Der Fall „Weißer Vogel“
Uri Avnery, 5.1.08
ZIPI LIVNI ist
, wie ihr Name sagt, der weiße Vogel der israelischen Politik ( Zipi ist die Abkürzung von Zippora, „Vogel“, und Livni kommt von Lavan, „weiß“). Gegen den Falken Binyamin Netanyahu, den Geier Ehud Barak und den Raben Ehud Olmert wurde sie als die unbefleckte gefiederte Freundin
angesehen.
Bei öffentlichen
Meinungsumfragen erfreute sie sich überraschender Popularität. Sie übertrumpft
alle anderen Politiker der Regierungskoalition. Während die Beliebtheitsquote der beiden Ehuds – Olmert und Barak – nach unten ging, stieg die ihrige.
Warum ? Vielleicht war der
Wunsch der Vater des Gedankens. Es wird allgemein akzeptiert, dass in der gegenwärtigen Knesset keine Koalition ohne die Kadima-Partei gebildet werden kann. Wenn man also Olmert
hinauswerfen will, aber neue Wahlen
vermeiden möchte, dann muss Olmerts Ersatz
auch aus der Kadima-Partei kommen. Livni ist die einzig mögliche Kandidatin.
Aber da ist doch etwas Merkwürdiges um Livnis Popularität.
Bis jetzt war sie noch nie mit einem ernst zu nehmenden Test konfrontiert. Sie
hat nie wirkliche Verantwortung übernommen. Sie war nur eine mittelmäßige
Justizministerin.
Aber ihr öffentliches Image
ist eindrucksvoll. Sie scheint ehrlich zu sein, ein seltenes Attribut für einen Politiker. Sie sieht klug aus. Sie
sieht auch mutig aus.
Aber jeder, der auf ihre
Leistungen schaut, muss bedauerlicherweise zu einer gegenteiligen
Schlussfolgerung kommen. Zipi Livni ist keineswegs mutig
und keineswegs klug.
DAS WURDE vor einem Jahr klar
- nach dem 2. Libanonkrieg.
Es schien so, als ob der
allgemeine Zorn über den fehlgeschlagenen Krieg Olmert
stürzen würde. Livni nützte die Gelegenheit. Mit
einem dramatischen Schritt rief sie den Ministerpräsidenten dazu auf,
zurückzutreten und schlug sich selbst als seine Nachfolgerin vor. Es war auch
durchgesickert, dass sie bald nach Kriegsanfang die Beendigung des Krieges gefordert hatte - was sie aber nicht daran hinderte, in der
Regierung allen Schritten Olmerts zuzustimmen.
Ein mutiger Akt – allerdings nicht klug. Denn
bald wurde klar, dass die öffentliche Entrüstung schnell abnahm. Die
Protestbewegung verlief im Sande. Olmert, ein Mensch
mit einer Elefantenhaut und der Schlauheit eines Fuchses ignorierte dies
einfach und überlebte. Er schüttelte den Zwischenbericht der
Untersuchungskommission - den Winograd-Bericht – ab, wie ein Hund Wasser aus seinem Fell
abschüttelt. Einen Tag nach dem versuchten Putsch fand sich Livni
allein in einem politischen Vakuum wieder.
Was würde eine mutige
Politikerin in solch einer Situation tun? Natürlich zurücktreten. Sich der
Opposition anschließen, ermahnen, an den Toren predigen wie die Propheten in
alten Zeiten.
Aber Livni
tat nichts von alledem. Sie murmelte nur ein paar unverbindliche Worte, gab auf
und blieb im Kabinett. Wie die meisten
unserer Minister umschrieb sie Descartes
Ausspruch : „Ich bin Ministerin – also bin ich.“
Als Ministerin trägt sie
weiter die „kollektive Verantwortung“ für alle Taten und Fehler der Regierung,
die von einer Person angeführt wird, die sie selbst für inkompetent erklärt
hat.
So viel über Mut. Was die
Klugheit betrifft: wenn sie sich nicht ihrer Fähigkeit sicher war, Olmert zu stürzen, warum begann sie dann überhaupt dieses
Abenteuer. Und wenn sie nicht bereit war, zurückzutreten, warum tat sie so, als
würde sie rebellieren?
Olmert hätte sie absetzen können. Aber er ist viel zu klug.
Es ist besser, wenn er sie im Zelt hat und sie nach draußen spuckt, als wenn
sie draußen wäre und ins Zelt spuckt. Seitdem lobt er sie großzügig und macht ihr bei jeder Gelegenheit Komplimente.
Was für eine erfolgreiche Außenministerin! Welch kluge Diplomatin!
DIE LETZTEN paar Tage
zeigten, wie erfolgreich eine Außenministerin und wie klug eine Diplomatin wie Zipi Livni ist.
Es begann mit ihrer Aussage
im Außen- und Sicherheitskomitee der Knesset. Vor langer Zeit war es ein
geschlossenes Forum. Aber heute ähnelt es tatsächlich einem Sieb mit sehr
großen Löchern. Jedes Wort, das dort gesprochen wird, sickert durch, bevor der
Redner seine Rede beendet hat – meist durch
die Assistenten der Redner selbst.
In diesem Forum sagte Livni, dass die Ägypter uns hintergehen und sich ihrer
Verpflichtung, den Schmuggel von Waffen in den Gazastreifen zu stoppen,
entziehen. Sie forderte, dass sie diesem
Verkehr ein Ende setzen.
Das war nicht nur eine
Beschwerde. Es hat eine praktische Auswirkung: im US-Kongress läuft gerade eine
Kampagne, um Ägypten zu strafen, und die finanzielle Unterstützung zu kürzen,
die es von den USA erhält. Das israelische Außenministerium hat sich dieser
Forderung nicht offen angeschlossen, aber jeder in Washington weiß, dass in
solchen Angelegenheiten der US-Kongress nicht viel mehr als ein Instrument der
israelischen Politik ist. Knessetmitglieder bevölkern jetzt die Korridore des Kapitols, um das zu
erreichen. Sie gehören zwar zur rechten Opposition, doch sie handeln eindeutig
als Agenten des Außenministeriums.
Um diese Bemühungen zu
unterstützen, verteilte die Regierung in Washington eine Videokassette, die ägyptische Polizisten
zeigt, wie sie untätig herumstehen, während der Schmuggel unter ihren Augen vor sich geht.
Kein Wunder, dass Kairo Livnis Bemerkungen als eine weitere Anwendung von
Erpressung gegenüber Ägypten ansieht: wenn
ihr nicht unsern Forderungen entsprecht, werden wir euch an eurer
empfindlichsten Stelle treffen – am Geldbeutel.
MAN KANN sich kaum eine
törichtere Politik vorstellen. Jedem, der etwas über Ägypten weiß – und solche
Leute gibt es sogar im Außenministeriums – müsste es
klar sein, dass dies nicht nur ein Schlag gegen den Geldbeutel ist, sondern
auch gegen das Herz. Es ist nicht nur eine Sache des Geldes, sondern auch des Stolzes.
Ägypten bekommt jedes Jahr
mehr amerikanisches Geld als jedes andere Land der Erde – mit Ausnahme von
Israel natürlich. Und nicht ohne Grund: es begann, als Ägypten den Friedensvertrag
mit Israel (1979 )
schloss. Die Feinde des
ägyptischen Regimes nennen dies
Bestechung, um Israels Interessen zu dienen.
Kein Land ist
empfindlicher - was die Ehre betrifft –
als Ägypten. Seine Vertreter erinnern jeden regelmäßig daran – und tatsächlich,
sein Außenminister erinnerte Zipi Livni
diese Woche daran, dass der ägyptische
Staat schon seit 7000 Jahren existiert und nicht bereit ist, sich von Israel,
das vor 60 Jahren noch nicht bestand,
belehren zu lassen.
Ägypten lebt in einem schmerzlichen
Widerspruch: es sieht sich selbst als die Wiege der menschlichen Kulturen und
als Zentrum der arabischen Welt, ist aber ein sehr armes Land und benötigt
jeden Dollar, den es bekommen kann. Hosni Mubaraks Regime ist total von den USA
abhängig, bemüht sich verzweifelt darum,
von 70 Millionen Ägyptern und hundert Millionen anderer Araber respektiert zu
werden.
Das fordert
Fingerspitzengefühl, ja sogar Finesse. Die
angesammelte Erfahrung von Tausenden von Jahren bereitete die
ägyptischen Diplomaten für solche
Aufgaben vor. Sie sagen nie „nein“, sondern „ja, völlig richtig, aber im
Augenblick passt es nicht“, oder „eine gute Idee, wir werden dies mit großer Ernsthaftigkeit
überlegen“. Diejenigen die verstehen,
verstehen. Kein Wunder, dass ägyptische Diplomaten mit kaum verborgener
Verachtung auf ihre simplen, naiven israelischen Kollegen schauen.
Zipi Livni benahm sich in diesem
Porzellanladen wie ein Elefant.
WARUM TAT sie dies? Die
politischen Korrespondenten, die sich ja meistens nur mit politischem Klatsch
befassen, vermuten, dass das Motiv persönlicher Art war: sie sprach am Vorabend
von Ehud Baraks Treffen mit
Mubarrak. Das wirkliche Ziel wäre gewesen, dieses
Treffen für Barak zu verderben.
Vielleicht sah sie es
als eine Gelegenheit, um ihr Image
aufzupolieren. Seit Wochen führt das Sicherheitsestablishment eine
Propagandakampagne, was die Waffen im Gazastreifen betrifft. Ihre Agenten in
den Medien erzählen uns täglich über die Menge der Waffen und Explosivstoffe,
die von Ägypten durch die Tunnels unter der Grenze in den Gazastreifen kommen.
Die Ägypter werden angeklagt, sie würden die Augen davor verschließen. Livni möchte gern
auf dieser Welle reiten.
Livnis Problem, wie Israels Problem überhaupt, ist die
Unfähigkeit und der Unwille, den Standpunkt der anderen Seite zu sehen,
besonders, wenn die andere Seite arabisch ist. (die andere Seite hat natürlich
ein ähnliches Problem.)
Die Ägypter betrachten sich
selbst als die natürlichen Führer der
arabischen Welt. Präsident Mubarak und seine Anhänger sind sehr sensibel
gegenüber den Anklagen ihrer Feinde – besonders der Muslimbruderschaft – dass
sie der israelischen Besatzung zu einem Zeitpunkt dienen, zu dem Israel die
Bevölkerung des Gazastreifens aushungert und ihre politischen Führer tötet.
Mubarak hat nicht den Wunsch, etwas gegen die Hamas zu tun, das diese Vorwürfe zu bestätigen scheint.
Es ist gut möglich, dass die
ägyptischen Behörden nicht in der Lage sind, den Verkehr zu verhindern, selbst
wenn sie es wünschten. Das meiste der geschmuggelten Waren – vom Milchpulver
bis zu den Zigaretten - ist im
belagerten Gazastreifen nicht zu bekommen. Die Schmuggler können mit den
Sinaibeduinen Geschäfte machen oder die ägyptischen Polizisten bestechen,
die sicher nicht ihren
arabischen Brüdern in den Rücken fallen wollen, während diese gegen die
israelische Besatzung kämpfen.
Die Israelis leben in einer Seifenblase. Sie können sich nicht vorstellen, dass dieselben Leute, die sie als „Terroristen“ kennen, die Helden der arabischen Welt sind, dass die verabscheuten „Mörder“ die heiligen Märtyrer der Araber sind, dass der „Terrorismus“ bei den Arabern – und nicht nur bei ihnen - als heroischer Widerstand gegen eine monströse Besatzung angesehen wird, dass die „Schmuggler“ von den Arabern in derselben Weise betrachtet werden wie wir „unsere guten Jungs“ von der Palmach, angesehen haben, die seinerzeit direkt vor den Augen der Briten Waffen schmuggelten und dabei ihr Leben riskierten,
In den Augen der Ägypter –
und tatsächlich aller Araber – verteidigt sich das palästinensische Volk gegen
einen brutalen Unterdrücker. Die palästinensischen Märtyrer stellen die Ehre
der ganzen arabischen Nation wieder her. Sogar die Ägypter, die Mubarak
unterstützen und glauben, dass sie keine andere Wahl haben, als mit den
Amerikanern zu kooperieren und den
Frieden mit Israel aufrecht zu erhalten, sind
hin- und hergerissen.
Wenn man das psychologische
und politische Dilemma des ägyptischen Volkes nicht versteht, dann neigt man
dazu, dumme Sachen zu machen. Und nichts könnte dümmer sein als die israelische
Aktion gegen die Mekkapilger, die letzte Woche zurückkamen.
DIE PILGERREISE nach Mekka ist – wie jeder weiß – eine der
fünf Säulen des Islam. Jemand, der diese Reise mit all ihren Mühen auf sich
nimmt, wird von allen Muslimen hoch geachtet.
Die anderthalb Millionen
Bewohner des Gazastreifens werden daran gehindert, diese religiöse Pflicht zu
tun, wenn sie sich nicht einer „Sicherheitskontrolle“ durch die israelische
Armee unterziehen, die oft von Schikanen und Demütigungen begleitet ist. Auf
Israels Forderung hin haben die Ägypter den einzigen Übergang, der den
Gazastreifen mit der Welt verbindet, den Rafah-Übergang,
geschlossen .
Zweitausend Pilger aus dem
Gazastreifen haben diese Blockade durchbrochen und überquerten die Rafah-Grenze. Es scheint so, als hätten die Ägypter hier
mitgemacht – entweder ganz offen oder indem sie die Augen zumachten. Denn wie
könnte ein ägyptischer Führer frommen Muslimen, die dabei sind, eine ihrer
heiligsten Pflichten zu erfüllen, den Weg blockieren? Aber die Chefs des
israelischen Sicherheitsestablishments waren wütend.
Das Problem wurde noch
schlimmer, als die Pilger auf ihrem Rückweg von Mekka waren.
Als ihre Fähre die Sinaiküste
erreichte, verlangte Israel, dass Ägypten den Rafah-Grenzübergang
blockiere und so die Pilger zwinge, durch israelisches Gebiet zurückzukehren.
Dies hätte Hamasmitglieder und andere „gesuchte“ Leute in die Hände des
israelischen Sicherheitsdienstes geliefert.
Für die Ägypter war das eine
absolut unerträgliche Forderung. Wenn sie dieser nachgekommen wären,
würden sie vor der gesamten muslimischen Welt als Kollaborateure dastehen, die
den Juden fromme Muslime bei der Rückkehr von der Pilgerfahrt ausliefern
würden.
Das Ende war voraussehbar:
die Ägypter erlaubten allen Pilgern über
Rafah zurückzukehren. Die israelische Regierung hat sich selbst in den Fuß geschossen.
All dies wäre nicht
geschehen, wenn die Außenministerin ihre Kollegen davon überzeugt hätte, ihre Augen zu schließen und zu
schweigen. Sie tat es nicht. Sie hätten ja sowieso nicht auf sie gehört.
Ich glaube, der
weiße Vogel wird nicht mehr sehr
weit fliegen.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)