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Das Leiden
der Mizrahim in Israel
Rachel Shabi, The Guardian, 15.4.09
Eines der
verblüffendsten Gefühle, das von Mizrahim in Israel
ausgedrückt wird, ist ein Gefühl der
Ungläubigkeit. Einige der jüdischen Einwanderer aus arabischen Ländern sind
noch immer fassungslos über die Ignoranz und
die Vorurteile, mit denen sie im
neuen Israel begrüßt wurden. Aus irgend einem
Grund dachten ihre neuen jüdischen Landsleute – die oft aus den Ghettos
Ost-Europas kamen – die Mizrahim wären
zurückgeblieben und minderwertig oder
wie Lyn Julius es sagt „ ungebildet und
schmutzig“.
Die
europäischen Juden konnten es nicht in
ihren Kopf bekommen, dass unter den Mizrahim Dichter
oder Kommunisten waren, dass sie Auto fahren und Toiletten benützen. Wie ist es möglich, dass
sie nichts über das Leben in Bagdad, Beirut, Kairo und Casablanca wussten?
Was
zunächst ein Schock war, wurde schnell zu Verzweiflung, als die Mizrahim begriffen, dass die vorherrschende (vorgefasste)
Meinung unter denen, die an der Macht waren, den sozialen Status in Israel
bestimmten. Diese Meinung war es auch,
die den Typ des jüdischen Individuums diktierte, der das Land vertreten würde.
Der
Zionismus, die Ideologie, die den jüdischen Staat aufbaute, kam aus Europa und
richtete sich unvermeidlich nach europäischen Muster
aus. Dies wäre ganz schön, wäre da nicht die Tatsache, dass die Hälfte der
jüdischen Bevölkerung (und bis vor
kurzem eine klare Mehrheit) orientalischen Ursprungs ist oder allein die geographischen Umstände Israels,
das sich im Nahen Osten befindet.
Israel hat
ein besonderes Narrativ über das „Einsammeln der im Exil Lebenden“, die
jüdischen Migranten, die nach der
Erstehung des Staates 1948 aus allen Teilen
der Welt kamen. Die Rede von der Gleichheit, dem Schmelztiegel und einem ‚neuen
Israel’, ein Amalgan all jener zusammengesetzter
Kulturen. Aber in Wirklichkeit wird und
wurde die Kultur der Mizrahim als Oxymoron angesehen. Sie wurde kanalisiert in
harmlose Betätigungsfelder wie Küche, Kunsthandwerk und Folklore –
inkonsequenter Schein, dessen Präsenz dann
benützt werden kann, um Klagen über Unterrepräsentation abzuwehren.
Unterdessen
wird anständige hohe Kultur als europäische Domäne beibehalten. Deshalb enden
frühere jüdische musikalische Legenden aus der arabischen Welt – gefeierte
Künstler, deren Namen noch immer hohe Verehrung im Nahen Osten wecken – in
Israel als Topfverkäufer in Slumstädten. Deshalb gibt es in Israel über 20 Ensembles für klassische europäische Musik,
und nur eine Mizrahim-Truppe – die im Augenblick dabei ist aufzugeben.
Man könnte
- wie Julius es in dieser Abteilung getan hat – sagen, dass solch ein Vorurteil
alte Geschichte ist, die anfänglichen Probleme eines neuen Staates. Viele
Israelis würden eindeutig mit dir übereinstimmen. Andere würde es einfach nicht
tun. Und zwar diejenigen, die noch
täglich die Auswirkungen des Vorurteils zu spüren bekommen, sie werden dir ins
Gesicht lachen – so wie ich es viele
Male erfahren habe – wenn man soziale Ungerechtigkeiten kund tut, mit denen man
sich aus einander setzen muss.. Wie kann es vorüber sein, werden sie fragen,
wenn es in den Genen des Landes eingeätzt
ist.
Diese Mizrahim werden über deine Dummheit, einen Hinweis zu geben
( wie ich es tat)
ihren Kopf schütteln: Mein Hinweis, die Armee, die Mischehen, die Mizrahim-Politiker und die israelische Gesellschaft im
Ganzen hätten all diese frühen Schwierigkeiten bereinigen können.
Wenn es
vorüber wäre, fragten sie, warum endete dann die kürzlich ausgestrahlte israelische Serie „Big Brother“ mit einem
ethnischen Knatsch?
Wenn es
vorbei wäre, warum erlaubt man dann Mizrahimkindern
nicht, sich einem Zentral-City-Club
anzuschließen? Warum gibt es immer noch
eine erschreckend weite Kluft in der Bildung oder bei Facharbeitern?
Warum hat die Mehrheit von Israels Richtern europäische Nachnamen, während die
Kriminellen aus der Arbeiterschicht
kommen und Mizrahim sind?
Wenn es
wirklich vorüber wäre, dann würde das Land über seine Mizrahim-Zusammensetzung ebenso nachdenken und sichtlich stolz auf
sein jüdisch-arabisches Erbe und auf die
lange jüdische Zugehörigkeit zur arabischen Welt sein. Und als ein zuversichtliches, glaubwürdiges
und sozial geschlossenes Land könnte es
dann eine völlig andere Einstellung zu Beziehungen mit seinen Nachbarn im Nahen
Osten haben.
Es ist
nicht so, dass die Mizrahim in der arabischen Welt
keine Verfolgung durchmachten. Sie erlebten es, wie Lynn Julius (deren Familie
aus dem Irak flohen) darauf hinwies. Während ich für mein Buch Recherchen
machte, hörte ich von vielen Mizrahim Erinnerungen an
Angst, Leiden und über Diskriminierungen in der früheren Heimat. Aber genau so
viele waren bereit, andere Erinnerungen zu teilen: ein glückliches Leben,
gleiche Rechte und rücksichtsvolle
Nachbarn. ‚Unsere Türen warn immer offen,’ sagten mir Mizrahim oft, wenn sie von der Vergangenheit in arabischen oder muslimischen Ländern
erzählten.
Was
geschieht, wenn wir uns eher an die
guten Zeiten erinnern als an das zeitweilige
Leiden? Ein Geschichtslehrer einer israelischen Schule baute einen Kurs auf, um
Mizrahimkindern, die aus dem Bildungssystem
herausgefallen sind, zu helfen. Er sagte mir, dass diese Kinder typisch in
Klassen mit festgelegten Ansichten
auftauchen. Sie denken, dass die arabische Welt in ihrer offenkundigen
Feindseligkeit gegenüber dem jüdischen Staat eine lange Tradition des
Judenhasses fortführt.
Wenn die
Schüler herausfinden, dass dies nicht immer so war, dann stellen sie
verschiedene Fragen: ‚ Warum sind sie heute gegen uns?’ Die angenommene Ansicht
über den Konflikt als einen Jahrhunderte alten und aus angeborenem Hass ( verursachter) bricht plötzlich zusammen. Ein neues
Narrativ taucht auf: als ein relativ kurzer Kampf innerhalb einer langen historischen
arabisch-jüdischen Koexistenz, Kreativität, Produktivität und offensichtlich alten Freundschaft. All dies
mag erklären, warum diese andere Geschichte, die Geschichte der Mizrahin für jene so bedrohlich ist, die an einem einseitigen Drehbuch festhalten
wollen – an einem, das hilft, dass Araber und Israelis in einem geschlossenen
Konflikt stecken, aus dem es kein
Entrinnen gibt.
(dt.
Ellen Rohlfs)