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Zipis Wahl
Uri Avnery, 13.9.08
ALS ISRAELI schäme ich mich. Ein amtierender Ministerpräsident
ist wegen persönlicher Korruption gezwungen worden, sein Amt niederzulegen. Das
ist wirklich schlimm.
Als Israeli bin ich
stolz. Ein amtierender Ministerpräsident ist wegen persönlicher
Korruption gezwungen worden, sein Amt niederzulegen. Das ist wirklich
wunderbar.
Gezwungen worden – nicht durch eine Revolution, nicht durch
einen Militärschlag, nicht durch einen Aufruhr auf der Straße, auch nicht durch Machenschaften
rivalisierender Parteien. Sondern durch
normale Prozesse der Rechtsvollstreckungsinstitutionen,
die freien Medien und die öffentliche Meinung.
Bei dieser schmutzigen Affäre hat die Demokratie triumphiert. In
seinem wunderbaren, kleinen Buch „Der Prozess des Sokrates“ definiert I.F.Stone ( ein Mann, den ich
kannte und sehr bewunderte.) die friedliche Absetzung eines politischen Führers
als Kennzeichen einer Demokratie. Sokrates befürwortete die Diktatur eines
Mannes des „Wissens“. Stone legte großen
Wert auf die Tatsache, dass es keine Mittel gegeben hätte, solch einen
Herrscher im Notfall zum Rücktritt zu zwingen.
IM ALTEN Athen wurden hochrangige Führer von allen Bürgern mit
vollen Bürgerrechten gewählt (etwa die Hälfte der freien Bürger und natürlich die Sklaven waren ausgeschlossen).
Die weniger prominenten Beamten wurden mit Los bestimmt – die Theorie war, dass
alle Bürger gleich qualifiziert seien,
die Staatsgeschäfte zu führen . Manchmal denke ich,
dass dies gar keine so schlechte Idee ist.
Doch die Kadima Partei denkt anders.
Am Mittwoch wird die Basis der Partei den Nachfolger von Ehud
Olmert als Parteichef wählen, der dann fast
automatisch Ministerpräsident werden wird, es sei denn, es gelingt ihm (oder ihr) nicht, eine Regierungskoalition zu bilden. In
diesem Falle müssten Neuwahlen stattfinden, wahrscheinlich Anfang 2009. Bis
dahin wird Olmert weiter dem Namen nach
Ministerpräsident sein.
Die wirkliche Wahl ist
zwischen zwei Kandidaten: Zipi Livni
und Shaul Mofaz. Sie
könnten kaum verschiedener sein.
Zunächst einmal weil es ein Mann gegen eine Frau ist. Es ist das
erste Mal in der Geschichte Israels, dass es eine direkte Konfrontation
zwischen den Geschlechtern gibt. (Als
die verstorbene und unbeklagte Golda Meir 1969 nach dem plötzlichen Tod von
Levy Eshkol zur Ministerpräsidentin ernannt wurde,
hatte sie keinen Konkurrenten).
Der Hintergrund der beiden reflektiert die beiden Extreme der
jüdisch israelischen Gesellschaft; Mofaz ist
„Orientale“, der im Iran geboren wurde, ein Außenseiter. Livni
ist eine im Lande geborene ashkenazische Israelin,
ein Insider. Sie ist auch eine Art „Prinzessin“ – ihr Vater war ein Führer im Irgun-Untergrund und (wie Olmerts
Vater) ein Mitglied der Knesset.
Aber der wirkliche Unterschied liegt zwischen den Kräften, die
sie vertreten.
ALS BERUFSSOLDAT vertritt
Shaul Mofaz die Kräfte, die
Israel von Anfang an beherrschten: das „Sicherheits-Establishment“.
Dieser riesige Komplex hat eine einmalige, politische,
wirtschaftliche und ideologische Macht. Da alle größeren politischen Parteien zu zynischen
Gewerkschaften von Parteiheinis ohne Ideologie oder einem realen politischen Programm degradierten, ist
die Armee jetzt – meiner Ansicht nach – die einzige wirkliche Partei in Israel.
Sie ist keine türkische oder pakistanische Armee. Sie ist ein Instrument eines
demokratischen Systems, der zivilen Behörde völlig untertan. Aber hinter dieser
Fassade steckt viel mehr: es ist ein wirtschaftliches Empire, das den bei weitem größten Anteil des
Jahresbudget verbraucht, eine Pressure group, eine politische
Lobby, ein ideologisches Zentrum.
Sie ist in gewisser Weise eine Religion – mit der „Sicherheit“
als ihr einziger Gott und dem Oberkommando als ihre Priesterschaft. Nichts
übertrumpft die Sicherheit in Israel,
und wenn dieser Name fällt, ist alles
andere vergessen. Höre, Israel, Sicherheit ist unser Gott, die Sicherheit allein! (vgl. Deut.6,5)
Wie fast jede Religion, ist sie mit riesigen wirtschaftlichen
Interessen verbunden. Die „Sicherheits“-Industrie mit
ihrer Produktion von Waffen und anderen militärischen Geräten spielt eine zentrale Rolle in der
israelischen Wirtschaft und ihren Exporten, die die etwa zwanzig
Industriemagnaten, die unsere Wirtschaft beherrschen, zu natürlichen Verbündeten der Generäle machen.
Dwight Eisenhower würde dieses Muster wieder erkennen.
Der immense Einfluss des „Sicherheits-Establishments“ – die
bewaffneten Kräfte, der Sicherheitsdienst (Shin Bet),
der Mossad und die Polizei – auf die politischen
Entscheidungen wird noch von der Tatsache unterstrichen, dass der Stabschef an
allen Kabinettstreffen teil nimmt. Niemals – Gott bewahre! - diktiert er der
Regierung; aber es müsste tatsächlich
schon ein sehr mutiger Politiker sein, der der „ernsthaft erwogenen Meinung der
Armee“ widerspricht.
Da Israel im Krieg geboren wurde und sich seitdem immer in einem
Kriegszustand befand, gibt es kaum einen
Teil des israelischen Lebens, der nicht irgendwie von der Sicherheit
betroffen ist. Und in Sicherheitsangelegenheiten ist
es natürlich die Meinung der
Sicherheitschefs, die entscheidend ist. Es
ist auch die Armee, die allein
die besetzten Gebiete beherrscht (wie es
tatsächlich vom Völkerrecht verlangt wird).
In diesem Zusammenhang müssen die Siedler erwähnt werden. Sie
sind eine sehr starke Pressure Group. Während viele
von ihnen ihre Siedlungen „illegal“ errichtet haben, würde kein Siedler dort
sein, wo er heute ist, wenn er nicht von der Armee dorthin gesetzt worden wäre.
An vielen Orten ist die Symbiose
zwischen Siedlern und Soldaten so vollkommen, dass sie eins sind; denn viele
Armeeoffiziere sind selbst Siedler.
FÜR EINE Nation im Kriegszustand ist es normal, dass die Armee
auch die nationale Ideologie gestaltet. Die Medien sind willige, ja, eifrige
Kollaborateure. Frieden sei ein dummes Konzept von schwachen, feigen
Waschlappen. Natürlich ist es auch eine vollkommene und gefährliche Illusion.
Das Ganze wird natürlich noch durch ein riesiges Netzwerk von
Ex-Offizieren verstärkt, wobei das „Ex-“ nur formell ist. Von ein paar
ehrenhaften Ausnahmen abgesehen, gehören alle Ex-Armee-Offiziere demselben Klub
an, und
sie haben dieselbe Überzeugung. Da die Armee für ihre Leute sorgt, bekommen hohe
Offiziere, die die Armee im Alter von
Mitte vierzig verlassen, hohe Positionen
in der Industrie, im öffentlichen Dienst oder bei politischen Parteien – und
erweitern so die „Einflusssphäre“ der Armee.
Das bedeutet – milde ausgedrückt- , sehr viele Leute haben ein persönliches
Interesse an der Abwesenheit von Frieden.
Shaul Mofaz
personifiziert all dieses. Er gehört zu diesem Komplex, er machte dort seine
Karriere als General, Stabschef und Verteidigungsminister. Keiner hat von ihm je einen originellen
Gedanken gehört – seine ganze geistige Welt wird von der Armee gestaltet. In
all seinen Jobs ist er zuverlässig
und mittelmäßig gewesen.
Als er seine Militärkarriere beendet hatte und nach politischen
Möglichkeiten Ausschau hielt, hatte er -
wie viele seiner Vorgänger - keiner Partei den Vorzug gegeben. Solch eine
Person kann ihren Platz leicht bei der Labor, der Likud oder der Kadima-Partei, ganz zu schweigen auch bei der radikalen
Rechten finden. Der Likud bot damals die
besten Aussichten. Als sein Weg dort blockiert wurde, sprang er in der letzten
Sekunde auf Ariel Sharons Kadima-Wagen – nachdem er
24 Stunden vorher feierlich versprochen
hatte, dass er nie, aber auch nie solch
einen verräterischen Gedanken hegen würde.
DIE MILITÄRISCHE Dominanz bei israelischen Angelegenheiten hat
eine verborgene Auswirkung: sie schließt Frauen aus. Die Macho-Atmosphäre der
Armee hat keinen Platz für sie.
Dies wurde vor ein paar Jahren
von einer feministischen Gruppe, die sich New Profile nennt,
vorgebracht. Als Ziel erklärte sie die De-Militarisierung
der israelischen Gesellschaft. Vielleicht durch Zufall ist es genau diese
Gruppe, die der Staatsanwalt in dieser Woche vor Gericht bringen will: für ihre
Anti-Armee-Aktivitäten, Hetze gegen die Rekrutierung, Hilfe bei Wehrdienstverweigerern, Beratung von
Rekruten, sich als psychischen Fall darzustellen versuchen und Ähnliches mehr.
Livni ist nicht nur eine Außenministerin, ein
Job, der vom Sicherheits-Establishment traditionell verachtet wird,
sondern auch eine Zivilperson und - was
noch schlimmer ist – eine Frau. Das macht diese Wahl so interessant.
In der Öffentlichkeit sagen beide Kandidaten fast dasselbe. Sie
wiederholen die üblichen Sprüche. Aber es gibt eine (fast) verborgene Agenda.
Da gibt es die rassistische Seite, die Sünde, die nicht wagt,
die Sache beim Namen zu benennen. Wie der Rasse-Faktor bei den US-Wahlen, so
mag der „ethnische“ Faktor eine weit größere Rolle spielen, als wir zugeben
wollen. Die Orientalen neigen dahin, Mofaz zu wählen,
die Europäer – die Ashkenazim - Livni.
Dann gibt es noch den Geschlechtsfaktor. Die Frauen neigen dahin, eine der ihren zu wählen.
Und es gibt den militärischen Faktor: eine Stimme für Livni ist – bewusst oder meist unbewusst – eine Stimme
gegen die militärische Dominanz unsres Lebens.
Welche Art Staatsfrau würde
eine Ministerpräsidentin Zipi Livni sein? Keiner weiß es, vielleicht nicht einmal sie
selbst. Ihre grundlegende geistige Welt ist die des rechten Flügels. Ihr
Weltbild konzentriert sich um das Konzept eines
jüdischen Staates. Jüdisch in der alten Denkweise von Jabotinsky: nicht im religiösen Sinn (Jabotinsky
war säkular), sondern im
nationalistischen Sinne des 19.Jahrhunderts. Das könnte zu Frieden führen, der
sich auf die ernsthafte Überzeugung eines Zwei-Staaten-Konzepts gründet (für
das auch Mofaz
ein Lippenbekenntnis abgibt) . Aber ich würde mich
nicht darauf verlassen.
Mofaz kennen wir. Livni
kennen wir nicht. Das kann einige Kadima-Mitglieder
dahin führen, Livni
zu wählen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)