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Ein unvergesslicher Augenblick

 

Uri Avnery, 15.11.08

 

ALS ICH  Anwar Sadat dies erzählte, lachte er. „In dem Augenblick, als die Tür Ihres Flugzeuges sich öffnete, hielten alle Israelis den Atem an. Ich lebte damals in einer der Hauptstraßen  Tel Avivs, und in jenem Augenblick sah ich auf die Straße unter mir. Sie war völlig leer. Nichts bewegte sich, außer einer Katze, die wahrscheinlich schnell nach Hause eilte, um fernzusehen.“

 

Seit jenem Augenblick  sind in ein paar Tagen  31 Jahre vergangen – es war einer der größten Augenblicke  unseres Lebens.

 

 

MIT DEN AUGEN eines Israelis sah es folgendermaßen aus: zwischen Ägyptern und Israelis herrschte Kriegszustand. Vier große Kriege waren in den vergangenen 30 Jahren ausgefochten worden  mit Tausenden  von Toten  oder Verkrüppelten auf israelischer Seite und Zehntausenden getöteter oder verkrüppelter Ägypter auf der andern Seite. Der Hass zwischen  beiden Völkern war abgrundtief. Gamal Abd-al-Nassar, Sadats Vorgänger, war offiziell als „ägyptischer Tyrann“ bezeichnet worden; bei Freudenfeuern verbrannten Kinder seine Puppe.  Die Hetze in Radio Kairo war gehässig. Nur vier Jahre zuvor hatten die Ägypter einen Überraschungsangriff gegen Israel ausgeführt und uns einen schweren Schlag versetzt.

 

Und nun stand der ägyptische Präsident ohne  Vorbereitung  in seinem Parlament  auf und verkündete,  er beabsichtige nach Jerusalem zu fliegen und Frieden zu schließen. Viele trauten ihren Ohren nicht. Der israelische Generalstabschef dachte, das sei eine Falle. Keiner nahm ihn ernst.

 

Und nun war er hier. Das Unglaubliche geschah vor unsern Augen. Ein Datum, an das erinnert werden muss: 17. November 1977. Die ganze israelische Führung stand in einer Reihe auf dem Rollfeld.  Die ägyptische Maschine landete und rollte langsam aus auf den   roten Teppich zu. Die Rolltreppe wurde  ans Flugzeug herangefahren. Die Atmosphäre wirkte  surrealistisch. Und dann öffnete sich die Tür, in der der ägyptische Führer stand, schlank, aufrecht und feierlich. Die Trompeten der israelischen Armee bliesen den Salut. Es war ein unvergesslicher Augenblick.

 

Ich habe nach einer historischen Parallele gesucht und keine gefunden. Man hätte dies mit den ersten Schritten des Menschen auf dem Mond vergleichen können .

 

Anvar Sadat hat etwas getan, was niemals vorher geschehen war.

 

 

AUS AKTUELLEM  Anlass  erinnerte ich mich neulich an dieses Ereignis  - ganz abgesehen von seiner politischen Bedeutung.

 

Ich saß mit einer Gruppe von Freunden zusammen und – wie üblich – diskutierten wir über die Chancen des Friedens. Jemand sagte, dass die Verhandlung keine Früchte bringen würde, wenn wir nicht die Haltung der meisten Israelis gegenüber den Palästinensern verändern könnten. Ein anderer bezweifelte, ob dies möglich sei, und fügte noch hinzu, dass selbst eine ernste Krise nichts helfen würde.  Nach der Krise würde jeder/ jede wieder zu seiner oder ihrer ursprünglichen Meinung zurückkehren, als ob nichts geschehen wäre.

Ich sagte, dass die meisten Meinungen der Leute sich  nicht auf rationales Denken gründeten, sondern auf Emotionen. Falls es einen Widerspruch zwischen den beiden geben würde, würde sich der logische Gedanke dem bestehenden emotionalen Muster unterordnen. Um also eine wirkliche Veränderung in der Haltung einer Person hervorzurufen, muss man  auch   ihre Gefühlswelt ansprechen.

 

Ich benötigte ein reales Beispiel – und genau deshalb erinnerte ich mich an Sadat.

 

Sadat hat dies getan. Er wandte sich an die Gefühle eines jeden Israelis.

 

Die kühne Tat löste den emotionalen  und bewussten Schock aus, ohne den der Frieden mit Ägypten nicht möglich gewesen wäre. Er eroberte die Herzen des ganzen Volkes. Die seit Jahrzehnten eingefrorenen Gefühle schmolzen wie Butter in der Mittagssonne und machten den Weg frei, die Dinge völlig anders zu sehen. Leute, die die Ägypter hassten – und in der Tat  alle Araber -  liebten ihn  sofort. Von diesem Augenblick an konnte er zur israelischen Öffentlichkeit reden, sie  überzeugen – und jeder Israeli hing an seinen Lippen.

 

Bis zu jenem Augenblick herrschte  in Israel völliger Konsens,  wir dürfen unter keinen Umständen  die Sinai-Halbinsel „aufgeben“. Das wäre nationaler Selbstmord; wir würden unsere „strategische Tiefe“ verlieren. Moshe Dayan, damals Verteidigungsminister und nationales Idol, erklärte, dass ihm Sharm-el-Sheik ohne Frieden wichtiger wäre als Frieden ohne Sharm-el-Sheik. Keiner war bereit, die Sinai-Ölfelder aufzugeben. Die Laborpartei hatte einen großen Siedlungsblock im Nordsinai rund um eine neue Stadt, Yamit, gebaut, die als unsere schönste und am besten geplante Stadt galt. Und Sadat war außerdem als jemand bekannt, der mit den Nazis im 2. Weltkrieg zusammengearbeitet hatte und dafür von den ägyptischen Behörden ins Gefängnis gesteckt worden war.

 

Jetzt – quasi über Nacht - war dies alles wie weggewischt. Wer benötigt den Sinai? Wer braucht Sharm-el-Sheikh? (Und wer  erinnert sich heute noch daran, dass dieser Ort in Israel damals ‚Ophira’ genannt wurde?), wer benötigt das Öl, wer braucht Yamit – wenn wir dafür Frieden erlangen können?  Alles war verschwunden. Alle wurden evakuiert, und nichts blieb außer den Photos von Tsachi Hanegbis lächerlichem letzten Stand auf  einem Turm und Meir Kahanes  nicht erfülltes Versprechen, in einem Bunker zu sterben.

 

 

ZWEIFELLOS war Sadat ein Genie. Ihn zeichnete eine besondere ägyptische Weisheit aus, die 6000 jährige Weisheit eines alten Volkes, das alles gesehen und schon alles erfahren hat. Das soll  nicht heißen, dass er nicht auch  ernste Fehler gemacht, dass er nicht Illusionen gepflegt, dass er nicht auch  ganz törichte Dinge  zusammen mit Weisheiten gesagt hätte  – manchmal im selben Atemzug.

 

Doch jeder, der ihn persönlich traf, spürte, dass er  einer historischen Persönlichkeit gegenüber stand.

 

Wie traf er diese Entscheidung? Wie er mir (und vielen anderen) erzählte, hätte er eine fast mystische Erleuchtung gehabt. Er war auf seinem Rückflug von einem Besuch beim rumänischen Herrscher, dem er zwei Fragen gestellt hatte. Kann man Menachem Begin trauen? Wird Begin in der Lage sein, seine Entscheidungen auszuführen? Nicolae Ceaucescu beantwortete beide Fragen  bejahend.

 

Als er über den Berg Ararat in der Türkei flog, kam ihm auf einmal die Idee: warum nicht nach Jerusalem gehen und die Israelis  direkt  in ihrem Zu-Hause ansprechen?

 

Das ist eine nette Geschichte. Aber sie stimmt nicht ganz mit der Realität zusammen. Sadat war weder naiv  noch ein Glücksspieler. Bevor er diesen schicksalhaften Schritt tat, hielt er geheime Verhandlungen mit Begin ab. Der stellvertretende ägyptische Ministerpräsident Hassan Tohami wurde nach Marokko gesandt, um sich mit Moshe Dayan, Begins damaligem Außenminister, zu treffen. Dayan versicherte ihm unmissverständlich, dass Begin bereit sei, den ganzen Sinai  bis zum letzten Sandkorn zurückzugeben.

(Als ich dies  vor langer Zeit veröffentlichte, wurde es von beiden Seiten  dementiert. Vor kurzem jedoch hat General Binjamin Gibli, Dayans Vertrauter, kurz vor seinem Tod all dies bestätigt).

 

In  einfachen Worten: vor der dramatischen Geste, vor Beginn der  offiziellen Verhandlungen wusste Sadat, dass er alles ägyptische von Israel besetzte Land  zurückbekommen würde. Er ging auf sicherem Grund.

 

 

DAS IST die andere Seite der Medaille, die israelische. Sadats Initiative wäre ohne Menachem Begin kein Erfolg  gewesen.

 

Als ich die beiden neben einander stehen sah, kam mir der Gedanke,  keine zwei Leute  hätten verschiedener sein können.

 

Sadat war eine impulsive Person, eine Person mit einer großen Vision. An Details  war er nicht interessiert. Er glaubte an die Menschen. Er war der Inbegriff eines Ägypters, ein Dorfjunge  mit dunklem Teint (von seiner sudanischen Mutter).

 

Begin war ein  echter  osteuropäischer Jude. Er wurde nie ein richtiger Israeli. Er war der Veranlagung nach ein Anwalt, der alles peinlich genau nahm und von Natur aus argwöhnisch war.

 

Aber beide hatten einen wichtigen Zug gemeinsam: sie waren beide dramatische Typen. Sie liebten die große Geste und glaubten an ihre Wirksamkeit. Sie waren sich sehr bewusst, Schauspieler auf der Bühne  der Geschichte zu sein. Sie hatten beide die Gabe, die tiefen Emotionen der Menschen anzusprechen.

 

Begin hatte im Gegensatz zu Sadat eine feste und unnachgiebige Ideologie. Dies drückte sich in einer  besonderen Karte vom Land Israel aus, wie sie von den Briten gezeichnet wurde, als sie das Mandat über  das Land übernahmen. Sie hat nichts mit der Karte des Heiligen Landes zu tun, wie dieses in der Bibel beschrieben wurde, sondern sie war von Vladimir Jabotinsky akzeptiert worden und ins Emblem der Irgun-Untergrundarmee aufgenommen worden, lange bevor Begin ihr Kommando übernommen hatte.

 

Nach dieser Karte gehörte das Land jenseits des Jordans (heute Jordanien) auch zu Eretz Israel, aber der Sinai gehörte nicht dazu. Auch die Golanhöhen gehörten nicht dazu. Deshalb war es für Begin leicht, den Sinai zurückzugeben und  - so glaube ich – wäre es ihm auch  leicht gefallen, den Golan zurückzugeben, wenn sich  das Geschehen anders entwickelt hätte.

 

Begin war aber nicht in der Lage, die Westbank zurückzugeben. Autonomie für die Bewohner – ja; faire Behandlung für die Araber  - warum nicht. Schließlich war es Jabotinsky selbst, der festgelegt hatte,  dass  der Ministerpräsident ein Araber  sein sollte und umgekehrt, wenn der Präsident des jüdischen Staates ein Jude  wäre. Aber von der Westbank zurückziehen?  Das kam nicht in Frage.

 

Sadat war sich sicher, dass er Begin dahin bringen könnte, einem palästinensischen Staat zuzustimmen. Begin erkannte tatsächlich auch offiziell das „palästinensische Volk“ an, fügte aber sofort hinzu, dass er die „Araber in Eretz Israel“ meinte. Die Ägypter glaubten später,  Israel habe ihr Vertrauen missbraucht. Dayan dankte aus Protest ab, als ihm klar wurde, dass Begin den palästinensischen Teil des Abkommens nicht erfüllen würde. Aber jedem, der Begin kannte, war klar, dass Begin nicht anders hatte handeln können. (Ich bemühte mich einige Stunden lang, dem stellvertretenden ägyptischen Außenminister Boutros Boutros-Ghali, einer äußerst intelligenten Person, zu erklären, wer Begin  sei, was für eine Karte von Eretz Israel er habe, und was er  nach dem Likud-Lexikon unter „Autonomie“ verstehe.)

 

Das palästinensische Problem war der Stein des Anstoßes, der den ägyptisch-israelischen Frieden schwer  beschädigte.

 

 

EIN BESCHÄDIGTER Frieden – aber trotzdem ein überaus erfolgreicher.

 

Für einen Israeli genügt es, sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn Sadat nicht diese historische Reise unternommen hätte. Wie viele Kriege noch ausgebrochen wären, wie viele Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten ums Leben gekommen oder verkrüppelt worden wären. Wie viele hundert Milliarden Schekel  man hätte ausgeben müssen, um unsere südliche Grenze  zu verteidigen.

 

Ein kleines Beispiel sollte genügen: Mitte Oktober führte die ägyptische Militärflotte ein Manöver durch, das größte in seiner Geschichte. Die Zeitungen in Israel erwähnten dies  kaum am Rande. Wenn zwischen den beiden Staaten kein Frieden geherrscht hätte, hätten in Israel alle Alarmglocken geläutet. Die ägyptische Flotte ist größer als unsere und hat uns in der Vergangenheit schmerzvolle Schläge ausgeteilt.

 

Zu jener Zeit wurde gesagt: dies ist Sadats Frieden. Er wird mit ihm verschwinden. Wir werden den ganzen Sinai wieder zurückgeben müssen; und morgen wird uns ein neuer Pharao angreifen. Nun,  Sadat wurde ermordet  und sein Nachfolger hält den Frieden ein.

 

 

ABER VIEL bedeutsamer als der Wechsel auf der politischen Karte war die psychologische Dimension. Wie Sadat selbst sagte, war die psychologische Dimension des Konfliktes sehr viel wichtiger als alles andere zusammen genommen.

 

Sadat ist es zwar nicht gelungen, die Haltung der israelischen Öffentlichkeit gegenüber der arabischen Welt, besonders  gegenüber dem palästinensischen  Volk, zu verändern. Die emotionale Opposition hierzu war zu stark, und Begins Ideologie brachte den Schwung zum Halten, bevor er das palästinensische Problem erreichte. Die israelische Haltung gegenüber der Westbank ist auch eine andere als gegenüber der Sinaiwüste. Dieser Teil des Konfliktes ist länger und tiefer als sogar der bittere Konflikt mit Ägypten.

 

Sadat aber bewies eines, das in meinen Augen wichtiger ist als alles andere: man kann den emotionalen Zustand eines ganzen Volkes verändern. Man kann den psychologischen Knoten mit einem kühnen Schlag durchhauen. Dafür braucht man auf beiden Seiten verantwortliche Führer. Solche Persönlichkeiten könnten ganz plötzlich erscheinen, an völlig unerwarteten Orten zu völlig unerwarteten Zeiten.  Barak Obama könnte  eine Art  amerikanischer Sadat sein.

 

Meine  persönlich emotionalste Erfahrung, die mit  dem Sadatbesuch  verbunden war, fand in Kairo statt. Begin hatte mich als Herausgeber eines Magazins eingeladen, am Galaempfang,  den Sadat in seinem Palast gegeben hatte, teilzunehmen. Während der Mahlzeit stellte mich mein früherer Brigadekommandeur dem ägyptischen General vor, der 1948 als junger Hauptmann das Kommando  in einer Stellung gehabt hatte, von der ich angeschossen und schwer verletzt wurde.

 

Wir schüttelten uns die Hände.

 

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser  autorisiert)