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Preisträgervorschlag für den Aachener Friedenspreis 2011:
Friedensdorf Bil‘in
Palästina
Als am Neujahrstag 2011 die 35jährige Jawaher Abu Rahma an den Folgen eines
Tränengaseinsatzes der israelischen Armee gegen die Silvesterdemonstration in
Bil‘in verstarb, erklärte ihre Familie, sie wolle keine Rache. Ihr Onkel, Abu
Nidar Abu Rahma, erklärte gegenüber der israelischen Zeitung „Haaretz“: „Wir
haben kein Problem mit dem Volk von Israel. Wir haben ein Problem mit der Armee
und der Besatzung. Wir wissen, dass unser Land uns zurückgegeben wird, selbst
wenn jeden Tag jemand getötet wird. Die Demonstrationen hier werden nicht enden,
bis wir unser Land zurückbekommen. Wir glauben an den Kampf des Volkes, an einen
gewaltlosen Kampf. Wir wollen keinen gewaltsamen Kampf.“
Bil‘in, westlich von Ramallah im zentralen Westjordanland zwischen Jaffa und
Jerusalem gelegen, ist ein kleines palästinensisches Dorf, das von Tälern und
Bergen umgeben ist. Es zählt 1.800 Einwohner, viele arbeiten in der
Landwirtschaft. Nur wenige hundert
Meter vom Ortsrand Bil‘ins entfernt, durchschneidet seit Ende 2004 ein Zaun das
Land. Er ist mit Bewegungsmeldern ausgerüstet und wird von israelischen Soldaten
streng bewacht. Im Abstand von einigen hundert Metern ragen Wachtürme in den
Himmel. Kameras beobachten von hier aus jede Bewegung im Dorf. Die Anlage
erinnert an die ehemalige innerdeutsche Grenze. Für die meisten Palästinenser
ist diese „Mauer“ so gut wie undurchdringlich.
Die israelische Regierung betrachtet den Zaun als Grenze zwischen dem eigenen
Staatsgebiet und der besetzten Westbank. Völkerrechtlich korrekt ist das nicht.
Denn „die Mauer“ wurde bei Bil‘in nicht auf der „grünen Linie“ - also der Grenze
von 1967 - errichtet, sondern ragt weit ins Palästinenserland hinein.
Das hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag zwar schon vor Jahren
verurteilt. Die Regierung in Jerusalem zeigt sich bis heute davon allerdings
völlig unbeeindruckt.
Durch die von Israel besetzte palästinensische Westbank windet sich der 700 km
lange Sperrwall durch palästinensische Städte und Dörfer. Mit dem Bau dieses
Walls durch Israel wurden 29 palästinensische Städte (ein Gebiet von 21.656,4
Hektar ) von der Westbank isoliert und der israelischen Seite des Sperrwalls
einverleibt. Diese durch Israel beschlagnahmten palästinensischen Ländereien
sind besonders fruchtbar und enthalten unterirdische Wasserressourcen in großer
Zahl. Ferner befindet sich das meiste des konfiszierten Landes im Gebiet um
Jerusalem.
Seit Jahrzehnten hat das Dorf Bil‘in Erfahrungen mit der Beschlagnahmung von
Land durch die israelische Besatzungsmacht. Bereits in den 1980er Jahren wurde
die Siedlung Mitat Unze auf Land erbaut, das den Bewohnern von Bil‘in gehört.
1990 beschlagnahmte Israel weiteres Land von Bil‘in, um eine weitere Siedlung,
Kiryat Sefer, zu errichten. 2002 begann Israel mit dem Bau der Siedlung Mitet
Yaaho auf weiterem Land, das den Dorfbewohnern von Bil‘in gehört.
Im April 2004 gab die israelische Regierung ihre Absicht bekannt, einen
Sperrwall auf zusätzlichem zum Dorf gehörigen Land zu errichten. Damals bildeten
die Dorfbewohner das „Popular Committee Against the Wall and its Settlements“
(PCAWS). Das PCAWS vertritt, in Koordination mit Rechtsanwälten, die Rechte der
Bürger von Bil‘in, deren Land für die Errichtung illegaler Siedlungen und den
Bau des Sperrwalls beschlagnahmt wurde. Dieses Komitee bereitet seither mit
Unterstützung israelischer und internationaler Aktivisten wöchentliche
Aktivitäten vor.
Am 20.02.2005 begannen Bulldozer mit dem Bau des Sperrwalls in Bil‘in.
Die israelische Besatzungsmacht ließ fast 1.000 Olivenbäume fällen und
zerstören, die den örtlichen Bauern gehörten. Die Olivenbäume, die vor allem auf
der westlichen Seite des Sperrwalls gelegen waren, stellten Bil‘ins Hauptquelle
des Lebensunterhalts dar. Weiteres konfisziertes Land diente dem Korn- und
Gemüseanbau, sowie als Weide für den Viehbestand. Auf dieses Vorgehen antwortete
das Dorf schnell mit gewaltfreien Demonstrationen, an denen sich alle Mitglieder
der Dorfgesellschaft beteiligten. Protestmärsche finden seither an jedem Freitag
statt, hin und wieder zusätzlich an weiteren Tagen. Dabei entwickeln die
Demonstranten sehr viel Kreativität. Sie spielen Straßentheater, stellen
Filmszenen nach und erinnern an historische Persönlichkeiten des gewaltfreien
Protests wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Nelson Mandela.
Wertvolle Unterstützung des gewaltfreien Kampfes der Dorfbewohner von Bil‘in
leisten israelische und internationale Friedensaktivisten, die an den
wöchentlichen Demonstrationen teilnehmen. Zu den ersten Israelis, die an den
Demonstrationen in Bil‘in teilnahmen, gehörte auch der Aachener
Friedenspreisträger Uri Avnery. Vor allem die ständige Unterstützung des
gewaltfreien Widerstandes in Bil‘in durch die israelische Friedensbewegung
verhindert, dass hier ein Bild „Palästinenser gegen Israelis“ aufgebaut werden
kann. Das richtige Bild lässt sich nicht korrigieren: palästinensische,
israelische und internationale Friedensbewegung kämpft gemeinsam gegen
Militärwillkür und Besatzung.
Zu den wichtigsten Ergebnissen des Widerstandes von Bil‘in gehört die
Entscheidung des Obersten Gerichtshofes in Israel vom 04.09.2007, wonach die
Errichtung des Sperrwalls illegal ist, da sie nicht der von der israelischen
Armee angeführten Rechtfertigung
(Bau zu „Sicherheitszwecken“) entspricht. Das Gericht empfahl der israelischen
Armee den Sperrwall um 500 Meter
zurückzuversetzen. Auch muss ein Tor im Zaun für Dorfbewohner offen gehalten
werden, damit sie die hinter dem Zaun liegenden Olivenhaine bearbeiten können.
Die israelische Armee geht dennoch nach wie vor brutal gegen die gewaltfreien
Demonstranten in Bil‘in vor. Bei jeder Freitagsdemonstration kommen Tränengas,
Soundbomben und Gummigeschosse zum Einsatz. Desweiteren ist das Dorf Ziel
nächtlicher Überfälle, bei denen das israelische Militär Panik unter den
Dorfbewohnern auslöst z.B. mit Soundbomben, dem Stürmen von Häusern und
willkürlichen Verhaftungen auch von Kindern unter 16 Jahren.
Am 17.04.209 starb Bassem Abu Rahma, ein Mitorganisator der wöchentlichen
Proteste, nachdem eine Tränengas-Granate ihn in die Brust traf. Am Neujahrstag
2011 starb seine Schwester Jahaver durch eine Tränengasvergiftung. Mindestens
1200 Menschen wurden durch die
israelische Armee verletzt, zehn davon schwer. 85 Dorfbewohner wurden durch
israelisches Militär festgenommen, einschließlich Mitglieder des Volkskomitees
und deren Kinder.
Die Auszeichnung des Friedensdorfes Bil‘in mit dem Aachener Friedenspreis würde
ein wichtiges Zeichen der Solidarität, der Unterstützung gewaltfreier Formen des
Widerstandes und der Würdigung des gemeinsamen Kampfes von palästinensischer und
israelischer Friedensbewegung setzen. Diese Auszeichnung sollte auch dazu
beitragen, anderen Gruppen in Palästina und in anderen Konfliktregionen die
Möglichkeiten gewaltfreien Widerstandes aufzuzeigen.
Weitere ständig aktualisierte Informationen:
http://www.aixpaix.de/nahost/nahost.html
Der Vorschlag von Otmar Steinbicker (Aachener Friedensmagazin
www.aixpaix.de) wird persönlich unterstützt von:
Uri Avnery,
Aachener Friedenspreisträger (1998); Gila Svirsky (Frauen in Schwarz,
Israel), Aachener Friedenspreisträgerin (1991); Nabila Espanioly, Israel,
Aachener Friedenspreisträgerin (2003); Reuven Moskovitz, Israel, Aachener
Friedenspreisträger (2003); Roni Hammermann (Machsom Watch, Israel),
Aachener Friedenspreisträgerin (2008); Prof. Andreas Buro, Aachener
Friedenspreisträger (2008); Bernhard Nolz, Aachener Friedenspreisträger
(2002); Bianka Buddeberg, ehem. Vorsitzende des Aachener Friedenspreis
e.V.; Abraham Burg, ehemaliger Parlamentspräsident Israels; Nurit
Peled-Elhanan, Israel (Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments 2001),
ihre Tochter Smadar Elhanan wurde Opfer eines palästinensischen
Selbstmordanschlages in Jerusalem 1997; Jeff Halper, Israel (Koordinator
des israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen, 2006 vom American Friends
Service Committee für den Friedensnobelpreis nominiert); Jeannette Liberman,
Israel, Bil‘in-Demonstrantin; Prof. Noam Chomsky, USA; Reiner Steinweg,
Friedensforscher (Linz, Österreich); Günter Schenk, Collectif Judéo Arabe
et Citoyen pour la Paix de Strasbourg, Frankreich; Marc Stenger (pax
christi, Frankreich); François Bremer, ehem. Botschafter Luxemburgs;
Charlott Selberg, Schweden (Palestinagrupperna); Sandra Chennell,
Großbritannien; Wiltrud Rösch-Metzler, Vizepräsidentin pax christi
Deutschland; Ellen Rohlfs, deutsche Vertreterin der israelischen
Friedensgruppe Gush Shalom und autorisierte Übersetzerin Uri Avnerys; Salam
Shalom Arbeitskreis Palästina-Israel e.V., München; Dr. Gabriele Weber,
Freiburger Café Palestine; Prof. Werner Ruf, Kassel, aixpaix.de-Autor.;
Annelise Butterweck, „Frauen in Schwarz“, Köln; Jürgen
Heiducoff, aixpaix.de-Autor.