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Zweierlei Pessach

Rolf Verleger 1.4.2012

 

Am nächsten Freitagabend ist Pessach: Das Fest zum Andenken an die Befreiung aus der Knechtschaft im Lande Mizrajim und an die Hinführung zur Gesetzgebung am Berg Sinai.

Bekanntlich definieren die Rechtsnationalisten dieses Fest um, in ein Fest zum Andenken an die "Volkwerdung": der Konstituierung des "jüdischen Volkes" (nicht nur für Gott, sondern auch für sich selbst).

 

Befreiung oder Volkwerdung? Das Judentum gibt heute ein solch trübes Bild ab, dass manche sagen, diese völkische Linie sei schon immer die Hauptlinie im Judentum gewesen.

 

Nein.

Es hat schon immer diese zwei Linien im Judentum gegeben. Und die universelle Linie war nicht schwächer als die völkische.

Zu meiner großen Überraschung erfuhr ich das im letzten Rundschreiben unseres jüdischen Landesverbands. Und zwar aus dem Streit darüber, ob man am Seder-Abend vier oder fünf Becher Wein trinken soll.

Bekanntlich soll man am Seder-Abend vier Becher Wein trinken. Einen fünften Becher schenkt man ein. Aber man trinkt ihn nicht. Man lässt ihn stehen, für den Propheten Elijahu, der da kommen möge, um alle Streitfragen zu klären.

So weit war mir das immer bekannt. Aber dass sich mit diesen Bechern eine ideologische Frage verbindet - die wie so häufig im orthodoxen Judentum an einer banal erscheinenden konkreten Frage ausdiskutiert wird - das war mir nicht bekannt.

 

Rabbiner Dov-Levy Barsilay, der ehemalige Hamburger und jetzige Schleswig-Holsteiner Landesrabbiner, belehrt uns im Rundschreiben des Landesverbands: Der fünfte Becher ist der nationalistische Becher.

 

Die rabbinischen Autoritäten, die es ablehnten, diesen Becher zu trinken, sagten mit dieser Ablehnung, was Pessach für sie heißt: Unser Pessachfest ist nach der Halacha kein Fest der Volks in seinem Lande, sondern das Fest der Befreiung und Erlösung.

 

Ich zitiere im Folgenden aus Rabbiner Barsilays Schreiben und wünsche ein schönes Fest.

 

Rolf Verleger

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Rabbiner Barsilay (Rundschreiben der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein März/April 2012):

"Im Talmud finden wir viele Meinungsverschiedenheiten … über die Zahl der Becher Wein, die am Seder-Abend getrunken werden sollen.

Rabbi Jochanan ist der Meinung, man solle vier Becher Wein trinken, entsprechend den vier Ausdrücken – oder vier Stufen der Erlösung aus Ägypten - , die in der Tora erwähnt werden, und zwar:

weHozeti = ich habe (sie) herausgeholt,

weHizalti = ich habe (sie) gerettet,

weLakachti = ich habe (sie zu meinem Volk) genommen,

weGa'alti = ich habe (sie) erlöst.

 

Rabbi Tarfon ist aber der Ansicht, es sollen sogar fünf Becher Wein getrunken werden … Nach seiner Zählung muss noch der Begriff

weHeweti = ich habe (sie in das Land Israel) gebracht

hinzugefügt werden.

 

Bei nur oberflächlicher Betrachtung erscheint uns dieser Disput völlig unverständlich, da die Auslegung von Rabbi Tarfon doch logisch und verständlich scheint. Warum trinken wir also nur vier Becher Wein? Nach genauer … Prüfung kommen wir zur Erkenntnis, dass die Meinungen hier tiefgehend entgegengesetzt sind.

Nach Auffassung von Rabbi Jochanan symbolisieren die vier Becher Wein die Befreiung der Juden aus der Knechtschaft Ägyptens und ihre Erwählung als das Volk G"ttes. Dagegen erhält die Auffassung von Rabbi Tarfon eine weitere Dimension. Die Becher Wein sollen zusätzlich auch die Hoffnung auf die nationale und politische Freiheit im Land Israel symbolisieren, so wie in der Tora ausgeführt …

Man gewinnt den Eindruck, dass in Israel die Meinung von Rabbi Tarfon akzeptiert wurde. Aber nicht nur zwischen den Gelehrten Israels im 1. und 2. Jahrhundert, sondern auch zwischen den Gelehrten in Babylonien viel später ist es zu einer Kontroverse wegen eben dieses fünften Bechers Wein am Seder-Abend gekommen. In der Hochburg des Torahstudiums, .. der … Talmudakademie von Sura, trank man fünf Becher Wein, dagegen in der gleich bedeutenden Talmudakademie von Pumpedita trank man nur vier Becher Wein.

 Auch die entscheidenden Lehrer späterer Zeiten sind sich diesbezüglich uneinig. So schreibt … Maimonides …: 'Man fülle den fünften Becher, jedoch sei er nicht so bedeutend wie die ersten vier Weinbecher'. Rabbi Josef Karo, der Verfasser des 'Schulchan Aruch' [des Leitfadens für das tägliche Leben, R.V.] lehrt: 'Nach den vier Bechern Wein darf kein weiterer Wein getrunken werden.' Rabbi Mosche Isserles aus Krakau … lehrt: 'Falls es unbedingt erwünscht ist, so kann man einen fünften Becher Wein trinken.'

 

Man kann also zusammenfassend feststellen, dass … auch die späteren maßgeblichen Gesetzesautoren in dieser Frage uneinig sind, und in der Tat trinken wir heute diesen fünften Becher Wein auch nicht."

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