Israel Palästina Nahost Konflikt Infos
„Breaking the silence“ Noam Chayut
Interview mit
Adri Nieuwhof 2013
Noam Chayut
ist derAutor von Memoiren mit dem Titel“ Das Mädchen stahl meinen Holocaust“.
Chayut diente
fünf Jahre in der israelischen Armee. Er nahm an
der brutalen Militär- Operation
„Defensive Shield“, einem Angriff
auf die Westbank 2002 teil.
Jetzt ist er
nicht mehr in der Armee, er schloss sich 2004 der
israelischen Organisation israelischer Veteranen „Breaking the Silence“ an. In
seinen Memoiren denkt Chayut über
seine Rolle bei den Verbrechen nah, die das israelische Militär gegenüber den
Palästinensern, die unter Besatzung leben, begangen hat.
Ich sprach mit
Chayut via Skype (AN)
AN: Können Sie
sich bitte selbst vorstellen?
NC: Ich bin
ein ganz gewöhnlicher Israeli, Mitte 30. Wie die meisten meiner Freunde und die
Leute, mit denen ich aufgewachsen bin, wurde ich mit 18 vom Militär eingezogen.
Wie viele meiner Freunde wollt ich Offizier sein und so gut wie möglich sein.
Ich habe sogar ein Jahr länger gedient, weil ich glaubte, ich sollte das
meiner Gesellschaft zurückgeben…
Wie viele
meiner Freunde war ich schockiert, als mir meine eigene Brutalität und die
meiner Einheit und der Armee rund
um mich bewusst wurde, wie wir die Palästinenser seit Beginn der 2. Intifada
2000 unterdrückten. Mir begegnete
dieses hässliche Gesicht Israels. Es ist tatsächlich das Hauptziel meiner
Regierung und einer Menge Geld aus unserm Budget, unserer Kultur und unsern
Ressourcen, die in die Kontrolle des benachbarten Volkes investiert wird. Mit
einem Haufen junger Leute wie mich, die nach dem Militärdienst geschockt sind
und den Drang haben,etwas zu tun, gründeten wir „Das Schweigen brechen“(Breaking
the Silence“)
AN: Hatten Sie
eine spezielle Leserschaft/Zuhörer im Sinn, als Sie das Buch schrieben?
NC: Nein, der
größte Teil des Buches wurde ganz
spontan in sechs Wochen in Indien
geschrieben. Als ich nach Israel zurückkam, war Ilana Hammerman, eine
Herausgeberin beim Mainstream-Herausgeber Am Oved,
interessiert am Material von Breaking the Silence. Als sie das Manuskript
las, fragte sie mich, ob ich bereit wäre, mehr über meine Kindheit zu schreiben.
Sie sagte, damit Leser überzeugt werden oder dir folgen können,
müssen sie dich erst mal lieben, bevor du mit ihnen in deine Geschichten
der Unterdrückung der Palästinenser gehst. Als ich das Buch herausgab, dachten
wir, lasst uns mit den Leuten reden, die der Realität gegenüber so blind sind,
und ihnen beweisen, dass wir so etwas wie eine Maschine schaffen, nur um das
palästinensische Volk zu kontrollieren.
AN: In Ihrem
Buch beschreiben Sie, wie Sie militärische Gewalt benützt haben, um die
Zivilisten in den palästinensischen Dörfern oder am Qalandiya Militär-Checkpoint
zu unterdrücken. Sie schreiben, wie
die israelische Gesellschaft junge Leute brainwashes, um sie auf ihre Rolle in
der Armee vorzubereiten. Blockiert das Brainwashing das kritische Denken oder
hilft es Israelis, ihre Taten zu rechtfertigen.
NC: In meinem
Buch erkläre ich, wie die Gehirnwäsche mich befähigt hat, dass ich böse gekämpft
habe, ohne bemerkt zu haben, dass ich der Böse bin. Diese Indoktrinierung, deren
Opfer wir sind, dass wir das Recht haben, dies zu tun. Uns hat man wirklich das
Narrativ erzählt, dass das Land leer gewesen sei und auf uns wartete.
Wenn ich auf
die Straße hinaus gehe und versuche jemanden zu überzeugen, dass nicht weit von
hier 1948 noch ein Dorf stand, das
von der IDF Haus um Haus zerstört wurde, so halten die meisten Leute dies für
eine Übertreibung der Palästinenser.
Aber in dem
Buch – so meine ich – ist es eine Rechtfertigung. Denn ich habe über viele Dinge
kritisch nachgedacht und ich erinnere mich, dass dieses kritische Denken schon
in der Armee anfing. Aber es ist wie eine Art Schizophrenie, wie zwei
Gesinnungen in einem Körper. Einerseits
bin ich davon überzeugt, dass ich alles richtig mache, weil wir die guten
Jungs sind und gute Jungs tun die richtigen Dinge.
Andrerseits –
wenn Sie mich in einem Film oder auf einem andern Planeten sehen würden oder von
Afrika, dann kann ich nicht darin übereinstimmen, dass diese Leute die bösen
sind. Was macht dies aber möglich: es ist die Indoktrination. Ich konzentriere
mich auf die Indoktrination von uns als Opfer. Es ist der Schlüssel für die
Lösung in Israel, bis wir wenigstens verstehen würden, dass wir nicht die
einzigen Opfer sind. Es wäre ein Schritt vorwärts, der uns fähig machen würde,
dies Land zu teilen.
AN: Der Titel
Ihres Buches bezieht sich auf ein junges palästinensisches Mädchen, das in
seinem Dorf spielt. Sie ist ängstlich, als das Mädchen Sie sie anlächeln sieht.
Meiner Ansicht nach ist das Mädchen kein Dieb, aber sie gibt Ihnen tatsächlich
den Schlüssel zu Ihrer Menschlichkeit.
NC:
Einverstanden. Sie nennen dies den Schlüssel zur Menschlichkeit. Ich
nenne es das Öffnen meiner Augen oder
den Beginn, die Wahrheit zu sehen. Ich denke, es ist nur eine andere
Metapher für dieselbe Sache, die mein Holocaustdieb ist. Auf Hebräisch heißt der
Titel „Mein Holocaust-Dieb“ – aber das Buch ist über
den Diebstahl. Im
Hebräischen werden die Wörter Diebstahl und
Diebin gleich
geschrieben. Es ist leider nicht zu übersetzen.
Wenn immer
jemand sagt „ warum vergleichst du? wie kann man nur vergleichen?“ Es geht um
meinen Holocaust, die Tinte des Holocaust auf meinem Herzen, die jemand stehlen
kann. Das ist mein Geschäft. Es ist etwas in unserer Kultur, und ich denke auch
für das jüdische Volk in der Diaspora. Wir müssen anfangen, uns mit dem
Holocaust aus einander zu setzen - mit uns, die wir keine Opfer mehr sind.
Das Mädchen
gab mir den Schlüssel zu meiner Menschlichkeit, aber sie stahl auch schönes
privilegiertes Leben.
AN:
Sie schrieben Ihr Buch 2007 und es erschien 2013 auf Hebräisch. Haben Sie
sich seitdem geändert?
NC:
Psychologische Prozesse wie die,
die ich in dem Buch beschrieben
habe, haben eine Richtung und ich
bewege mich noch immer. Es gibt viele Dinge, die ich nicht wusste, als ich das
Buch schrieb. Ich änderte nichts, als ich es neu herausgab oder übersetzte –
außer der Zahl der palästinensischen Todesfälle und ähnliche
Dinge.
Es ist die
Geschichte über eine Veränderung und Veränderungen enden nie. Wenn ich das Buch
heute lese, find ich Dinge, mit denen ich heute nicht mehr übereinstimme. Der
zynische Ton von Gewalt. Ich hasse ihn. Aber so war ich damals. Dies ist ein
Teil, der die Wahrheit aufdeckt, so hart dies ist. Ich bin nicht nur ein
israelischer Menschenrechtsaktivist, ich bin auch ein brutaler israelischer
Besatzer.
AN: Ich sah
Sie auf einem Video eines Treffens
von Breaking the Silence sprechen.
Einer der Teilnehmer kam auf das
Thema der „Verantwortlichkeit für
die Kriegsverbrechen“ zu reden, die
von Soldaten begangen werden. Sie sind ihrer Verantwortlichkeit nicht
ausgewichen. Können Sie erklären, was für Sie Gerechtigkeit bedeutet?
NC:
Auf hoher politischer Ebene – so würde ich sagen – dass Gerechtigkeit
Gleichheit bedeutet oder ein Suchen nach Gleichheit.
Sie können wählen: sie können mich für 20 Jahre ins Gefängnis tun für die
Dinge, die ich tat, und Sie können (palästinensische) Gefangene entlassen, denn
sie haben viel weniger Böses getan als ich. …. Ich möchte, dass sie entlassen
werden, aber ich selbst möchte auch
nicht im Gefängnis sein.
Eine Sache
hoffe ich, dass jeder, der dies Buch liest oder Material vom
Breaking the
Silence
sich selbst zu fragen wagen würde:, Wo
bin ich in dieser Geschichte, was kann ich tun? Es genügt nicht, nur zu wissen
oder so bewegt sein , dass man weint. Es ist ein Aufruf zum Handeln.
Menschen haben
Verantwortung; es ist nicht schwierig, Verantwortung zu finden. Natürlich ist
meine Verantwortung größer, als die der anderen. Aber die andern sollten
so gut als möglich handeln , und es gibt eine Menge zu tun. Die
westlichen Gesellschaften haben eine Menge Macht, und Israel wird nicht gefragt,
ob es einen politischen Preis für das, was wir tun, zahlt.
Eine Gesellschaft sollte einen Preis dafür zahlen, dass sie Zivilisten
mit Militär unterdrückt werden.
(dt. Ellen
Rohlfs)