem einzelnen Palästinenser angetan hat. Die Sehnsucht nach dem „Kaffee meiner Mutter“, nach den Olivenbäumen seines Dorfes, nach dem Land seiner Vorfahren. Hoffnung, dass der Konflikt zu einem Ende käme. Unterstützung eines Friedens zwischen den beiden Völkern, einem Frieden, der sich auf Gerechtigkeit und gegenseitiger Achtung gründet. Im Dokumentarfilm der israelisch-französischen Filmemacherin Simone Bitton zeigt er auf einen Esel als Symbol für das palästinensische Volk – ein weises, geduldiges Tier, dass irgendwie immer überlebt.

 

Er verstand die Art des Konfliktes besser als die meisten Israelis und Palästinenser. Er nannte ihn „einen Kampf zwischen zwei Erinnerungen“. Das palästinensisch historische Gedächtnis kollidiert mit dem jüdisch historischen Gedächtnis. Frieden kann  nur dann werden, wenn jede Seite die Erinnerungen der andern Seite – ihre Mythen, ihre verborgenen Sehnsüchte, ihre Hoffnungen und Ängste versteht. (*)

 

Das wollte der ägyptische General damals sagen : die Dichtung drückt die tiefsten Gefühle eines Volkes aus. Und nur das Verständnis dieser Gefühle kann den Weg zu einem wirklichen Frieden ebnen. Ein Frieden zwischen Politikern ist nicht viel wert, ohne den Frieden zwischen den Dichtern und  dem Volk, für das sie sprechen. Deshalb war Oslo ein Fehlschlag und deshalb sind die gegenwärtigen sogenannten Verhandlungen für ein „Schubladen-Abkommen“ so wertlos. Sie haben keine Grundlage in den Gefühlen  beider Völker.

 

Vor acht Jahren versuchte der damalige Bildungsminister Yossi Sarid, zwei Gedichte von Darwish ins israelische Schulcurriculum zu bringen. Dies verursachte wütenden Protest; und der  Ministerpräsident Ehud Barak entschied, dass „die israelische Öffentlichkeit dazu noch nicht bereit sei“. Dies bedeutet in Wirklichkeit, dass „Israels Öffentlichkeit auch noch nicht für einen Frieden bereit ist.“

 

Dies mag noch immer stimmen. Wirklicher Friede zwischen den Völkern, Frieden zwischen den Kindern, die in dieser Woche am Tag der Beerdigung in Tel Aviv und Ramallah geboren wurden, wird nur dann zustande kommen, wenn arabische Kinder das unsterbliche Gedicht von Chaim Nachman Bialik „Das Todestal“ – über das Kishinev-Pogrom -  lernen, und wenn israelische Schüler die Gedichte von Darwish  über die Nakba lernen, Ja, auch die Gedichte der Wut, einschließlich der Zeile: „Geht und nehmt eure Toten mit euch!“

 

Ohne das Verständnis und die mutige Auseinandersetzung mit dem lodernden Zorn über die Nakba und ihre Folgen, werden wir die Wurzeln des Konfliktes  nicht verstehen und ihn auch nicht lösen können. Und wie ein anderer großer Palästinenser der Literaturwissenschaften, Edward Said, sagte: ohne Verständnis der Auswirkungen des Holocausts auf die israelische Seele werden die Palästinenser nicht in der Lage sein, die Israelis zu verstehen.

 

Die Dichter sind die Feldmarschälle des Kampfes zwischen den beiden Gedächtnissen, zwischen den Mythen und Traumatas. Wir brauchen sie auf dem Weg  zum Frieden zwischen den beiden Völkern, zwischen den beiden Staaten, um eine gemeinsame Zukunft zu bauen.

 

 

BEI DEM so ordentlich und sorgfältig von der palästinensischen Behörde organisierten Staatsbegräbnis in der Mukata’a  war ich nicht dabei. Ich war zwei Stunden später bei der Beerdigung seines Leichnams auf einem wunderbaren Hügel dabei, von dem man einen weiten Blick auf die ganze Umgebung hat.

 

Ich war  von dem anwesenden Publikum  sehr beeindruckt, das sich  unter der brennenden Sonne  rund um das von Kränzen bedeckte Grab versammelte und der auf Tonband aufgenommnen Stimme Mahmoud Darwishs lauschte, wie er seine Gedichte las. Diejenigen, die dabei waren, Leute aus der Elite und einfache Menschen aus den Dörfern waren schweigend und in sehr intimer Weise mit dem Mann verbunden. Trotz der dicht gedrängten Menge öffneten sie uns, den Israelis, einen Weg, damit wir an seinem Grab unsere Hochachtung  vor ihm erweisen konnten.

 

Wir  nahmen still Abschied von einem großen Palästinenser, einem großen Dichter und einem großen Menschen.

 

*) vgl auch Uri Avnery: „Wahrheit gegen Wahrheit“ (ER)

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)