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Uri Avnery, 28.2.09
979 TAGE sind vergangen, seit der Soldat Gil'ad
Shalit gefangen genommen wurde. An jedem dieser Tage hätte man ihn um den
Preis, den die Hamas von Anfang an forderte, befreien können: Um 450
„bedeutende“ palästinensische Gefängnisinsassen, zusätzlich zu hunderten von
anderen, sowie aller Frauen und
Minderjährigen.
Nach der Auffassung unserer Regierung handelt es sich hierbei um die Rückgabe des
"gekidnappten" Soldaten gegen die Freilassung von "abscheulichen
Mördern" mit "Blut an den Händen".
Nach Auffassung der Hamas handelt es sich hier um
die Rückgabe des jüdischen "Kriegsgefangenen", gegen die Freilassung
hunderter "Widerstandskämpfer", die "mutige Angriffe im Gebiet
des zionistischen Feindes" ausgeführt haben.
Viele hatten gehofft, Ehud Olmert würde die Sache
noch vor dem Ende seiner Amtszeit in wenigen Wochen zu Ende bringen. Aber
Olmert hat Angst. In den letzten Wochen hat er in dieser Angelegenheit einige
Kehrtwendungen vorgenommen, einmal so und dann wieder anders herum. Er befindet
sich in einem schweren Dilemma: Was ist populärer? Tun oder nicht tun?
Wenn er den Gefangenenaustausch durchführt und der
Soldat nach Hause zurückkehrt, wird die Öffentlichkeit vor Freude ganz aus dem
Häuschen sein. Olmert wird zum Helden des Tages. Aber wie lange wird es
anhalten? Zwei Tage? Drei? Eine Woche?
Dann wird man fragen: Wie ist es gekommen, dass diese schrecklichen Mörder frei
gelassen wurden? Morgen werden sie neue Anschläge verüben, jüdisches Blut wird
vergossen, Kinder werden umgebracht. Und Olmert wird zum Unhold vom Dienst.
Ein Mann von Charakter trifft solch eine
Entscheidung und pfeift auf die Folgen.
Olmert aber ist ein reiner Politiker, und nur ein Politiker, er ist nie mehr
gewesen. Er ist mehr zynisch als moralisch, mehr schlau als klug. Er hofft noch
immer, unbeschadet aus den Korruptions-Untersuchungen zu entkommen, um dann,
nachdem Binyamin Netanyahu und Zipi Livni gescheitert sind, zurück an die Macht
geholt zu werden. Es lohnt sich also vielleicht, die Shalit-Affaire dem
nächsten Premierminister zu überlassen.
HINTER DER persönlichen Erwägung verbirgt sich aber
auch ein politisches Problem. Wie würde sich ein Gefangenenaustausch auf das
Kräfteverhältnis Fatah-Hamas auswirken?
Die Freilassung von 1200 palästinensischen
Gefangenen würde in der palästinensischen Öffentlichkeit als großer Sieg der
Hamas aufgenommen. Hier ist einmal wieder der Beweis, dass die Israelis nur die
Sprache der Gewalt verstehen, wie Hamas es immer behauptet hat. Für Muhammad
Abbas wird es eine große Blamage, besonders, wenn die Hamas auch die
Freilassung von Marwan Barghouti, einer Führungspersönlichkeit der Fatah,
erreicht.
Olmert könnte die Erniedrigung von Abbas
verhindern. Er könnte morgen, als Geste dem palästinensischen Präsidenten
gegenüber, tausend bedeutende Fatah-Leute, vorneweg Barghouti, frei lassen, und
so den Sieg der Hamas trüben.
Einfach? Natürlich. Klug? Natürlich. Möglich? Ganz
und gar nicht. Nicht hier in diesem Land. Nicht für Olmert und seine
natürlichen Freunde. Abbas etwas umsonst geben? Gratis? Ja woher denn?! Kommt
überhaupt nicht in Frage!
Hier wird wieder das Dilemma sichtbar, das die
israelische Politik in Bezug auf die PLO seit Jahrzehnten begleitet. Es ist
nicht nur ein politisches, sondern auch ein psychologisches Dilemma.
VOR MEHR ALS 40 Jahren habe ich das spannende Buch
des Psychologen Eric Berne gelesen: "Games People Play".
Eine der Thesen in diesem Buch spricht davon, dass
der scheinbare Grund einer Handlung oft dem wirklichen, unbewussten Grund
widerspricht. Zum Beispiel: Ein Gewohnheits-Krimineller versucht, eine Bank
auszurauben, wird geschnappt und ins Gefängnis geschickt. Seine Motiv ist
offensichtlich: Er möchte mühelos reich werden. Sein wirkliches Motiv aber ist
ein ganz anderes: Er fürchtet sich vor dem Leben außerhalb der Gefängnismauern.
In seinem Unterbewusstsein hofft er, geschnappt und ins Gefängnis gesteckt zu
werden, dort fühlt er sich wohl, seine Position in der Hierarchie der Insassen
ist gesichert.
Wenn ich an das seltsame Verhältnis der israelischen
Regierungen zur PLO denke, fällt mir oft diese Theorie ein.
IM SEPTEMBER 1993, nach einem langen, blutigen
Kampf, unterzeichnete Yitzhak Rabin einen Vertrag mit Yassir Arafat, in dem er
die PLO als alleinigen Vertreter der Palästinenser anerkannte. Die logische
Schlussfolgerung war, dass Israel die Errichtung eines palästinensischen
Staates neben dem israelischen unterstützte, und alles unternähme, um Arafat
und die "Palästinenserbehörde", die infolge des Vertrags eingerichtet
wurde, zu stärken.
Dann aber - wie seltsam - taten alle israelischen
Regierungen genau das Gegenteil.
Rabin selbst fing
schon am Morgen nach den Oslo-Verträgen damit an. Nachdem er beschlossen
hatte, es läge im nationalen Interesse Israels, mit Arafat zusammenzuarbeiten,
wäre es vernünftig gewesen, Arafats Autorität in der Westbank und im
Gazastreifen zu stärken und so bald wie möglich, noch vor der in den
Oslo-Verträgen gesetzten Zeitgrenze 1999, einen Friedensvertrag mit ihm zu
unterzeichnen.
Trotz seines dämonischen Rufs in Israel war Arafat
ein idealer Partner. Er war eine starke Führungspersönlichkeit von allgemein
anerkannter Autorität in allen Teilen der palästinensischen Bevölkerung, auch
bei denen, die ihn kritisierten, also auch bei Hamas. Er verfügte über zwei Eigenschaften,
die zum Schließen von Frieden unabdingbar sind: Den Willen dazu, ein
Übereinkommen zu erreichen, und die Fähigkeit, sein Volk davon zu überzeugen,
es anzunehmen.
Aber seltsamerweise tat die israelische Regierung
genau das Gegenteil. Die Friedensverhandlungen führten nirgendwo hin. Errichtung und Ausbau von Siedlungen wurden
verstärkt fortgeführt. Überall in den besetzten Gebieten konnte man die neuen
roten Ziegeldächer der Siedler entdecken. Die lebensnotwendige Passage zwischen
Westbank und dem Gazastreifen wurde nicht eröffnet – trotz der ausdrücklichen
Verpflichtung der israelischen Regierung, vier "sichere Übergänge" zu
öffnen. Nicht nur, dass die wirtschaftliche Situation der Palästinenser sich
nicht besserte, im Gegenteil, sie wurde schlechter. Vor Oslo konnten die
Palästinenser sich im ganzen Land bewegen, auch in Israel selbst, ausgerechnet
nach dem Abkommen wurde ihre Bewegungsfreiheit mehr und mehr beschränkt.
All das geschah noch zu Zeiten Rabins. Nach seiner
Ermordung ist es sehr viel schlimmer geworden. Der ausgesprochen dumme
Beschluss seines Nachfolgers Shimon Peres, den "Ingenieur", den
Bomben-Macher Jahya Ajash umzubringen, führte zu einer Welle von Anschlägen und
förderte den guten Ruf der Hamas in der palästinensischen Öffentlichkeit – was
dem israelischen Interesse, wie es von unserer Führung bestimmt wurde, sicher
widersprach.
Auf der Camp-David-Konferenz 2000 wurde dann der
Höhepunkt erreicht. Der damalige Premierminister Ehud Barak initiierte sie und ließ sie, in einer
jämmerlichen Mischung aus Angeberei und Ignoranz, scheitern. Anstatt nun zu
verkünden, die Gespräche würden weiter geführt, bis ein Abkommen erreicht
würde, verbreitete er gebetsmühlenartig das Mantra: "Wir haben niemanden
zum Verhandeln! Wir haben keinen Partner für den Frieden!" Er wurde auch
durch den üblen Einfluss seines (damaligen und jetzigen) Beraters Amos Gilad
inspiriert, der Geheimdienstberichte so lange verdrehte, bis sie ihm in den
Kram passten.
Barak zerstörte nicht nur die "zionistische
Linke", er versetzte auch der Fatah einen Schlag, von dem sie sich nicht
erholen sollte, der Fatah, die dem palästinensischen Volk den Frieden mit
Israel versprochen hatte. Damit nicht genug:
Barak gestattete Ariel Sharon seinen provokativen Besuch auf dem
Tempelberg, in Begleitung von hunderten von Polizisten und Soldaten. So
verursachte er die zweite Intifada und bereitete den Weg für Sharon.
Als Sharon 2001 an die Macht kam, war er fest
entschlossen, Arafat und die Fatah zu zerstören. Er belagerte Arafat in seinem
Büro in der Mukata in Ramallah und zerstörte die Infrastruktur der Fatah in der
gesamten Westbank. Nachdem Arafat
ermordet wurde (es ist nicht schwer, zu erraten, von wem), wurde Abbas an seine
Stelle gewählt.
Im Gegensatz zu Arafat, der jahrzehntelang von der
israelischen Führung dämonisiert und geschmäht wurde, hatte Abbas in Israel den
Ruf eines netten, friedliebenden Mannes, eines wahrhaft idealen Partners für
den Frieden. Man hätte nun meinen können, die israelische Regierung hätte sich
Mühe gegeben, sein Regime durch Fortschritte in den Verhandlungen zu stärken,
durch Freilassen von Gefangenen, durch Siedlungs-Stop. Aber nein,
überraschenderweise geschah genau das Gegenteil. Sharon machte sich öffentlich
über ihn lustig, er sei wie ein
"gerupftes Huhn", die Siedlungen wurden mit erhöhter Geschwindigkeit
weiter gebaut und in Windeseile wurde die Mauer errichtet.
Zu allem Überfluss führte Sharon den
"Abzug" aus dem Gazastreifen ohne jede Absprache mit palästinensischen
Behörden durch, und hinterließ so ein Chaos, in dem die Hamas blühen und
gedeihen konnte.
DIE FOLGEN ließen nicht lange auf sich warten: In
den international überwachten palästinensischen Wahlen konnte die Hamas einen
Sieg erringen, der alle überraschte, nicht zuletzt die Hamas selbst. Israel
boykottierte die neue Hamas-Regierung.
Um den Schaden für seine Bewegung zu begrenzen, stimmte Abbas zu, eine
Einheitsregierung mit Fatah und Hamas zu bilden, aber Israel boykottierte auch
diese Regierung.
Diese Situation nützte natürlich der Hamas. Die
palästinensische Unterstützung von Abbas basiert hauptsächlich auf der
Hoffnung, er könne Frieden mit Israel bringen. Wenn er das nicht kann, wozu ist
er dann zu gebrauchen?
Die israelische Regierung – und ihre Satelliten in
Washington DC – gaben sich damit nicht zufrieden. Sie versuchten, im
Gazastreifen Muhammad Dahlan an die Macht zu bekommen, einen Mann, der von
vielen Palästinensern als Agent der israelischen und der US- Regierung
betrachtet wird. Um dies zu verhindern, ergriff die Hamas im Gazastreifen die
Herrschaft und so entstand "Hamastan". Abbas verlor also die Macht über fast die Hälfte der
Palästinenser in den besetzten Gebieten.
So etwas wäre nicht möglich gewesen ohne die
absolute Trennung des Gazastreifens von der Westbank durch Israel, womit Israel Verträge
verletzte, die es unterzeichnet hatte. In den Oslo-Abkommen heißt es
ausdrücklich, der Gazastreifen und die
Westbank sind als ein Gebiet anzusehen, und Israel verpflichtete sich
"vier sichere Übergänge"
zwischen den beiden einzurichten. Es ist kein einziger Übergang
eingerichtet worden, nicht einmal für einen einzigen Tag. Wer also behauptet,
Israel habe der Hamas den Gazastreifen auf einem silbernen Tablett überreicht,
hat nicht übertrieben.
Alles weitere ist bekannt: Israel blockierte den
Gazastreifen, Hamas schoss Raketen auf Israel, ein Waffenstillstand wurde
erklärt, die israelische Armee brach ihn, indem sie in den Gazastreifen
einmarschierte und einige Hamas-Aktivisten tötete, Hamas schoss weiter Raketen,
Israel begann den Gaza-Krieg. Die israelische Führung verkündete, sie führe
diesen Krieg auch für Abbas, und so gelang es ihr, ihn in den Augen der
Palästinenser als Kollaborateur mit dem Feind gegen sein eigenes Volk
darzustellen. Das Regime der Hamas im Gazastreifen blieb wie gehabt.
Das Ergebnis netto: Die Hamas geht aus den
Ereignissen unermesslich gestärkt hervor. Allen Erwartungen zufolge wird sie in
den nächsten palästinensischen Wahlen an
Macht gewinnen. Die meisten Regierungen in der Welt haben jetzt verstanden,
dass man mit der Hamas Gespräche führen
muss.
VIELE LEUTE auf der Welt glauben der
antisemitischen Behauptung, die Juden wären ein außerordentlich kluges Volk,
und all ihre Handlungen bezeugen ihre diabolische Schlauheit. Demnach wäre der
Aufstieg der Hamas das Ergebnis einer ausgetüftelten zionistischen
Konspiration. Die Existenz von Abbas (und vor ihm Arafat) hindert die Juden
daran, das ganze Land zu beherrschen, da die Welt einen Kompromiss mit der
"moderaten" palästinensischen Führung fordert. Die Welt akzeptiert
aber, dass mit der mörderischen Hamas kein Kompromiss geschlossen werden kann,
deshalb sind die schlauen Juden an einem Sieg der Hamas so interessiert.
Andererseits glauben viele Israelis, ihre
Regierungen seien aus unglaublich dummen Politikern zusammengesetzt, die keine
Ahnung haben, was sie tun. Diese Israelis glauben, dass all die Aktionen, die
die Fatah geschwächt und die Hamas gestärkt haben, einfach das Ergebnis
israelischer Dummheit sind.
Ich möchte einen Kompromiss zwischen diesen beiden
Auffassungen vorschlagen: Die israelische Politik ist in der Tat unglaublich
dumm, aber in der Dummheit liegt Methode. Sie kann nur so weiter gehen, weil
sie einer tief verwurzelten Neigung folgt, derer sich die meisten nicht bewusst
sind oder die sie nicht zugeben mögen: Das gesamte Erez Israel zu behalten und
die Entstehung eines palästinensischen Staats unmöglich zu machen.
Wenn wir das ändern wollen, müssen wir diese
unbewusste Neigung ins Bewusstsein rufen und eine ehrliche Diskussion eröffnen.
Wollen wir Frieden oder die Gebiete? Wollen wir Koexistenz oder Besatzung und
ewigen Krieg?
Es ist zu spät, um das Rad zurückzudrehen. Die
Hamas ist ein Teil der Realität geworden. Es liegt in israelischem Interesse,
dass eine palästinensische Einheitsregierung gebildet wird, eine Regierung, mit
der wir ein Abkommen erreichen können, das auch eingehalten wird. Wenn wir beim
Erstarken der Hamas und ihrem wachsenden Einfluss unter den Palästinensern
schon so eine zentrale Rolle gespielt haben, sollten wir langsam anfangen, mit
ihr zu reden.
So können wir auch Gil'ad Shalit in einem
Gefangenenaustausch frei bekommen – vor seinem tausendsten Tag in
Gefangenschaft.
(dt. Gudrun Weichenhan-Mer, vom Verfasser
autorisiert)