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Zweierlei Pessach
Am nächsten Freitagabend ist Pessach: Das Fest zum Andenken an die Befreiung aus
der Knechtschaft im Lande Mizrajim und an die Hinführung zur Gesetzgebung am
Berg Sinai.
Bekanntlich definieren die Rechtsnationalisten dieses Fest um, in ein Fest zum
Andenken an die "Volkwerdung": der Konstituierung des "jüdischen Volkes" (nicht
nur für Gott, sondern auch für sich selbst).
Befreiung oder Volkwerdung? Das Judentum gibt heute ein solch trübes Bild ab,
dass manche sagen, diese völkische Linie sei schon immer die Hauptlinie im
Judentum gewesen.
Nein.
Es hat schon immer diese zwei Linien im Judentum gegeben. Und die universelle
Linie war nicht schwächer als die völkische.
Zu meiner großen Überraschung erfuhr ich das im letzten Rundschreiben unseres
jüdischen Landesverbands. Und zwar aus dem Streit darüber, ob man am Seder-Abend
vier oder fünf Becher Wein trinken soll.
Bekanntlich soll man am Seder-Abend vier Becher Wein trinken. Einen fünften
Becher schenkt man ein. Aber man trinkt ihn nicht. Man lässt ihn stehen, für den
Propheten Elijahu, der da kommen möge, um alle Streitfragen zu klären.
So weit war mir das immer bekannt. Aber dass sich mit diesen Bechern eine
ideologische Frage verbindet - die wie so häufig im orthodoxen Judentum an einer
banal erscheinenden konkreten Frage ausdiskutiert wird - das war mir nicht
bekannt.
Rabbiner Dov-Levy Barsilay, der ehemalige Hamburger und jetzige
Schleswig-Holsteiner Landesrabbiner, belehrt uns im Rundschreiben des
Landesverbands: Der fünfte Becher ist der nationalistische Becher.
Die rabbinischen Autoritäten, die es ablehnten, diesen Becher zu trinken, sagten
mit dieser Ablehnung, was Pessach für sie heißt: Unser
Pessachfest ist nach der Halacha kein Fest der Volks in seinem Lande, sondern
das Fest der Befreiung und Erlösung.
Ich zitiere im Folgenden aus Rabbiner Barsilays Schreiben und wünsche ein
schönes Fest.
Rolf Verleger
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Rabbiner Barsilay (Rundschreiben der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein
März/April 2012):
"Im Talmud finden wir viele Meinungsverschiedenheiten … über die Zahl der Becher
Wein, die am Seder-Abend getrunken werden sollen.
Rabbi Jochanan ist der Meinung, man solle vier Becher Wein trinken, entsprechend
den vier Ausdrücken – oder vier Stufen der Erlösung aus Ägypten - , die in der
Tora erwähnt werden, und zwar:
weHozeti = ich habe (sie) herausgeholt,
weHizalti = ich habe (sie) gerettet,
weLakachti = ich habe (sie zu meinem Volk) genommen,
weGa'alti = ich habe (sie) erlöst.
Rabbi Tarfon ist aber der Ansicht, es sollen sogar fünf Becher Wein getrunken
werden … Nach seiner Zählung muss noch der Begriff
weHeweti = ich habe (sie in das Land Israel) gebracht
hinzugefügt werden.
Bei nur oberflächlicher Betrachtung erscheint uns dieser Disput völlig
unverständlich, da die Auslegung von Rabbi Tarfon doch logisch und verständlich
scheint. Warum trinken wir also nur vier Becher Wein? Nach genauer … Prüfung
kommen wir zur Erkenntnis, dass die Meinungen hier tiefgehend entgegengesetzt
sind.
Nach Auffassung von Rabbi Jochanan symbolisieren die vier Becher Wein die
Befreiung der Juden aus der Knechtschaft Ägyptens und ihre Erwählung als das
Volk G"ttes. Dagegen erhält die Auffassung von Rabbi Tarfon eine weitere
Dimension. Die Becher Wein sollen zusätzlich auch die Hoffnung auf die nationale
und politische Freiheit im Land Israel symbolisieren, so
wie in der Tora ausgeführt …
Man gewinnt den Eindruck, dass in Israel die Meinung von Rabbi Tarfon akzeptiert
wurde. Aber nicht nur zwischen den Gelehrten Israels im 1. und 2. Jahrhundert,
sondern auch zwischen den Gelehrten in Babylonien viel später ist es zu einer
Kontroverse wegen eben dieses fünften Bechers Wein am Seder-Abend gekommen. In
der Hochburg des Torahstudiums, .. der … Talmudakademie von Sura, trank man fünf
Becher Wein, dagegen in der gleich bedeutenden Talmudakademie von Pumpedita
trank man nur vier Becher Wein.
Auch
die entscheidenden Lehrer späterer Zeiten sind sich diesbezüglich uneinig. So
schreibt … Maimonides …: 'Man fülle den fünften Becher, jedoch sei er nicht so
bedeutend wie die ersten vier Weinbecher'. Rabbi Josef Karo, der Verfasser des
'Schulchan Aruch' [des Leitfadens für das tägliche Leben, R.V.] lehrt: 'Nach den
vier Bechern Wein darf kein weiterer Wein getrunken werden.' Rabbi Mosche
Isserles aus Krakau … lehrt: 'Falls es unbedingt erwünscht ist, so kann man
einen fünften Becher Wein trinken.'
Man kann also zusammenfassend feststellen, dass … auch die späteren maßgeblichen
Gesetzesautoren in dieser Frage uneinig sind, und in der Tat trinken wir heute
diesen fünften Becher Wein auch nicht."
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